Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

26. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1937

Bücherschau · George Santayana · Der letzte Puritaner

Mit dem Philosophen Santayana, jenem vornehmen Spanier, der Nordamerikaner wurde und in mancher Hinsicht mehr Neuengland-Tradition verkörpert als irgendein noch lebender Yankee, habe ich nie viel anfangen können. Er schreibt blendendes Englisch, ist ein hervorragender Dialektiker, ein guter Kenner der Griechen, ein feiner Ironiker. Doch in keines mir bekannten lebenden Philosophen Schriften weht eine dünnere Luft. Diese ungeheuer geistige, eine auf besondere Art souveräne Persönlichkeit offenbarende Philosophie wirkt auf mich wie kaum eine andere substanzlos. War einmal Hanslick die Musik eine Kunst ähnlicher Art wie die Kunst der Arabeske, so könnte ein Kritiker verwandten Geists von Santayanas Philosophie leicht Ähnliches behaupten. Ich freilich hatte schon früh vom Menschen gehört, und so wusste ich lange schon, dass diese Philosophie mehr verbarg als offenbarte. Ich las Santayana selten und ohne Genuss; bedauerte aber stets, dass ich ihm nie begegnet war: sicher hätte der Mensch mir mehr geboten als das Werk.

Nun hat George Santayana die ganze Welt damit überrascht, dass er als Dreiundsiebzigjähriger einen — Roman verfasst hat: The last Puritan, a memoir in form of a novel; in ausgezeichneter deutscher Übersetzung vom Verlag C. H. Beck in München unter dem Titel Der letzte Puritaner, die Geschichte eines tragischen Lebens herausgebracht. Nicht ohne Bedenken ging ich an die Lektüre. Ich fürchtete, es möchte Santayana als Dichter und Erzähler ebenso ergehen wie bisher jedem Denker: das Interesse am Sinn möchte das an den Tatsachen so sehr überwiegen, dass nichts oder weniges plastisch dastände. Tatsächlich merkt man es diesem Roman auch auf jeder Seite an, dass ihn ein Denker schrieb, denn nirgends fühlt man den Autor im Mittelpunkt des Geschilderten leben, ohne dass er persönlich hervorträte — dies forderte bekanntlich Flaubert, nach dem Bilde Gottes, vom Romancier. An jeder wichtigen Stelle spürt man Santayana lächelnd außerhalb stehen. Und doch ist dieser Roman ein bedeutendes Werk; er ist bedeutender als alles Philosophische, was Santayana geschrieben hat. Ja es heiligt letzteres gewissermaßen: nachdem ich den letzten Puritaner gelesen, wusste ich, dass Santayana zutiefst nie der Philosoph gewesen war, als welcher er schrieb. Er war ein Wahlverwandter seines tragischen Helden Oliver Alden. Ein Wahlverwandter, nicht dieser selbst: denn die tiefe und wesentliche Ironie, aus welcher heraus Santayana den sterbenden Puritanismus wiedergebiert, ist die des katholisch geborenen Spaniers, der seine spanische Ganzheit in der ihm dennoch wahlverwandten Atmosphäre Neu-Englands verloren hat.

Eben darum kann er die Tragödie des Puritaners so ergreifend schildern, wie es vor ihm keiner vermocht hat. Zutiefst hat er an dieser ja nicht teil, und so schreibt er ohne persönliche Bitterkeit. Und doch hat er sie mit allen äußeren Schichten seines Wesens persönlich gelebt: so kann er Lebendiges evozieren. Seine innere Distanz jedoch hebt das Problem des amerikanischen Puritanismus hoch über alle raum-zeitliche Kontingenz hinaus. Santayana hat hier die Tragödie des Puritaners geschildert, wie es ihn, unter beliebigen empirischen Umständen, immer gegeben hat und immer wieder geben wird.

