Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

31. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1941

Geist und Persönlichkeit

Im neunzehnten Jahrhundert hat Frankreich eine Reihe außerordentlicher Geister hervorgebracht, deren Originalität, Schärfe und Fülle der Intelligenz hoch über derjenigen derer stand, deren Ruhm männiglich bekannt ist — und die trotzdem nicht einmal im Bewusstsein der Zunft auch nur annähernd die Rolle gespielt haben, die ihrem geistigen Range zukommt: ich nenne Tarde, Cournot, Tocqueville, Gobineau, Tannery, Renouvier, Ravaisson; ich nenne auch Renan und Taine, obgleich beide zeitweilig sehr berühmt waren, ja ich könnte sogar Bergson nennen. Denn bis in sein sechstes Lebensjahrzehnt hinein galt dieser lediglich als begabter Philosophieprofessor unter anderen, und hätten ihn der um die Jahrhundertwende hochberühmte, die weiteste Popularität genießende amerikanische Psychologe William James und der weit über seine Fähigkeiten hinaus als Geist anerkannte englische Staatsmann Arthur Balfour nicht nach Erscheinen seines in Wahrheit wenigst bedeutenden Werkes, der Schöpferischen Entwicklung, von weithin sichtbarer Warte her als größten Philosophen seiner Zeit gepriesen, es wäre wahrscheinlich zeitlebens still um ihn geblieben. Kürzlich nun las ich denjenigen unter den aufgezählten Geistern — ich könnte noch mehrere nennen, welche der gleichen Gruppe angehören wieder, der meiner fernen Erinnerung nach der originellste und geistvollste von ihnen allen war: Gabriel Tarde. Seine Lois de l’imitation blendeten mich geradezu. Jede Seite, ja beinahe jeder Satz dieses Werkes beeindruckte mich als einer geistigen Dichte und Prägnanz teilhaftig, dass ich schon darum der Bewunderung voll war. Doch es besitzt viele andere Tugenden und Vorzüge. Schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sah Tarde, ohne im mindesten prophetisch veranlagt zu sein, nur dank seiner unheimlichen intellektuellen Luzidität, seiner vollkommenen Kenntnis der Menschennatur sowie der sozialen Logik, unter welchem Begriffe er das Gesetzmäßige in der Völkerentwicklung zusammenfasste, im ganzen genau so kommen, wie es gekommen ist, was sich von etwa 1920 an ereignet. Unter anderem sagte er auch das unvermeidliche Ende der Demokratie und der liberalistisch verstandenen Freiheit voraus; die gleiche unprophetische Prophetengabe — ich nenne sie unprophetisch, weil sie kaum überhaupt aus dem Unbewussten gespeist ward — hat in neuerer Zeit sonst nur Tocqueville bewiesen, der in seinem zwischen 1830 und 1850 geschriebenen Werk De la Démocratie en Amérique die ungeheure Langsamkeit der Verwirklichung dessen, was der Verstand als nächste Zukunft vorausplant (weil freilich jedes mögliche Folgende logisch unmittelbar aus dem Vorhergehenden folgt), feststellte und daraufhin hundert Jahre früher unheimlich genau voraussagte, wieweit die Idee der Volksherrschaft von den Voraussetzungen des 18. Jahrhunderts her um 1930 verwirklicht sein könnte. Doch wichtiger als jede besondere Prophetie ist bei Tarde die Aufdeckung der allgemeinen Gesetze, dank denen Voraussage überhaupt möglich ist, und hier steht Tarde beinahe unvergleichlich da. Wie keiner vor ihm noch nach ihm hat Tarde deutlich gemacht, wie große weltanschauliche Wendungen zustande kommen und warum sie fast immer blitzartig schnell verlaufen und ganze Völker in Mitleidenschaft ziehen. Deutlicher als irgendeiner vor ihm noch nach