Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

26. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1937

Bücherschau · Nora Waln, Lin Yutang, Larson

Im Buch vom persönlichen Leben empfahl ich Nora Walns Süße Frucht, bittre Frucht China (Berlin 1935, Wolfgang Krüger Verlag) als schönste mir bekannte Darstellung des tiefsten Sinnes sowohl als der reichsten Möglichkeiten des Familienlebens; bekanntlich hat die Großfamilie als solche unter allen Menschen der Erde den Chinesen am meisten bedeutet und tut dies heute noch. Eben dort zeigte ich, dass es unmöglich ist, Familien- und Staats- und Nationalgefühl auf einen Nenner zu bringen.

Die Familie hängt durchaus subjektiv, in der Stimmung der Innigkeit zusammen und ist damit das strikte Gegenteil eines Staates, welchen sie andererseits gar leicht, wie die Erfahrung aller Völker lehrt, gerade kraft des rein Persönlichen ihres Zusammenhangs beherrscht. Noch nie ward aus einer Familie als solcher ein Reich. Das Prinzip der Familie ist das des Atriums, das der sozialen und politischen Gemeinschaft ist das des Forums; jenes verkörpert einen subjektiv-seelischen Zusammenhang, dieses einen objektiv-sachlichen. Größere Gegensätze kenne ich nicht. (S. 210)

Nun ist ein neues China-Buch erschienen: Lin Yutang, Mein Land und mein Volk (deutsche Ausgabe bei der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart; das englische Original führt den Titel My country and my people), welches nicht zwar in dichterischer Evokation, dafür aber in prägnantester Darstellung von Schärfsterschautem und in kritischer Durchleuchtung von hohem Niveau aus auf schlechthin allen Gebieten das sonderlich-Chinesische in seiner intimsten Eigenart herausarbeitet, welches Nora Waln auf dem einen der Familienbeziehung vorbildlich dargestellt hat. Da überdies der Verfasser echter Chinese ist, und dennoch wirklich westlich gebildet, so dass ihm unsere Denkart nicht eine bloß anempfundene fremde Sprache bleibt, so kann er das erfüllen, was Ku Hung-ming doch nur als Versprechen leistete; von echter lebendiger Synthese, von Fernost und Westen her, auf höherem Verstehensniveau, das zugleich Einmalige und Vorbildliche Chinas zu allübertragbarem Menschheitsgut zu machen. Es ist dies in bezug auf China die erste Leistung dieser Art.

Weder will ich hier auf alles, noch auch auf das bezauberndste Besondere eingehen; zu letzterem zählt vor allem die erklärende Schilderung des chinesischen Schrifttums und allgemein der chinesischen Kunst. Hierüber nur die folgenden stichwortartigen Sätze aus dem Original:

Die Stellung der chinesischen Kalligraphie ist in der gesamten Kunstgeschichte etwas Einzigartiges. Durch den Gebrauch des Pinsels beim Schreiben, der ja sehr viel zarter und gefügiger arbeitet als die Feder, wurde die Kalligraphie auf die Ebene einer wirklichen Kunst erhoben und der Malerei gleichwertig an die Seite gesetzt. Wollte man aber die Frage aufwerfen, welche von den beiden Künsten die stärkere Auswirkung habe, so würde die Antwort zweifellos zugunsten der Kalligraphie ausfallen. Chao Mingfu (1254-1322) sagte von seinen Bildern:
Felsen sind so, wie beim Schreiben der Feipo-Stil, und Bäume sind wie der Chuan-Stil… Die Maltechnik beruht immer noch auf den acht Grundstrichen der Schreibkunst.
Mir stellt sich die Frage immer etwa so dar, dass sich die Kalligraphie als die reinste Verkörperung der Grundbegriffe von Rhythmus und Komposition zur Malerei nicht anders verhält wie die reine Mathematik zur Mechanik und Astronomie. (S. 352) … Wenn die Inspiration kam und der Gelehrte Zauberkräfte in seinem Handgelenk verspürte, schien nichts unmöglich. Man besaß die Kunst, den Grundrhythmus der Dinge wiederzugeben; alles andere war von untergeordneter Bedeutung. Auch heute noch gibt es Maler, die mit den bloßen Fingern Bildchen malen, und einer tut es gar mit der Zungenspitze: er taucht sie in Tusche und leckt mit ihr übers Papier. (S. 365.) Ein Bild ausführen, heißt im Chinesischen einfach Eine Konzeption fertigschreiben. Ehe der Pinsel sich aufs Papier senkt, hat der Künstler eine ganz bestimmte geistige Vorstellung von dem Darzustellenden; seine Arbeit besteht also nur darin, dass er diese Vorstellung durch gewisse Striche nachschreibt. Dabei duldet er nicht, dass Unwesentliches ihm den Blick beengt; wohl aber fügt er da einen Zweig und dort ein Hälmchen hinzu, um seinem Werk seinen organischen Rhythmus zu bewahren, und wenn er alles Wesentliche seiner inneren Vorstellung ausgedrückt hat, legt er den Pinsel weg. Die Chinesen verstehen es vortrefflich, im rechten Augenblick aufzuhören. So lebt das Bild, weil die hinter ihm stehende Vorstellung lebt… Die betreffende Technik ruft einen Effekt hervor, den man Wungling nennt, das heißt leer-und-lebendig und soll bedeuten, dass äußerste Lebensfülle mit äußerster Sparsamkeit im Ausdruck Hand in Hand geht… (Bei der Preisverteilung durch das Kaiserliche Bureau für Malerei, wobei die Rücksicht auf den poetischen Gehalt der künstlerischen Konzeption den Vorrang vor allen anderen Bewertungsmaßstäben hatte), hing alles an der Kunst, mit welcher die Methode der zarten Andeutung gehandhabt wurde… Unmittelbare Abbilder wurden möglichst vermieden; wo es nur irgend angängig ist, tritt die Andeutung an seine Stelle. Die beständige Sorge des chinesischen Künstlers ist: man muss der Phantasie etwas übriglassen! (367, 369, 371)

Diese Stichworte dürften meines Erachtens genügen, um jeden künstlerischen Menschen dazu anzuregen, sich auf Lin Yutangs Buch förmlich zu stürzen. Um anderer Probleme willen nun aber geht dieses Buch schlechthin jeden Menschen, insonderheit jeden Deutschen an, auch wenn sein Bewusstsein ganz und gar von den Aufgaben des nackten Daseinskampfes erfüllt ist.

Zur Überleitung zu dem, was in diesem weiteren Zusammenhang zu sagen ist, diene ein Vers des Li Li Weng aus dem Ende des 17. Jahrhunderts:

Erst schauen wir nach den Hügeln auf den Bildern
Dann schauen wir nach dem Bildnis in den Hügeln.

In China ist die Lebenskunst nicht abgetrennt von der Kunst der Malerei und Dichtung. Dort allein bisher ist die Wahrheit, dass das eigentliche Menschenleben auf der Ebene der Kunst liegt, jahrhundertelang eine historische Macht gewesen. Und nun kommt das, um dessentwillen ich diese ganze Betrachtung anstelle: Diese Wahrheit ist zur historischen Macht dadurch geworden, dass das chinesische Volk schon vor langer, langer Zeit und seither beinahe ununterbrochen unter ähnlich schweren Umständen gelebt hat wie Deutschland seit Versailles. So hat dort zuerst im großen die Transposition des gesamten Menschenlebens auf die ihm einzig gemäße Ebene stattgefunden, die gerade im sozialistischen Zeitalter den einzig möglichen Weg zum Heil darstellen wird.