Der Puritaner ist erstens der Mensch, welcher einzig den Wert des Geistigen anerkennt und darum, wie er sich auch stelle, aller Natur Feind ist. Der aber zweitens, eben weil er nur den Geist als wirklich anerkennt, und er diesen als überpersönlich vorstellt, nie selbstsicher ist: so ist ihm gegebenes Gesetz letzte Instanz. Die dritte unerlässliche Voraussetzung alles Puritanismus ist individualistische Gesinnung: im Zusammenhang mit der Anerkennung eines außerpersönlich gültigen Gesetzes führt diese naturnotwendig zu Gesetzesgerechtigkeit und Auserwähltheitsgefühl. Aus allem diesem zusammen ergibt sich ein Menschentypus, der alles aushalten kann, nur nicht das Gefühl, im Unrecht zu sein. Der auf jede Freude im Leben verzichten kann, nicht jedoch auf einen Vorteil. Der im Gefühl vollkommener Selbstlosigkeit allezeit selbsüchtigst handelt und sich dabei unentwegt im Einklang mit der Gottesordnung fühlt. Tut er das aber nicht, dann ist er innerlich zerrissen wie kein anderer. Dann wird er leichter als irgendein anderer zum Selbsthasser. Und indem er alle zum Guten erziehen will, zerstört er in sich und anderen alles, was mit Freude und Schönheit zusammenhängt.

Ich zeichne karikierend nur einige der vielen Gedankengänge und Schlussfolgerungen nach, die sich aus Santayanas Buche abstrahieren lassen. Alles Weitere und Nähere suche und finde der Leser im Letzten Puritaner selbst. Zum Schluss nur noch dies: warum ist der Preuße, trotz des in seinem Typus vorherrschenden Pflichtgefühls, nicht Puritaner? Weil er nicht Individualist ist. Als Sozialist ist er niemals autonom. So kann er auch nicht selbstgerecht sein. Insofern er anderen und nicht sich selbst gehorcht, erträgt er es, unrecht zu haben. Und insofern Vorgesetzte zwischen ihm und dem Absoluten stehen, bedarf es keiner so strengen und harten Gesetzesordnung. — Letztlich beruht also der Unterschied zwischen Calvinismus und Luthertum wohl darauf, dass Menschen sehr verschiedener Grundgesinnung die beiderseitigen Religionen stifteten. Was aber nicht hindert, dass Puritanismus auch in lutherischem Rahmen blühen kann. Während ich Santayana las, stiegen wieder und wieder baltische Erinnerungen in mir auf. Auch die Generation meiner Eltern und Großeltern war puritanisch. Auch diese Menschen waren hart gegen sich und andere, fühlten sich schwer, wenn je, im Unrecht, gönnten jedem nur das, wonach und wozu er geboren war, und ließen keine Gelegenheit vorübergehen, wo sie auf andere und jüngere pädagogisch wirken und vor allem einreden konnten. Diese Konvergenz führt denn zum Auffinden zweier Koordinaten mehr, die den Puritanismus bestimmen: das sind Kastengefühl und Herrscherstellung. Wir baltischen Edelleute hatten uns ganz und ausschließlich als Herrenschicht, außer Zusammenhang mit der Gesamtbevölkerung des Landes, typisiert. So waren auch wir auf unsere Art Auserwählte. Sehen wir nun aber den gleichen Zusammenhang von einer anderen Seite an, dann können wir über den angelsächsischen Puritanismus noch dies sagen: auch er war die Weltanschauung einer kastenmäßig abgeschlossenen Herrenschicht. Tatsächlich begann Englands Weltbeherrschertum mit dem Erstarken des puritanischen Impulses. Nicht dass der Puritaner in England je den Kavalier entthronte: wohl aber wäre der reine harte skrupellos utilitarische angelsächsische Herrentypus, welcher das Weltreich schuf, ohne die Mitwirkung einer puritanischen Dominante unter den Genen nie bestimmend geworden.