ihm hat Tarde gezeigt, dass alle Wandlung, auch wo es sich um scheinbar Äußerlichstes handelt, von innen nach außen zu verläuft, sogar im Fall der Mode. Tiefer als irgendeiner vor und nach ihm hat Tarde eingesehen und überzeugender als alle zum Ausdruck gebracht, dass es nur einen Weg breite Schichten ergreifender soziologischer Veränderung gibt: denjenigen reiner Nachahmung, die zuerst zur Mode, alsdann zur verankerten Gewohnheit führt. So wurde die Folter nach Neuentdeckung des römischen Rechts durch Bologneser Gelehrte von beinahe ganz Europa so übernommen, wie Damenhutmoden übernommen werden; genau gleiches galt einige Jahrhunderte später von der an sich absurden englischen Einrichtung des Geschworenengerichts, von der Ausstrahlung der Französischen Revolution (und späterer) zu schweigen. Dass es sich hier tatsächlich um die Fortpflanzung bestimmter Ansteckung von einem Herde aus handelt, beweist vielleicht schlagender als alles andere die gleichfalls von Tarde zuerst hervorgehobene Sonderheit der romanischen Sprachen, als welche sämtlich die gleichen Abweichungen vom Lateinischen in Grammatik, Syntax und Wortumbildung aufweisen, was unmöglich selbständig von verschiedenen Zentren her erfolgt sein kann und nur durch einer Herdinfektion Vergleichbares erklärlich ist. Was beim Bazillus die Virulenz ist, bedeutet hier das völlig irrationale Prestige. Gerade die Grundphänomene unserer Zeit, insonderheit die Werbekraft des Bolschewismus, sind allein von Tardes Voraussetzungen her zu verstehen, denn die sogenannten Erklärungen der Tiefenpsychologie machen nichts wirklich verständlich, sie stellen nur die relative Gesetzmäßigkeit bestimmter Abläufe und Umsätze im Unbewussten fest, welche, eben weil es sich um Geschehnisse im Unbewussten handelt, für welche das Bewusstsein sozusagen keine Organe hat, keiner intellektuellen Assimilierung fähig sind. Und trotzdem: zu keiner Zeit hat Tarde einen großen Namen gehabt. Viele seiner frühesten Einsichten segeln heute unter fremder Flagge, am häufigsten unter der des geistig viel unbedeutenderen Gustave Le Bon, und die vielleicht wichtigsten sind bisher überhaupt kaum aufgegriffen worden.

Nachdem ich Tarde wiedergelesen hatte, packte mich zuerst tiefer Unmut über die große Ungerechtigkeit, die ihm seitens der Mit- und Nachwelt widerfahren ist. Dann aber fiel mir ein und auf, dass kein mir bekannter Franzose, der noch persönliche Eindrücke von Tarde gewonnen hatte — und ich kannte deren in meiner Jugend mehrere — von ihm als einem großen oder auch nur bedeutenden Mann gesprochen hatte. Und bald war ich in der Lage, in bezug auf die Kategorie von Geistern, die ich meine, zu verallgemeinern. Auch Bergson war keine bedeutende Persönlichkeit. Dagegen war Gustave Le Bon zwar ein ordinärer Kerl ohne metaphysische Tiefe und ohne jeden ästhetischen Charme, eine im ganzen lächerliche Figur in der Art des Tartarin de Tarascon, trotzdem jedoch eine geistige Persönlichkeit, an welcher vorbeizugehen unmöglich war und an welcher auch kein europäisches Volk, welches mit der sozialen Frage rang, vorbeigegangen ist. (Ich erinnere mich, wie der ehemalige Kaiserlich Russische Außenminister Iswolski, damals Botschafter in Paris, mir erzählte, die antisozialistische Politik seiner Regierung sei ganz von Le Bons Schriften inspiriert gewesen.) Wie mir dieses klar ward, da ahnte ich deutlicher als jemals früher die ausschlaggebende Bedeutung der Persönlichkeit.