Denn es ist ausgeschlossen, dass, zum mindesten in Europa, vor langer, langer Zeit wieder Zustände herrschen werden, in denen sich das Individuum unbeengt fühlen wird. Eine Weile mag Flucht in den Kollektivismus als vermeintlich höheren Zustand das Schauerliche der bestdenkbaren äußeren Zukunft — so wie sie vom Standpunkt des erwachten gebildeten Menschen mit noch nicht ferner Vergangenheit verglichen erscheint — das Bewusstsein verschließen. Lange dauern wird das nicht. Alle nicht ganz unbegabten Menschen älterer Kulturtradition wissen es heute schon, dass keine Gesellschaftsordnung Glück und Heil bringen kann, der nicht die Intimität der einsamen Persönlichkeit das absolut Wertvollste bedeutet, und bald werden es die heutigen Massen gleichfalls wissen. Denn bald werden auch diese, zum mindestens in Form der Anerkennung des Rechts auf bessere Lebensumstände, für ihr Bewusstsein auf ein äußeres Niveau hinaufgehoben sein, auf dem die Neigungen des Kollektivisten ganz natürlich in die der differenzierten Persönlichkeit überzugehen beginnen; denn überall beim Menschen entscheidet das seelisch Erlebte und nicht das materiell Verwirklichte letztlich. Und hat in noch so geringem Maße Verwirklichung des Wunschbildes eingesetzt, dann wird Volksbeglückung durch Massenorganisation zur absoluten Unmöglichkeit geworden sein, denn dann wird niemand mehr vom Äußerlichen so viel erwarten, dass er ihm das Recht zugesteht, an Stelle des einsamen Einzelnen zu entscheiden. Dann werden alle positiven Errungenschaften der Kampfzeit um eine sozialistische Ordnung mit allzumenschlicher Undankbarkeit als Selbstverständlichkeiten vorausgesetzt werden, und lediglich das, was jene an Hoffnungen nicht erfüllen, wird das Bewusstsein beschäftigen und den Willen lenken.

Gegen das hier Vorgezeichnete mag man Nordamerika anführen: ich erwarte immer noch, ja gerade jetzt, dass der Amerikanismus drüben nicht das letzte Wort bleibt. Jedenfalls wird er dieses in Europa nicht bleiben, weil hier die äußeren Möglichkeiten nicht bestehen, die rein veräußerlichtes Leben lange Zeit hindurch erträglich erscheinen lassen können. In Europa ist die Kulturtradition so tief verwurzelt, dass eine positive amerikanische Lösung sogar für kurze Zeit keine wirkliche Lösung bedeuten kann. Andererseits wird es, solange es so viel ungesicherte Existenzen gibt wie heute, in Europa unmöglich bleiben, im letztentscheidenden Sinn konsequent gepflegter Kulturtradition in der Intimität eine Besserung von außen her der Lebensbedingungen für den inneren Menschen herbeizuführen und zu gewährleisten — und eine Sicherung aller dieser Unzähligen ist ausgeschlossen. Da bleibt in erster Instanz überhaupt nichts anderes übrig, als der harten Wahrheit gefasst ins Auge zu blicken: die nächste Zukunft wird der Seele mit ihrem Entfaltungs-, Höherentwicklungs- und Selbstbesinnungsstreben und damit allem echten Glücke weniger hold sein, ganz einerlei ob es äußere Katastrophen größten Maßstabs vielleicht doch noch zu vermeiden gelingt, als alle bisherige Vergangenheit. — Eine wesentlich gleichsinnige trostlose Aussicht ist nun seit weit über einem Jahrtausend das normale innere Lebensmilieu der überwältigenden Mehrheit aller Chinesen. Dies aber hat sie nicht vernichtet: eben diese trostlose Aussicht ist diesem wunderbaren Volk zum Ansporn und Sprungbrett geworden, den bisher höchsten und zugleich tiefstverwurzelten allgemeinen Kulturzustand zu verwirklichen.

In meinem Reisetagebuch hieß ich die Chinesen die menschlichsten Menschen. Damals war ich mir noch nicht so klar darüber wie heut, dass das eigentliche Menschenleben, im Unterschied vom tierischen, ganz und gar der Ebene der Kunst angehört. Heute nun kann ich meine Bestimmung von vor fünfundzwanzig Jahren erst recht unterschreiben. Die Chinesen sind die menschlichsten Menschen, weil sie von Hause aus alle Vollendung und alles Glück und alles Heil in einer anderen Dimension suchen als der der materiellen Gegebenheit. Daher zunächst ihre Grundneigung zur Einfachheit und Naturgemäßheit: was dem Amerikaner das Minimum bedeutet, bedeutet dem gebildeten Chinesengrundsätzlich ein Maximum; bescheidet das Geschick einem noch mehr, nun, so wird es dankbar hingenommen, immer jedoch des Neides der Götter eingedenk, der dem Chinesen ein so Selbstverständliches bedeutet, dass er ein Unglück nie als unverdient empfindet — eine so töricht anthropomorphe Frage stellt er nicht. Von dieser Grundeinstellung aus nun sucht er das Menschenmögliche aus der äußeren Gegebenheit, wie immer diese sei, zu machen. Im Sinn der äußeren Verschönerung; im Sinn intensivster Pflege der Kunst der Aufmerksamkeit auf jede erfreuliche Kleinigkeit, so dass nichts Angenehmes unbemerkt bleibt; im Sinn der Pflege der Fähigkeit zur Freude und zum Genuss; im Sinn der Kultur einer allgemeinen Haltung, dank der das Innerliche allemal mehr bedeutet als das Äußerliche; im Sinn größtmöglicher Vertiefung letzter Haltung, dank der im Höchstfall die schlimmsten Schicksalsschläge der Seele nicht mehr zu bedeuten brauchen als dem Dichter der Stoff; im Sinn einer Erziehung zum Ertragen des unabänderlich Bösen, das zu allem Guten notwendig hinzugehört, sowie gründlicher Aberziehung alles Illusionismus; last not least im Sinn einer Hochzucht des Humors, dank welcher Gottesgabe den furchtbarsten Welt-Konflikten ein freundlicher Aspekt abzugewinnen ist.

