Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

26. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1937

Bücherschau · Reinhold Schneider, Winston Churchill

Im letzten Heft dieser Mitteilungen (Nr. 25) hob ich lobend die Bücher Reinhold Schneiders über Spanien und Portugal hervor. Zurückblickend muss ich sagen, dass das über Camões von den beiden das bessere war. Denn Schneider selbst ist weicher Lyriker: darum liegt ihm das spezifisch Portugiesische, das seine Seele beinahe unverzerrt spiegelt, besonders, während sein Bild Spaniens zwar im gegebenen Falle richtig, aber doch einseitig belichtet ist.

Seither hat Reinhold Schneider nun über England geschrieben, und dieses Buch ist psychologisch lehrreicher noch als die beiden anderen, weil es die Grenzen lyrischer Begabung überhaupt sehr deutlich zeigt; insofern ist es sinngemäß, wenn ich nach Behandlung Leopold Zieglers jetzt über Reinhold Schneider einige Betrachtungen anstelle. Das englische Wesen liegt dem Verfasser gar nicht. Eben deshalb treibt es ihn, den Nachdruck viel mehr auf sein Subjektives zu legen, als in den früheren Büchern. So enthält das Inselreich — so heißt das Buch (es ist im Insel-Verlag Leipzig erschienen) — viel mehr Stimmungs-Herausstellungen als Wirklichkeits-getreue Tatsachenberichte und sinngerechte Linienführungen. Es enthält vor allem viel mehr Reflexionen über das, was es behandelt, als original geschaute Bilder. Der Erfolg dieser Methode ist nun der, dass Reinhold Schneiders England-Evokation ein viel deutlicheres Bild von Schneiders Persönlichkeit gibt als seine anderen Bücher und andererseits ein wesentlich falsches Bild von England. Einzig und allein die Schilderung Alt-Irlands könnte richtig sein. Doch von diesem weiß ich zu wenig, um darüber urteilen zu können. Vor allem aber ist Irlands Geist, wie dies die ganze Geschichte beweist, mit dem englischen wesentlich inkompatibel, so dass gerade die mögliche Irland-Gemäßheit von Schneiders Schilderung besonders gegen seine Kompetenz in bezug auf England und Schottland spricht.

Reinhold Schneiders eigener Anlage dürfte in der Tat keine andere gleich konträr sein als die, dank dem die kleine Insel zwischen Ärmelkanal, Nordsee und Atlantik schicksalsmäßig zum Zentrum des größten und dabei best-, weil losest-organisierten bisherigen Weltreichs heranwuchs. Die für das Inselreich repräsentativen Briten sind wesentlich nicht Träumer, sondern extremste Wirklichkeitsmenschen; wesentlich nicht Erlebende, sondern Lebende; wesentlich nicht Vorstellende, sondern naiv Wagende und Handelnde. Nie setzen sie sich innerlich mit sich selber auseinander, sondern inmitten einer ewig unzuverlässigen Welt, die sie mit allen Poren als sich zugehörig empfinden, fühlen sie sich so sicher wie Fische im stürmischen Meer. Weniger als andere leiden sie unter dem Bösen, das sie tun müssen; ihnen eignet durchaus die urnormannische Härte, ob diese jeweils physisch oder psychisch vererbt sei. Sie haben zu allem, was andere betrifft, die selbstverständliche innere Distanz, die den geborenen König (dessen typische Züge Schneider übrigens in abstracto gelegentlich gut bestimmt) kennzeichnet, dank welchem Umstand sie einerseits hinrichten können, wo es nottut, ohne dadurch innerlich in Mitleidenschaft gezogen zu werden, und andererseits selbstverständlich höflich gegen alle sind und jedem innerlich Freien seine Freiheit und Selbstbestimmung selbstverständlich zugestehen. Der englische Glaube lebt nie vom Zweifel, wie der griechische und jüdische und neuerdings der deutsche, sondern er ist einfach, so naiv und selbstverständlich wie der Instinkt des Tiers. Naiver Jenseitsglaube, kritiklos anerkannte Tradition und Konvention dienen dort zur Stützung, wo schädigende Problematik bewusst werden könnte. Es fehlen Vorausschau und belastende Erinnerung, es fehlt die organische Möglichkeit eines ernstlich schlechten Gewissens, denn jeder echte Brite glaubt an die prästabilierte Harmonie zwischen sich und allem, was es sonst gibt, die das Verhältnis des Tiers zu seiner Umwelt kennzeichnet. Die Einstellung auf Kraft und Macht ist so primär, dass eben darum kaum je betonter Machtwille vorkommt und Kraftprotzen auf jeden Engländer peinlich wirkt. Der für das Inselreich einzig repräsentative Engländer-Typus ist so unlöslich mit dem Erdgeschehen, so wie es objektiv und praktisch verläuft, verwoben, dass Vor-Stellungen und Träume keinerlei Rolle spielen. Er stellt den extremst-denkbaren Gegen-Typus zum Portugiesen dar. Nun ist Reinhold Schneider ein Wahlverwandter gerade des Portugiesen: wie sollte da sein England-Buch gelungen sein? Sogar den englischen Renaissance-Menschen begreift er nicht. Denn sogar Shakespeare war dem geschilderten Herrentypus ähnlicher als dem Camões. Ebenso selbstverständlich, wie andere Briten erobern und herrschen, dichtete er. Und ebenso unmerklich tat er es. Als echter Engländer wollte er aus Herrenselbstgefühl nicht auffallen, es sei denn auf der Bühne, im pageant. Deswegen weiß man so wenig genau, wer er war.