Immer wieder ist es Gelehrten gelungen, nachzuweisen, dass diese oder jene fruchtbare Initiative gar nicht von dem stammt, welchem sie zugeschrieben wird. Nichts anderes bedeutet ja auch, auf die Tatsachen hin und von diesen her geurteilt, die Gepflogenheit, einem Herrscher das ganze Verdienst an einer geistigen Entwicklung zuzusprechen, der ihr nur machtmäßig die Bahn freimachte. Aber hier liegt durchaus nicht nur Übertragung aus Missverständnis vor, manchmal ist sie tief berechtigt. Bei Kunstblüten ist häufig wirklich schwer zu entscheiden, wem das größere Verdienst gebührt, dem Kunstschöpfer oder dem verstehenden und richtunggebenden Mäzenaten. Und allgemein kann, je tiefer Forschung in das verschränkte Gewirr von Ursachen und Wirkungen eindringt, desto häufiger nachgewiesen werden, dass Menschen, welche eigentlich nur da waren und gar nichts erweislich Bedeutendes taten, die nachhaltigsten Wirkungen auslösten. In diesem Sinne hat ein deutscher Gelehrter sogar den Nachweis zu erbringen unternommen — und nicht ganz ohne Erfolg —, dass keines der berühmten Worte großer Männer, welche, wie überliefert wird, Entscheidendes eingeleitet haben sollen, je so gesprochen worden ist. Tatsächlich haben die von der Geschichte als mächtigst erwiesenen Geister selten viel getan. So haben sie z. B. selten selber geschrieben. Entweder sie wirkten spermatisch (über welche Wirkungsart Näheres in Geisteskindschaft [Wiedergeburt] und Jesus der Magier [Menschen als Sinnbilder] stand, einiges Weitere in den Kapiteln Bernard Shaw und Schule der Weisheit der Reise durch die Zeit stehen wird), oder gleich Sokrates als Hebammen, oder als Polarisatoren (siehe das betreffende Kapitel im Buch vom persönlichen Leben) — und das Ergebnis einer Polarisation sieht allemal ganz anders aus als irgendeiner der wirksamen Pole; oder als Katalysatoren — solche wirken bekanntlich nur dadurch, insofern jedoch desto mächtiger, dass ihr Dabeisein die Naturprozesse anders ablaufen lässt, als sie sonst ablaufen würden. In dem Zusammenhang von Erscheinungen, den ich hier absichtlich auf eine niedere Ebene projiziert habe und auf dieser wirklich mit einem banalen chemischen Vorgang als gleichsinnig vergleichen darf, gehört unter anderem auch das Wu-Wei, das unwillkürliche Wirken der großen chinesischen Kaiser, hinein, die Ausstrahlung des Heiligen und der Magnetismus bestimmter Führerpersönlichkeiten, unter deren Einfluss die Menschen zu Einfällen und Handlungen befähigt erscheinen, welche von ihnen allein mit Recht niemand erwartet hätte. Endlich und vor allem aber wirkten die großen Männer, die ich hier meine, als Auslöser und Übertragungsgegenstände von Mythen. Um bestimmte Menschen und um diese allein bilden sich sozusagen zwangsläufig Mythen, und sie sind die eigentlichen Geschichtsbildner.

