Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

13. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1927

Bücherschau · Hans Blüher · Traktat von der Heilkunde

Über Hans Blühers Traktat von der Heilkunde (Jena 1926, Eugen Diederichs) konnte ich nicht in unmittelbarem medizinischen Zusammenhange schreiben, weil Blüher nicht eigentlich Arzt, so viele er heilen mag, sondern Magier ist. Er ist einer der wenigen wesentlichen Magier, von denen ich heute weiß, genau im Sinn des Begriffs, den das letzte Kapitel von Menschen als Sinnbilder geschaffen hat. Noch heute reden nicht viele gut von ihm. Noch heute sieht die öffentliche Meinung in ihm mehr einen Verführer als einen positiv schöpferischen Geist. Und doch ist er wesentlich letzteres. Ich bin überzeugt: unter den heute lebenden Deutschen gehört er zu den drei oder vier, deren Originalschriften noch nach einem Jahrhundert Leser finden werden. Unter allen Umständen aber werden die von ihm geschaffenen Worte und Sinnbilder fortleben. Der moderne Eros-Begriff, den jedermann verwendet, ist von Blüher und niemand anders erschaffen worden. Ebenso steht es mit sehr vielen anderen, zumal aus dem Ideenkreis der Jugendbewegung. Blüher besitzt eben die seltene und supreme Fähigkeit des magischen Ausdrucks. Deshalb muss er geistig zeugen, worüber er auch schreibt, wenn nicht im Guten, dann im Schlimmen. Wo er nicht richtig führt, dort verführt er. Zweifelsohne hat er etwas von Luzifer. Aus irgendeinem Grunde, den ich noch nicht verstanden habe, vertritt er außerordentlich viel sachlich Falsches, oft geradezu absurd Falsches, welchem Gebiete er sich auch zuwendet. So ist an seiner Aristie des Jesus von Nazareth wohl alles Sachliche, worauf er selbst den meisten Wert legen dürfte, ganz einfach nicht zutreffend. Doch das hindert nicht, dass die Lektüre seiner Bücher befruchtender wirkt als die der meisten Geister, die ihn an Einsicht übertreffen, doch über die Gabe des magischen Worts in geringerem Grad verfügen als er. Deswegen ist es auch durchaus lächerlich, sich bei Blühers außerordentlichem Selbstbewusstsein bedauernd aufzuhalten. Wer das Selbstbewusstsein eines schöpferischen Geists als Einwand gegen ihn anführt, ohne ihm persönlich gleichwertig zu sein, ist unter allen Umständen anmaßender als er; er sollte also lieber vor seiner eigenen Türe kehren. Was Blüher wirklich vorgeworfen werden könnte, ist nicht sein Selbstbewusstsein, sondern vielmehr seine innere Unsicherheit, die ihn zu überflüssigen Überkompensationen verführt. Diese Unsicherheit scheint im Traktat von der Heilkunde für einmal in hohem Grade überwunden. Deshalb wirkt dieses Buch von ihm wie noch keins vorher. Deshalb sehe ich in ihm sein bisher weitaus bestes Buch. Außerdem aber enthält es viel mehr Richtiges und zugleich viel weniger Falsches, als alles was er früher schrieb. Ganz ausgezeichnet ist seine Beurteilung der Psychoanalyse und ihrer Begriffe aus metaphysischer Schau heraus. Diese Kritik sollte jeder lesen, besonders im Zusammenhang mit Prinzhorns Gespräch. Eine Leistung ersten Ranges gar sind die Gedankengänge, die den pathologischen Ort betreffen, bei dem alle Heilkunst anzusetzen hätte. Hier gibt Blüher die bisher beste, weil vorurteilsfreieste Theorie vom Sinn des Sündenfalls.

Ja, Blüher ist wahrhaftig Magier. Seinen Gegenpol stellt insofern Edgar Dacqué dar, wie er sich in seinem neuen Buch Natur und Seele (München 1926, Oldenbourg Verlag) gibt. Höchst interessant ist die Erkenntnistheorie der Zauberei, die dieses Buch enthält; sie könnte sogar richtig sein. Noch nie ward so einleuchtend gezeigt, inwiefern der Mensch vielleicht einmal gezaubert hat und wieder einmal zaubern könnte. Sehr anregend zum mindesten ist der Zusammenhang, den Dacqué zwischen Magie und dem, was Lamarck eigentlich meinte, schafft. Aber er schreibt über alle diesen heiklen Dinge nur als oft sehr feinsinniger Betrachter, nicht aus innerer Vollmacht heraus. Und wo er persönlich wird, da erweist er sich als einer jener Pathiker und Idealisten, die sich Pioniere der Zukunft dünken, sich aber in Wahrheit in erträumte Vergangenheit flüchten, weil sie zu schwach sind, die Wirklichkeit, so wie sie ist, zu ertragen. Dementsprechend urteilt Dacqué, unter der Maske der Demut, mit äußerster Anmaßung über alle, die nicht so sind wie er. Wie alle, die in seiner Lage sind, täuscht er sich durch Moralisieren über Unvermögen hinweg. Ja, die Stillen im Lande waren zu aller Zeit die schlimmsten Pharisäer. Dacqué religiöse Überzeugung ist mir nicht ganz klar. Sicher gravitiert er immer mehr dem Typus des Gläubigen zu. Auf geradezu rührende Weise glaubt er, ob er es weiß oder nicht, an alle Wahrheit aller Märchen. Es ist sehr bedauerlich, dass er seinen eigentlichen Halt, die exakten Naturwissenschaften, immer mehr verlässt. Sein erstes Buch Urwelt, Sage und Dichtung war wirklich bedeutend. Ihm gegenüber bedeutet das neue einen steilen Sturz. Und der Niveauunterschied zwischen den Stellen, die noch an den Grenzen der Naturwissenschaft ihren ideellen Ort haben, und dem romantisch-Mystischen ist oft erschreckend. Entwickelt Dacqué sich so weiter, wie von seinem ersten zum zweiten Buch, dann dürfte er als unfruchtbarer Träumer und Weltlästerer enden. Freilich bedarf es heute der Wiedererweckung der Magie und damit des magischen Weltbildes. Aber dieses vermag nur, wer Magie kann, nicht wer sie bloß als Wunschbild erlebt und dann tut, als wäre er ein Wissender…

Unter Pathikern (im Sinn meines Begriffs, wie ich ihn in Spengler der Tatsachenmensch bestimmte) weiß ich heute nur einen, dessen Schriften auf dauernden Wert Anspruch erheben dürfen. Das ist Ludwig Klages. Da ich mich in den letzten Kapiteln von Wiedergeburt eigentlich nur mit ihm, und da zwar sehr ausführlich, auseinandersetze, so sei über das Problem Klages hier nur das Folgende gesagt: Klages’ Schriften haben dauernden Wert, weil er Pathiker aus Kraft und nicht aus Schwäche ist. Er bekennt sich zum Er-Leben als letztem Lebenswert mit dem Pathos einer mächtigen Natur, die überdies über das ganze Ethos des Geistgestalters verfügt. Seine Grundlagen der Charakterkunde sind ein Werk voll der tiefsten Aufschlüsse und der treffendsten Bestimmungen. Klages ist in Wahrheit ein Selbst-Opferer. Demgegenüber sind Männer wie Dacqué und seine vielen, vielen minderbegabten Genossen aus dem Lager der Romantik und des Okkultismus nichts Besseres als Träumer aus Lebensangst.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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