Aber auch die ursprünglichen Islamiten — die neuerdings in Gestalt der Wahabiten eine vielversprechende Wiedergeburt erleben — waren echte Puritaner. Daraus sieht man denn — hier führe ich die bisherigen Gedankengänge in anderer Richtung fort — wie verfehlt es ist, Kulturgestaltungen ohne weiteres mit bestimmter Rasse in Verbindung zu bringen. Gewiss ist das physiologische Substrat allemal ein wichtigster Faktor. Aber wieviel hier ursprüngliche Rasseneigenart, wieviel lange einwirkende Umwelt bedeutet, ist allgemein überhaupt nicht zu bestimmen. Sicher scheint so viel: der Charakter hängt wesentlich vom Hormonspiegel, dem jeweiligen Gleichgewicht der Blutdrüsen ab, und auf diese hat die Umwelt entschieden starken Einfluss. Diese eine Tatsache beweist die Richtigkeit der These der Südamerikanische Meditationen, dass die Seele zum Erd-Teil des Menschen gehört. Andererseits nun aber stellt die Tradition eine gegenüber der Vererbung selbständige Kausalreihe dar, so dass Völker verschiedenster Grundanlage in gleicher oder ähnlicher Form leben können. Endlich kann ein schöpferischer und mächtiger Einfluss Völker in völlig neue, in keiner Weise erbmäßig vorbereitete Form bringen. Darum hüte man sich, gerade auf diesem so wichtigen Gebiet vor jeder vereinfachenden Erklärung. Man erkläre hier überhaupt möglichst wenig, sondern man schaue und schaue zusammen. Von solcher persönlicher Schau her wird auch die beste Lektüre allererst fruchtbar. Hier möchte ich denn einige Bücher empfehlen oder vielmehr wiederempfehlen. Erstens Reibmayrs noch immer unübertroffene, bei J. F. Lehmann’s in München verlegte und längst vergriffene Entwicklungsgeschichte des Talentes und Genies, aus der hervorgeht, dass der Begriff vom Kulturerbe ein ebenso organisch Wirkliches betrifft wie der vom Rassenerbe und dass der meiste Rassenaufstieg von der Zumischung von Kulturblut ausgegangen ist. Zweitens Alfred Webers Kulturgeschichte als Kultursoziologie, Leyden 1936, welche zeigt, wieviel geschichtliche Gestaltung ausschließlich soziologisch und nicht physiologisch bedingt ist. Drittens Eickstedts Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit, die alle vulgäre Rassentheorie erledigt (im vorletzten Heft dieser Mitteilungen ausführlich besprochen) und endlich desselben Grundlagen der Rassenpsychologie (Stuttgart 1936, Ferdinand Enke Verlag). Letzteres Buch ist weder eine eigenwüchsige noch eine abschließende Leistung, wohl aber ein nützlicher Wegweiser. Als solcher zeigt es die ganze Komplexität der Rassen- und Seelenprobleme auf und gibt so viel Literatur-Hinweise, als sich der anspruchvollste Leser wünschen mag. Vor allem wird seine Lektüre ihn davor behüten, vorschnelle Schlüsse zu ziehen und allgemeine Theorien aufzustellen, wo zu solchen noch alle Tatsachen-Grundlage fehlt. Eickstedts neues Buch schränkt implizite die Gültigkeit des Begriffs der Rasse überhaupt sehr ein. Hier sei vor allem noch darauf hingewiesen, worauf Eickstedt hinzuweisen unterlassen hat. Aller völkische Aufstieg und alle völkische Größe hat darauf beruht, dass irgendeinmal, plötzlich, mehrere Generationen eines Volkes eine ungewöhnliche Vitalität und Schöpferkraft aufwiesen; der Fall der italienischen Renaissance ist hier typisch für jeden echten Aufstieg. Vitalität hat nun mit Rasse nichts zu tun. Wie der Geist plötzlich über jedermann kommen kann, so kann plötzlich ein Volk, das früher im Dunkel lebte, von einer Vitalitätswelle emporgehoben werden. Und dann wird diese Rasse einige Jahrzehnte oder Jahrhunderte entlang als große oder größte Rasse gelten…

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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