Indem nun Lin Yutang nicht etwa ein Idealbild Chinas hinzeichnet, sondern gleichzeitig überall und sogar mit keiner vor ihm erreichten wohlverstandenen Schärfe das Negative von Chinas wirklichem Zustand bestimmt, schwächt er das Positive nicht etwa ab, sondern er verleiht ihm höchste Überzeugungskraft, genau so wie die Gotterwähltheit Israels ohne dessen ständiges empirisches Versagen nie so weit im Großen eingeleuchtet hätte, dass ihr Sinn hätte zur Welt- und Menschheitsmacht werden können. Das chinesische System hat freilich ungeheure Schattenseiten, und zur Zeit überwiegt im Fernen Osten vielleicht sogar das Schattenhafte über dem Lichten. Doch noch einmal: diese Tatsache steigert nur die Überzeugungskraft des Sinns. Und wo uns Europäern noch so ganz die innere Einstellung und Bereitschaften fehlen, von denen allein her die Weltkrise vom Menschen und in menschlichem Sinn — im Unterschied von einer noch schlimmeren Unterwerfung unter äußerliche Gewalten — und damit im Guten überwunden werden kann, so kann uns Chinas Volksweisheit unmittelbar zur frohen Botschaft werden. Wer auch nur einigermaßen verstehend das Buch vom persönlichen Leben gelesen hat, dem sollte wenigstens dies endgültig klar geworden sein: vom Sachlichen und der Sachlichkeit her ist überhaupt kein ferneres Heil denkbar. Je mehr hier Positives geleistet wird, ohne entsprechende Berücksichtigung der Seele und des Geistes, desto schlimmer muss der allgemeine Seelenzustand werden. Da kann denn die Mär im Westen wahre Wunder wirken, dass ein Volk Jahrtausende entlang alles Chaos und alle Greuel überstanden hat, ohne je seine Seele zu verlieren, nur weil es bei äußerlicher Massenorganisation allen Nachdruck auf das Intime und Persönliche legte. Und hieraus dürfte sich manche Korrektur dessen ergeben, was allgemein als unser Vorzug gilt. Ist es nicht am Ende doch besser, eine Sozialforderung auf Gunst und Dankbarkeit aufzubauen, trotz aller Gefahr größerer Korruption, als auf gefühlloser Gerechtigkeit? Ist es nicht am Ende doch besser, so wenig als irgend möglich zu regieren, als einen jeden zu seinem Glück zu zwingen? Ist es nicht am Ende doch besser, kein tausendjähriges Reich zu versprechen, dafür aber jeden zu lehren, unter den einfachsten Verhältnissen glücklich zu sein? Ist es nicht am Ende doch besser, sämtliche Beziehungen der Menschen untereinander auf Höflichkeit und damit auf Höchstschätzung der Persönlichkeit zu begründen, als auf der besterfassten Zweckmäßigkeitsidee, auf deren Herrschaftsgebiet der beseelte Mensch unabwendbar zum unselbständigen, von oben her gelenkten Maschinenteile wird? Man lese Lin Yutang und beantworte sich die von mir gestellten Fragen selbst.

