Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

20. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1932

Bücherschau · Corbach, Knickerbocker, Rosenberg

In dieser Zeit sich steigernden gegenseitigen Abschließens der Völker und Länder ist die Lektüre weniger Bücher förderlicher, zumal für junge Menschen, als Otto Corbachs Offene Welt (Berlin 1932, Ernst Rowohlt Verlag). Deutschland befindet sich augenblicklich in jenem tragischsten aller historischen Zustände, da ein Volk wähnt voranzuschreiten, wo es sich nur, in die Enge getrieben, verteidigt. Der besondere Nachkriegs-Nationalismus hat drei Haupt-Lebensquellen. Erstens die Tatsache, dass heute Masse und Nation identisch sind, was niemals früher der Fall war. Der polnische Proletarier ist in erster Linie fanatischer Pole, weil sich Klassen- und Nationalinteresse decken. Zweitens die Tatsache, dass große historische Wenden einen Wechsel im bestimmenden Typus bedingen: da führt natürlich gerade der älteste Typus, neuerwachend, verzweifelt ein Rückzugsgefecht. Drittens die tatsächliche Unmöglichkeit der Autarkie; so glaubt das Nur-Eigene überall um sein Leben fechten zu müssen. Fortschrittliches liegt überhaupt nicht auf der Linie des ausschließlichen Nationalismus, es sei denn, dieser erkenne sich selbst als zwar notwendigen und berechtigten, jedoch schicksalsmäßig-schwächeren Gegenpol zum Universalismus, und sähe seine Aufgabe darin, die optimale Spannung zu erhalten1. Aber das verstehen heute gerade die Deutschen, die durch allzu viele Not ihre Besinnung verloren haben, am wenigsten. Sie glauben gerade in dem Augenblick eine neues reindeutsches Reich verwirklichen zu können, wo die imperial-deutsche historische Stunde um ist. Man vergesse doch nicht, dass die deutsche Rasse seit der Völkerwanderung die Herrenschicht gestellt hat und dass noch heute fast alle Dynastien deutschen Blutes sind. Jetzt stehen die anderen Völker ihrerseits auf. Und so wenig ich an einen Bedeutungsschwund des Deutschtums glaube — nicht nur wird sich das deutsche Volk innerhalb seiner Grenzen halten, es wird seine Vorkriegsbedeutung ganz sicher wiedergewinnen, und auf seinem ureigensten, dem geistigen Gebiete kann es bedeutsamer werden, als es jemals war — gewiss ist, dass die Menschheitsbedeutsamkeit des Deutschtums fortan nur noch im Vertreten des Europäertums liegen kann. Die Lage des Nachkriegs-Deutschland ist nicht die gleiche wie die der Türkei. Eng-spartanischer Geist, und sei er noch so heroisch, kann ein altes Kulturvolk, wie das deutsche, nicht sanieren. Vor allein aber ist die Weltlage völlig verändert, und käme Deutschland noch so hoch, deren Grundzüge wird es nicht ändern können. An Deutschlands Grenzen im Osten erwachen neue Völker, denen es besser geht als ihm und die als Ganzheiten den inneren Auftrieb fühlen, der unter heutigen Deutschen nur einer Minorität eignet. Das Diktatorische des neuen deutschen Nationalismus kann seitens freier Germanen nur deshalb so großen Anklang finden, wie tatsächlich der Fall ist, weil große Zahlen von Hause aus selbständiger Menschen dermaßen übermüdet sind, dass sie nur noch gehorchen wollen.