Solche Menschen werden sogar in unseren scheinbar so nüchternen Tagen, wie absichtlich und grundsätzlich, anders gesehen, als sie empirisch sind. Zunächst bilden sich Anekdoten um sie herum, welche selten dem historischen Tatbestand entsprechen, immer jedoch bedeutsam sind; auf die Dauer wirkt sich aus diesen plus Wunschbildern plus nachweisbaren Tatsachen das Gewebe eines echten Mythos. Vom Mythosträger her ist nun der ganze Zusammenhang, den ich hier schlaglichtartig beleuchte, am vollständigsten zu übersehen. Echte Mythen sind immer wahr, und dies zwar in zwiefacher Hinsicht. Erstens zwingt ein bestimmt geartetes Subjekt und nur ein solches zur Mythenbildung; zweitens projiziert sich das reale Unbewusste der anderen in das Vorbild hinein, und dies zwar aus realer Affinität: so bildet sich gleichzeitig von innen und von außen her eine sonderliche Geistesgestalt, welche dank ihrem doppelten Ursprung von ungeheurer Macht ist; sie vermag sowohl das Subjekt als die anderen sich selber anzugleichen im Sinne dessen, wie Gott den Menschen nach seinem Bild erschaffen haben soll. Was man nun Persönlichkeit heißt, gehört insofern immer der Region des Mythos an, als dieser Begriff, gleich demjenigen des Genies, nie dem Einzelnen an und für sich gilt, sondern in seiner Beziehung zu anderen Menschen, welche er beeinflusst und von denen er seinerseits Einflüsse empfängt. Persönlichkeit ist ein anderes als die persona, die soziale Rolle, welche einer spielt, sie umfasst auch den substantiellen Kern des Menschen als solchen, aber andererseits ist sie ohne Vernichtung ihrer Identität von ihrer Bedeutung für andere nicht loszulösen. Je mächtiger nun der substantielle Geist, welcher hinter und jenseits aller empirischen Manifestationen West, desto mehr erobert und durchdringt er die Gestaltung, desto weniger erscheint dessen Träger durch andere geformt. Aber desto mehr transfiguriert er sie zugleich, und desto mehr sehen, umgekehrt, die anderen unwillkürlich durch den Menschen hindurch, so dass sich ganz große Persönlichkeit, so paradox dies klinge, als solche, wie sie erlebt wird, nie direkt und empirisch erklären noch sogar nachweisen lässt. Nur an ihren Wirkungen ist sie zu erkennen. Der genau gleiche Zusammenhang erscheint im Falle des Kunstwerks, zumal des Meisterwerkes religiöser Malerei, verständlicher, obschon er es nicht wirklich ist. Wissenschaftlich nachzuweisen sind bei ihm äußere Erscheinung, Stoff, Technik, Gegenstand (als Darstellung von diesem oder jenem, was als Gehalt auch dem Intellekte fassbar ist), ästhetische Qualität, Verwandtschaft mit anderen Kunstwerken und Zeitstil. Aber was spricht letztlich aus einem religiösen Meisterwerk heraus? Das einmalige Genie, die Tiefe seines religiösen Erlebens, dessen überpersönlicher Hintergrund, endlich der Glaube des Meisters an sich selbst und dessen Beziehung zu anderem Glauben. Das letztere Moment tritt beim Staatsmann und Volksführer noch deutlicher in Erscheinung. Dieser wächst buchstäblich als Substanz an seiner Aufgabe, deren Erfüllung und Erfülltheit und der Anerkennung ihrer, so wie er andererseits natürlich auch an Widerstand und Widerwärtigkeit wächst. Große Persönlichkeiten und Meisterwerke stellen sonach allemal Verschmolzenheiten von Einzigkeit und Gemeinsamkeit dar.