Nein, das Interesse für die Weisheit des Ostens, welches bei Weltkriegsschluss einsetzte, war keine bloße Modesache: es entsprach einer Notwendigkeit, die seither noch sehr viel dringender geworden ist. Wenngleich mehr und mehr davor zu warnen ist, nun auch nicht Idealisierbares zu idealisieren. Zweifellos war das alte China todgeweiht, denn zuletzt überwog das Üble oder Rückständige gar zu sehr über dem Positiven. Inwiefern dies der Fall ist, wird von Daniele Varè sehr deutlich gemacht in seinem Buch Die letzte Kaiserin, der Dämon auf dem Drachenthron. (Wien 1936, Paul Zsolnay Verlag). Der Verfasser hat die letzte Kaiserzeit in Peking sehr nahe miterlebt. Und er hat die Gabe, mit beinahe chinesischem Feinsinn durch Andeutungen mehr zu sagen, als durch grobe Auftragung gelänge. Der alte Buddha geht aus dem Buch als sehr große, wenn auch völlig unzeitgemäße Persönlichkeit hervor. Aber welche Entartung des ganzen Systems und aller seiner bedeutenden Träger! Dieses wirklich schöne Buch sollten alle lesen, welche Gefahr laufen, um eines unerfreulichen Heute willen das Schlechte des Alten zu ignorieren.

Immerhin: ein Gesundbrunnen bleibt die Anschauung des grundsätzlich ganzen Ostens allen zerrissenen Abendländern, sogar in dessen Entartungszuständen. Und zerrissen sind sie mehr oder weniger alle: das ist das psychologische Allgemeinergebnis der vom Christus-Impulse ausgelösten überscharfen Polarisierung und damit Scheidung von Geist und Erde. Mich will sogar bedünken, dass der Hauptgrund des Abendländern von Jahrzehnt zu Jahrzehnt tiefer Einleuchtenden des Positiven Chinas darauf beruht, dass es des Westens Gegenpol insofern darstellt, dass dort die geringste Zerrissenheit besteht: die chinesische Weltanschauung schaut Geist und Erde von Haus aus und durchaus in eins zusammen. So oder anders gilt gleiches nun von allen höherstehenden Völkern des Fernen Ostens. Darum frommt es uns in dieser Krisenzeit sogar, mit nicht kultivierten Ostasiaten bekannt zu werden, die aber dank ihrer selten günstig veranlagten Natur schon mehrere Male eine gewaltige historische Rolle gespielt haben und solche bald wieder spielen könnten. Ich meine hier die Mongolen. Über die bisherigen Höchstausdrücke des Mongolentums schrieb ich im letzten Hefte dieser Mitteilungen. Nun gibt es aber das Buch eines Schweden, Larson, der zugleich Herzog der Mongolei ist, Die Mongolei und mein Leben unter den Mongolen (Berlin 1936, Gustav Kiepenheuer Verlag), welches das Volk schildert, wie es in seiner Gesamtheit heute ist. Da werden denn viele mit Überraschung lesen, welches der artgemäße charakterliche Unterbau der grausamen1 Größe eines Dschingis Khan ist: eine beinahe unvergleichlich gerecht denkende, ritterliche, gütige, hilfsbereite, genügsame, lebensfreudige, ja fröhliche, humoristische Grundanlage! Bei den Mongolen, die als solche nicht eigentlich ein Kulturvolk sind, ist auf der Ebene der Natur, als biologisches Erbe, dem Sinne nach Gleiches allgemein vorhanden, was auf der Ebene Geist-bedingten Lebens für China Kulturprodukt und Kulturziel ist. Damit nun beweisen die Mongolen mit einer Eindeutigkeit, für die ich kein zweites Beispiel kenne, dass die Idee eines Geburtsadels Wirklichkeits-gerecht ist. Denn was immer von ihrer Leistung gälte — die Mongolen haben typischerweise, auf jeweils noch so niedrigem Niveau, die Eigenschaften, die auf höherem Niveau absolute menschliche Überlegenheit bedingen. Jeder begabte Mongole ist in potentia ein großer Herr. Hieraus erklärt sich denn die besondere Rolle, welche dieses Volk in der Geschichte hat spielen können. Der Edelmann ist durchaus nicht notwendig Kulturmensch, ja überhaupt kulturfähig; aber sofern er den Namen verdient, besitzt er in irgendeinem Maß und Grad die Uranlage zum Erobern, Herrschen, Beherrschen und Menschen-Behandeln und vor allem das selbstsichere In-sich-Ruhen, das ihm innere Distanz gibt zu allem äußeren Geschehen. Diese Uranlage kann der geborene Herr aber betätigen, wo immer man ihn hinstellt. Verglichen mit dem verpflanzungsunfähigen Bauern ist er auf jeder Stufe und in jeder Ausgestaltung recht eigentlich — Nomade. Seine Beziehung zu Blut und Boden ist darum nicht weniger innig als die des Bauern: nur ist sie eine andere. Mehr als irgendein anderer Typus muss er auf Reinheit des Bluts sehen und den Zuchtgedanken pflegen — aber nicht in Hinsicht auf den Arbeitsgaul, sondern das Schlachtroß. Und seine Erde ist nicht der besessene Acker, sondern die durchsprengte Steppe. So ist der geborene Herrenmensch in erster Linie imperial und national nur insofern, als das Imperium zur Beherrschung sonderliches Blut verlangt. So war auch der europäische Adel bis zur Französischen Revolution wesentlich imperial gesinnt; das bedeutet das Dasein der letzten großen positiv bedeutsamen Internationale, derjenigen der Ritterschaft, die heute blutsmäßig nur mehr im beschränkten Kreis der regierenden Fürsten fortlebt und funktionell in der Nomaden-Gemeinschaft des diplomatischen Korps. Die Mongolen verkörpern das Urtypische des Edelmanns in allen Hinsichten in der reinsten mir bekannten Form. So ist es nur natürlich, dass es große Söhne dieses als solches eigentlich nicht kulturfähigen Volks gewesen sind, welche China geeint, eine von Chinas größten Kulturperioden eingeleitet haben, dass Gleiches später von Indien gegolten hat, und dass jeder Kenner der Mongolei auch für die Zukunft menschlich Großes aus dieser Reservation vornehmen und überlegenen Menschentums erwartet.