Corbach zeigt nun mit großer Klarheit, wie die ganze mögliche konstruktive Zukunftsaufgabe des Menschen­geschlechts fortan ausschließlich in planmäßiger Aufteilung des Planeten zu gerechtem Lebensraum für alle Völker bestehen kann: nur so, so aber tatsächlich, ist das Problem des Lebens und Lebenlassens für alle lösbar. Mehr denn je ist die Aufgabe der historischen Stunde keine politische, sondern eine wirtschaftliche. Bei der Einleitung dieses Gedankens arbeitet Corbach besonders gut den Satz heraus, welchen angesichts der Mode-Überschätzung des Bodenständigen und Verwurzelten jeder Deutsche besonders meditieren sollte: dass der Bewegliche, und insofern der Nomade, der herrscherische Mensch ist. Pflanzenhaftigkeit ist nicht Ideal. Ideal ist freilich auch nicht jenes früheste seelenlose Nomadentum, wie es heute in reinster Artung Nordamerika verkörpert. Wohl aber der Nomade, der zum Herrscher über Ansässige geworden ist. Alle Herrenvölker sind nämlich die Nachkommen von Nomaden, und soweit sie imperial sind, sind sie noch heute nomadisch gesinnt.

Auf der unbewusst geahnten Notwendigkeit planetarischer Planwirtschaft beruht das ungeheure Prestige des Stalinismus. Eines Prestiges, welches nicht allein viel größer ist, als den Tatsachen entspricht, sondern sich vielleicht sogar als sein Wichtigstes überhaupt erweisen wird, wie denn heute Kredit viel wichtiger ist als Kapital. Ich halte nicht für wahrscheinlich, dass die Pjatiletka auch nur einigermaßen so auskommen wird, wie dies erforderlich wäre, um Russland bald aus seiner materiellen Not herauszuheben. Desto gewisser scheint mir, dass der Stalinsche Versuch als Sinnbild dessen, was in noch viel größerem Maßstab not tut, auf dass irgendein einzelnes Land besseren Zeiten entgegenginge, eine ungeheure historische Rolle spielen wird. Und insofern halte ich eine Renaissance ganz großen Stils der Ideen Walther Rathenaus für wahrscheinlich. Nicht zwar für so bald: zunächst muss sich der autarkische Gedanke ad absurdum führen, und darüber mag noch manches Jahr hingehen. Aber löst sich die Welt einmal aus ihrer ökonomischen Verkrampfung, dann wird erkannt werden, dass Walther Rathenau ein echter Prophet war.

In besonderer Qualifizierung geht auch der Stalinismus auf Rathenau zurück. Trotz allem, was an ihm verfehlt ist, steckt in ihm doch mehr konstruktive Zukunftsschau als in aller ökonomischen Politik der Westvölker seit Kriegsende. Insofern verdient die immer wachsende Anzahl Bücher über den Fünf-Jahres-Plan das Interesse, das sie überall finden. Natürlich sind mir längst nicht alle zu Gesicht gekommen. Unter denen, die ich kenne, möchte ich, soweit das Positive des Stalinismus in Frage steht, in erster Linie die zwei Bücher des Amerikaners Knickerbocker Der rote Handel droht und Der rote Handel lockt (Ernst Rowohlt Verlag, Berlin) empfehlen. Der Amerikaner ist dem Sowjet-Russen, wie ich in Amerika gezeigt habe, wesensverwandt, und so weiß er instinktiv besser als der Europäer, wohin die Reise geht. (Auch Knickerbockers Buch über Deutschland Deutschland so oder so ist lesenswert, nur sieht der Verfasser Deutschland viel zu einfach und gibt insofern ein falsches Bild; gerade wer Stalin gerecht wird, muss gegenüber dem deutschen Chaotismus versagen.) — Wer hingegen von der Gefahr, welche Russland für die übrige Welt bedeutet, das klarste Bild gewinnen will, der lese Coudenhove-Kalergis Stalin & Co. (Wien, Pan-Europa Verlag). Prägnanter wie dort lässt sich das Richtige und Erforderliche kaum sagen.