Letzteres gilt nun vom Menschen, wie von aller Kreatur, in allen Zuständen und Lagen, denn er ist nun einmal keine Monade, sondern eine Beziehung. Was aber der hier betrachtete Zusammenhang besser als irgendein anderer zu verstehen ermöglicht, ist, wie sehr das Selbst der Welt bedarf, um sich zu verwirklichen, schon gar um sich zu erfüllen und zu vollenden. Knüpfen wir von hier aus am Problem dessen, warum nur Persönlichkeit lebendig fortwirkt und nie der noch so reiche und noch so vollkommen ausgebildete abstrakte Geist, wieder an. Auf jene allein kommt eben letztlich alles an. Hinter Gustave Le Bon stand offenbar mehr Substanz als hinter dem geistig so viel bedeutenderen Tarde. Und je mächtiger die Substanz an sich ist, desto geringer erscheint die Rolle, welche die Funktion spielt (als welche jede Sondergabe zu verstehen ist). Im Höchstfall kann jene wirken durch ungenau wiedergegebene Worte und falsche Übersetzungen hindurch: der Fall Jesu und der meisten höchsten Geister des Altertums, von denen wir nur durch Aussagen anderer wissen. Verfügte die fragliche Persönlichkeit über keine eigene Ausdrucksgabe, welche weitreichende Übertragbarkeit ermöglichte, was häufiger vorgekommen zu sein scheint als das Gegenteil, dann wirkte sie von vornherein durch andere hindurch; dann trat der Impuls, welchen sie ausstrahlte, auch von vornherein dem Geist dieser anderen entsprechend umgebildet und umgerichtet in Erscheinung, wie dies der Fall aller Kirchen und Schulen war. Und dennoch hat die Ursubstanz in allen großen Fällen durch allen Gestaltwandel hindurch ihre Identität bewahrt und kann darum immer wieder aus Legierungen losgelöst, von Beimengungen gereinigt oder aus der Verschüttung neu ausgegraben werden. Jesu Sinn, um als Beispiel für alles Vergleichbare die mächtigste Geist-Substanz zu verwenden, die in der abendländischen Überlieferung fortwirkt, hat sich seit nunmehr bald zweitausend Jahren in seinem An sich dermaßen mächtig erwiesen, dass eine schier beliebige Kontaktmöglichkeit mit ihm, wie solche dem Hellseher das psychometrische Objekt, etwa ein getragener Ring, ein Bild, eine Handschriftprobe schafft, den Kontakt tatsächlich herstellt. Auch das Schweigen kann, wie unsere vorhergehende Betrachtung erwies, Substanz-übertragend wirken, sogar das bloße Stillhalten. Was aber nie große lebendige Wirkungen auslöst, ist losgelöster und in diesem bestimmten Verstande abstrakter Geist. Es wirkt eben nie die Funktion, sondern einzig und allein die Substanz. Abstrakter Geist kann nur verwendet werden. Schöpferisch wirkt er dann allein fort, wenn und sofern ein anderer substantieller und konkreter Geist die abstrakten Einsichten usw. seinem Körper angliederte und ihnen damit eine Seele gab. Daher die Berechtigtheit der Gepflogenheit, Fürsten zuzusprechen, was tatsächlich andere leisteten. Daher das Verkanntsein Tardes: was von diesem lebendig fortlebt, lebt unter anderem Namen, auf andere bezogen, insonderheit auf Gustave Le Bon, welcher zwar, wie gesagt, kein großer Mann war, wohl aber eine sehr lebendige Persönlichkeit überhaupt. Gleichsinnig finden wir Bergsons Lebenswichtigstes in den modernen irrationalistischen Bewegungen wieder, in lateinischen Landen zumal in denen, welche von Georges Sorel inspiriert wurden, und im dortigen Neu-Katholizismus. Umgekehrt war Nietzsche als Persönlichkeit wirklich der Prophet, als welchen er sich selber schaute. In ihm wurde das reale Werden einer neuen Zeit zum Wort, und dieses Wort wurde dann wiederum zu Fleisch; ohne dass es sich dank Nietzsche seiner selbst bewusst geworden wäre, hätte jenes Werden in seinem dumpfen Drang in noch so vielen Seelen sehr viel später erst zu neuer Gestaltbildung geführt. Karl Marx aber hat trotz alles ungefügen Gelehrtentums seines Buches so ungeheure Wirkungen auszulösen vermocht, weil in ihm das Wort des Ressentiments der Massen Fleisch wurde. Hier lag der Nachdruck in der Beziehung Ich-Nichtich mehr auf den anderen als auf ihm selbst, wie bei so vielen Staatsmännern, deren Hauptgabe der Sinn für das gerade von Millionen Geforderte war. Besagtes Lebendiges bei Marx hat nicht das Allergeringste mit dem äußerst fragwürdigen Wahrheitsgehalte seiner Lehre zu tun. Die Theorie bedeutete in diesem Falle eben so gut wie nichts im Vergleich zu den ungeheuren Gefühlsballungen, welchen sie ein Ventil schuf.