1 Diese Grausamkeit ergänzt bei allen Mongolen die liebenswürdigen Eigenschaften; ihre Natur verkörpert eine höchst merkwürdige Spannung zwischen potentieller Heiligkeit und potentieller Grausamkeit. Auf dem Vorhandensein der gleichen Spannung in ihm beruhte die Wahlverwandtschaft des Barons Roman Ungern-Sternberg mit den Mongolen und die sich daraus ergebende phantastische Rolle, die er unter ihnen gespielt hat. Neuerdings ist ein Roman erschienen, der diesen einmaligen Mann zum Helden hat: Vladimir Pozner Le mors aux dents (Les éditions Noël, 1937, 19 rue Amelie, Paris). Zu diesem Roman habe auch ich dem Verfasser vor einigen Jahren Material geliefert, und der betreffende Brief von mir findet sich auf S. 81 des Buchs in extenso abgedruckt. Bei aller sonstigen Naturtreue der Schilderung legt nun Pozner den Akzent allzu einseitig auf Ungerns Grausamkeit, in deren detaillierter Schilderung er sogar schwelgt, und seiner ungewöhnlichen Geistigkeit wird er gar nicht gerecht; offenbar fehlt ihm selber die metaphysische Begabung. Eben deshalb geht aus Pozners Schilderung auch nicht hervor, inwiefern Roman Ungern-Sternberg wesentlich kein baltischer Reaktionär, sondern der Vorläufer neuer mongolischer Größe war, als welcher er ja auch seither in den Liedern und Sagen der Steppe fortlebt. Ungern stellte eine Weile viel mehr dar, als aus Pozners Schilderung hervorgeht, und er war nicht nur gehasst von den Mongolen, sondern auch vergöttert. Grundsätzlich hätte er wirklich ein neuer Dschingis Khan werden können. Richard Wilhelm erzählte mir einmal von der Zeit, da Ungern China bedrohte: die prophetisch geschulten Staatsweisen dieses Landes nahmen Ungerns mit noch so unzulänglichen Kräften vorgenommenen Vorstöße darum so ernst, weil alle kleinen Anfänge so eingestellt waren, dass bei günstigen Sternen ein Weltreich hätte die Folge sein können.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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