Greift man nun nach Lektüre solch realistischer Schriften zu den Utopien der Nationalsozialisten, dann erschrickt man einmal mehr über die Irrealität des deutschen Geistes. Da mir von Nationalsozialismus-freundlicher Seite Adolf Hitlers Pressechef und, wie wenigstens in München überall erzählt wird, Außenminister in spe Alfred Rosenberg als Mann ganz großen Formats geschildert wurde, ließ ich mir dessen Buch Der Mythos des 20. Jahrhunderts (München, Hoheneichen-Verlag) kommen. Inhaltlich stellt es das Wiederkäuen der Grundlagen des XIX. Jahrhunderts H. S. Chamberlains durch einen dreißig Jahre zu spät gekommenen Provinzler dar. Chamberlains Begründung der Geschichte auf der Rasse war immer verfehlt, aber Chamberlain war sonst ein Mann bedeutenden Kalibers, und 1898 konnte ein kluger Mensch die Frage offenlassen, ob Chamberlain nicht doch irgendwie recht hätte. Einer der vielen tiefen Sinne des Weltkriegs ist nun aber gerade der, dass er jeden Anspruch auf Vorherrschaft auf Grund der Rasse, sowie auf besondere kulturelle Bedeutung auf Grund bestimmten Bluts erledigt hat. Seither hat das große Tout-Ensemble des Menschheitsorchesters begonnen, und nur was sich darin bewährt, kann historische Bedeutung erlangen. Deshalb schrieb ich, Deutschland habe fortan nur noch eine europäische Aufgabe. Was Rosenberg naiv den Mythos des 20. Jahrhunderts heißt, ist also das Aufwärmen historisch erledigter Theorie. Das gespensthaft Unheimliche nun an Rosenbergs Buch, das ein guter Exponent der Denkart weitester nationalsozialistischer Kreise ist, rührt von einer merkwürdigen Mischung von deutschem Irrationalismus und amerikanischem Revolverjournalismus her. Als Propagandisten sind die Nationalsozialisten die schlimmsten aller Amerikaner, denn kein Deutscher kann ehrlich so rein technisch denken, wie dies jene völlig naiv und unschuldig tun, weshalb diese Art Technik beim Deutschen immer unehrlich wirkt, auch wo sie nicht unehrlich ist. Tritt die entsprechende Denkart nun gar in den Dienst der Weltanschauung, dann ist dass Ergebnis entsetzlich. Die Aufnordung des deutschen Volks, die Elimination der Artfremden, die Zurückführung des deutschen Geists auf Blut, als sei der Geist eine Friesenkuh, sind Vereinfachungen von einem Simplismus, wie kein amerikanischer salesman sie meines Wissens seinen Klienten vorzusetzen gewagt hat. Ich habe in den Meditationen, wie ich glaube, abschließend gezeigt, dass Geist und Blut verschiedene Wurzeln haben und dass Geistigkeit auf Spannung mit dem Erdhaften beruht. Ich habe ferner gezeigt, dass Eugenik als Technik eine praktische Unmöglichkeit darstellt, weil kein Geist die ungeheure Komplikation der Komponenten, die von Fall zu Fall zu glücklichen Blut- und Geist-Synthesen führen, übersehen kann. Alles, was Rosenberg hier vorbringt, ist glatter Unsinn oder Widersinn. Mir ist an Rosenbergs Buch endgültig klar geworden, dass der Nationalsozialismus in seiner heutigen Gestaltung wesentlich geist-feindlich ist. Und insofern Deutschland keine Bluts- sondern eine Geist-Einheit darstellt — auf seiner ungewöhnlichen Durchmischtheit beruht die Vielfalt und damit der Reichtum des deutschen Volks — ist die nationalsozialistische Ideologie, so wie sie sich heute darstellt, anti-deutsch. Womit ich gegen die Vorzüge der Bewegung vom Standpunkt von Blut und Erde nichts sage (hierzu vergleiche man meine politischen Aufsätze, die unsere Bibliothek besitzt). Natürlich meint Rosenberg es ebenso gut, wie dies die meisten anderen aufrichtigen, aber engstirnigen und engherzigen Patrioten tun. Nur sehe ich in Rosenberg doch eine bedenklichere Persönlichkeit als in den meisten deutschen Fanatikern von heute, weil er eigentlich zu klug sein sollte, um all den Widersinn zu glauben, den er schreibt.

1 Vielleicht lesen unsere Mitglieder meine Vision einer kommenden Weltordnung im 10. Heft (1925) des Wegs zur Vollendung wieder: dort habe ich genau vorausgesagt, was 1931 wirklich geworden ist.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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