Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

19. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1931

Bücherschau · Geschichtsforschung

Immer weiter dringt die Geschichtsforschung in die Zeiten vor, die man kürzlich noch vorgeschichtlich hieß. Und damit wandeln sich alle Zusammenhänge. Längst verfolge ich keine besonderen Forschungsergebnisse mehr. Aber alle fünf bis zehn Jahre greife ich nach einem neu zusammenfassenden Werk. Als letztes dieser Art las ich Franz Oppenheimers Rom und die Germanen. Danach wäre vor wenigen Jahrtausenden ganz Westeuropa bis tief nach Deutschland hinein… spanisch gewesen, während östlich davon ein… Griechenreich begann. Seit den Ausgrabungen von Ur möchte ich zuweilen glauben, dass wir die Überlieferung Abrahams ähnlicher Stimmung danken, die französischen Herzoginnen des 18. Jahrhunderts die Sehnsucht nach Schäferdasein eingab. Ganze Kulturkreise hat es gegeben, innerhalb derer Krieg tatsächlich so abnorm war, wie Utopisten dies für Europas Zukunft erhoffen. Und die Zusammenhänge, die Leo Frobenius zwischen afrikanischer und süd-indischer Kultur aufgezeigt hat (s. zumal sein neuestes Werk Erythraea, Berlin, Atlantis-Verlag), lassen alles moderne Kolonisieren als bloß mechanische Ausbreitung erscheinen, die als solche, tritt nicht nachträglich Verwurzelung ein, wahrscheinlich ohne Zukunft ist.

Mich persönlich nun interessiert die eigentliche Geschichte wenig. Nur das Vergangene, das noch als Gegenwart fortlebt, geht mich an. Da aber lerne ich, je mehr ich schaue und mich versenke, desto mehr die absolute Wirklichkeit der Volkserinnerung anerkennen und verehren. Diese scheint zunächst ein gar gebrechlich Ding: nicht nur Veränderung der Lebensumstände — bloßes Nicht-mehr-anerkannt-Werden oder Sich-Lossagen kann Tradition vernichten. So ist Aristokratie auf Aristokratie untergepflügt und damit nicht nur als Bild, sondern als fortwirkende Wirklichkeit vernichtet worden. In der Tat bedarf Höhentradition zum Gedeihen besonderer Höhenluft. Der Königssohn, in welchem niemand den künftigen Herrscher sieht, verliert seine Königlichkeit. Der Geistige, dessen keiner bedarf, verbildet sich; so fängt in Amerika die Reklame-Branche fast alle nur möglichen Dichter und Denker auf, nachdem erstes Dichten und Denken ohne Widerhall blieb. Geistgeborene Kultur muss privilegiert sein, um auf Erden zu dauern. Deshalb ist höchstes Kulturgut immer wieder verlorengegangen, wird es bis zum Ende der Zeiten immer wieder verlorengehen. — Doch auch der höchste Geist schlägt Wurzeln in die Erde. Diese Wurzeln werden selten je getötet. Aus ihnen heraus ist wieder und wieder Renaissance möglich. Vor allem aber leben sie fort als bestimmende Motive im niederen Volk, unbeirrbar richtunggebend.

Solche Wurzeln sind der wahre Halt der scheinbar rein aufoktroyierten Sowjetmacht. Ur-russische Wurzeln speisen die dritte Internationale, ur-christliche den offiziellen Atheismus. Der besondere russische Bauernglaube an das gleiche Recht aller auf die Mutter Erde, der Jahrhunderte vor dem Bolschewismus im negativen Spruche Das Land ist niemandes seinen volkstümlichen Ausdruck fand, ermöglicht zur Zeit die Expropriationspolitik. Der Internationalismus ist ein Ausdruck unter anderen der Überzeugung, dass nur der russische Mensch aufrichtig und echt ist — daher muss jener propagandistisch-imperialistisch sein. Und andererseits: ohne die Seligpreisung der Armen vor zwei Jahrtausenden in Palästina hätte eine Diktatur des Proletariats in Russland nie aufgerichtet werden können. In Ländern nicht-christlicher Tradition wird es schwerlich je zu Ähnlichem kommen. Und analog war und ist es überall. Zutiefst entscheidet ältestes Kulturerbe im großen über die Endverteilung von Katholizismus und Protestantismus. Auch die Auswüchse des nordischen Bewusstseins in Deutschland haben hier ihren lebendigen Quell.

Aber im so vielfältig geistbedingten und -überschichteten Europa hält es schwer, von diesen tiefen und dunklen Zusammenhängen ein angemessenes Bild zu gewinnen. Wie ich Indianern des Hochplateaus von Bolivien und Peru begegnete, die noch heute die Conquista innerlich nicht anerkennen, die aller modernen Gesetzgebung zum Trotz an buchstäblich vorsintflutlichen Sitten festhalten, da sprang mir als Evidenz in die Augen, wie viel ältere Tradition sie verkörpern als alle Menschen, die ich früher gesehen. Doch wie soll man Seelen völlig fremder Geschichte so verstehen, dass man an ihr mit seiner eigenen, noch unbewussten Geschichte identisch wird und sie dergestalt ins Bewusstsein hebt? Ich habe viel Hierher gehöriges in Südamerika gelernt. Aber doch nur dank den europäischen Einwanderern, in welchen das Urtümlich-Südamerikanische eine Wiedergeburt erlebte. Von der Einfühlung in fremde Völker erwarte man nicht zu viel: nur genau so weit und so tief versteht man sie, als man ihnen seelisch verwandt ist.

Dieser Tage nun aber las ich ein Buch, das mir ganz neue Perspektiven möglicher Geschichtsforschung eröffnet: das ist Essad Beys Zwölf Geheimnisse im Kaukasus (Berlin-Zürich 1931, Deutsch-Schweizerische Verlagsanstalt). An sich ist es nur gewandt geschriebenes und pittoresk, und ein unbestimmtes Gefühl verbietet mir bis auf weiteres, für den Autor als solchen einzutreten. Doch sein Gegenstand als solcher lässt Tiefen möglicher Verständlichkeit erahnen, wie solche dem Okzidentalen sonst nirgends erschürfbar sind. Die Hunderte selbständiger Völkerschaften des Kaukasus scheinen allesamt Fetzen ehemals oder anderwärts großer Völker zu sein, die zufällig an den taurischen Bergzacken hängenblieben. Dort grenzt buchstäblich Reservation an Reservation. Manche dieser Völker sind verhältnismäßig jung, überaus viele jedoch wahrscheinlich die ältesten der Alten Welt. Sie alle aber haben, dank einzigartigem Unabhängigkeitssinn, bewährter Blutskontinuität und dem Abschluss in engstem Bezirk ein lebendiges, in Sitte und Anschauung verkörpertes Geschichtsgedächtnis bewahrt, das in der Welt einzig dastehen dürfte. Im Kaukasus findet man prähistorische, antike, ur-iranische, ur-turanische, ur-jüdische, ur-kleinasiatische, ur-christliche, echt kreuzritterliche und hundert andere Traditionen als ebensoviel lebendige Gegenwarten nebeneinander. Liegt dort nicht der ideale Ansatzpunkt zur Durchleuchtung der Gesetze der Tradition?

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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