Nein, der Nichts-als-Lyriker wird England niemals verstehen. Obgleich gerade England andererseits, gemäß Geschichts-üblichem Kontrapunkt, die reinsten Lyriker Europas hervorgebracht hat. England kann überhaupt nicht nach-empfunden werden: es kann nur von sich aus ergreifen, unmittelbar und für den Ergriffenen unbewusst; in welchem Falle denn von sich aus Fremdes, plötzlich schier unabhängig von der Zeit, echt-englisch nicht nur erscheinen, sondern wirklich werden kann. Hiervon gibt nicht allein so mancher germanischer Fürsten- und Adelsgeschlechtesspross, sondern auch so mancher Jude ein Beispiel. Was überhaupt als englisch gelten kann, ist eben unverkennbar englisch und in so hohem Grade repräsentativ, wie dies bei anderen Völkern im Laufe langer Jahrhunderte nur Einzige sind. Dazu zwei Beispiele, die ich als positive Gegenbilder zu Reinhold Schneiders Inselreich evoziere. Erstens Winston Churchills Memoiren. Wie ich dessen Band Nach dem Kriege las (deutsch beim Amalthea-Verlag, Zürich, erschienen), da musste ich zunächst zurücknehmen, was ich früher einmal in diesen Mitteilungen schrieb, es gebe außer Lerchenfelds Denkwürdigkeiten keine guten Memoiren aus letzter Zeit. Diejenigen Churchills sind ganz große Literatur, so große, dass sie größter aus vergangener Zeit zur Seite gestellt werden dürfen; viele Seiten über den Weltkrieg und die Friedensverhandlungen atmen ähnliche Großheit wie die Schilderungen eines Caesar und Thukydides (das hatte ich übrigens gerade von Winston Churchill nie erwartet. Vor einem Vierteljahrhundert kannte ich ihn so gut, wie bei alljährlichem häufigen Zusammenkommen ohne innere Beziehung möglich ist. Trotz aller seiner Intelligenz imponierte er mir nie: zu stark spürte ich, dass ihm die Linie fehlte, die den echten Staatsmann macht, dass er zutiefst das ist, was Bismarck pupillarisch unsicher hieß; und dass seine politische Tätigkeit vor allem dazu gut war, einem geborenen großen Schriftsteller Material zu liefern, konnte ich bei seiner Gesamteinstellung nicht ahnen). Dann aber musste ich sagen: hier spricht aus jeder Seite das ganze Weltreich. Jede momentane Zielsetzung, jede Überlegung, jeder Kompromiss, jede Preisgabe des eben noch energisch Erstrebten, so wie sie Winston Churchill schildert, sagt mehr über Englands Gründe und Wege aus wie die gelungenste von Reinhold Schneiders Nachdichtungen. — Das zweite Gegenbild zu diesen, das ich hier kurz evozieren möchte, ist die Geschichte der Abdankung Eduards VIII., die wir alle ihrerzeit von Tag zu Tag am Rundfunk miterleben konnten. Die absolute Anerkennung fremden Willens als solchen, die unbedingte Behauptung des eigenen, dabei die unbeirrbare Distanz und Höflichkeit, die Geschichts­gegen­wärtig­keit, Traditionsgemäßheit und gleichzeitig wirkende Fähigkeit, völlig neue Situationen augenblicklich zu meistern, die Konsequenz in der Inkonsequenz, die Diskretion bei aller Offenheit und Unbehindertheit im Aussprechen, welche die, zur Zeit, da ich dies schreibe (Dezember 1936) Regierenden oder sonst politisch Verantwortlichen bewiesen haben, illustriert, gerade weil keiner der Handelnden für sich bedeutend ist, mit kaum zu steigernder Plastik das, was England zu England macht. Vom harmlosen Eduard VIII. her ist Heinrich VIII., von Stanley Baldwin her sind Pitt sowohl als Cromwell, von Winston Churchill her ist einerseits der Revolutionsfeind Burke und andererseits der glänzende Bolingbroke ohne weiteres zu verstehen.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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