Von hier aus nun leuchtet ein Weiteres ein: warum und inwiefern Persönlichkeiten starken Glaubens, die eben dadurch zu Brennpunkten des Glaubens anderer werden, zu aller Zeit die gewaltigsten Wirkungen ausgelöst haben, und dies zwar allemal unabhängig vom Wahrheitsgehalte ihrer Lehren: die Gesinnung jener ist es, welche im Medium gläubigen Bekenntnisses zu ihr immer wieder neu geboren wird. Beim Christentum war dies die durch Jesus erstmalig als Grundwert betonte Phantasie des Herzens (s. das Kapitel Leiden des Buchs vom persönlichen Leben). Jesu Anforderung an den Gana-überwindenden Geist war offenbar zu hoch; darum ist die Welt nie wirklich christlich geworden und entchristlicht sie sich, seitdem gewisse abschreckende Dogmen Mehrheiten zweifelhaft geworden sind, so leicht und so schnell. Demgegenüber rührt die beispiellose und heute noch gegenüber seiner Gründungszeit kaum vermindert starke Wirkung und Werbekraft des Islam daher, dass Mohammeds Menschlichkeitsforderung erfüllbar ist. Er verlangte nicht Feindesliebe, sondern Kameradschaftlichkeit unter Gesinnungsgenossen, keine Verleugnung des Ich, sondern Barmherzigkeit, nicht Mitleid, sondern amor fati unter der Voraussetzung, dass alle Gläubigen gleichermaßen dem Gesetze eines gerechten und die Würde der Persönlichkeit achtenden Gottes unterworfen sind. Darum hat der Islam phantastisch viele Seelen befriedet und leistet er gleiches heute noch. Hierüber gibt es übrigens ein modernes lehrreiches Buch von Erzählungen eines zum Mohammedanertum bekehrten Engländers: Owen Rutter, Triumphant Pilgrimage, Leipzig, Tauchnitz edition.

Die Moral von der ganzen Geschichte, welcher sich auch der anpassen können sollte, so wie man sich guten Sitten anpasst, der sie nicht ganz versteht, ist demnach die folgende: nicht allein auf politischem, auch auf geistigem Gebiet kommt auf die Imponderabilien, um ein Lieblingswort Bismarcks zu benutzen, alles an. Hier gilt nicht der auf bekannte Schülerweise verdrehte Satz der Lateinstunde: Was man nicht definieren (statt deklinieren) kann, das sieht man als erwiesen (anstatt ein Neutrum) an, sondern der andere: Nur das Undefinierbare verkörpert wirkliche Macht, nur das Unfassbare greift weit aus; nur das Inartikulierte in seiner schöpferischen Indifferenz ist unbegrenzter Artikulierung fähig, nur was selbst nicht festgelegt und auch nicht festzulegen ist, kann neue Lagen schaffen. Drum prüfe ein jeder wohl, welchen Ursprungs und welcher Art die Einflüsse sind, welche ihn tief ergreifen und bewegen. Es sind niemals die intellektuell erweislichen. Unter gar keinen Umständen sind es klare, ja überhaupt nur bestimmte Theorien. Solche verkörpern genau nur insoweit geistige Macht, als sie für einen bestimmten Seelenzustand repräsentativ sind. Nur sehr wenige Menschen werden von Ideen und Gedanken überhaupt persönlich bewegt. Aber eine schier beliebige Theorie kann unter besonderen Umständen zum Ausfallstor und Ausdrucksmittel der Zuständlichkeiten werden, deren Folge in Harmonie und Kontrapunkt das historische Geschehen ausmacht. Diese Änderung der Zuständlichkeiten fasste Hegel als dialektischen Prozess, fasst die moderne Tiefenpsychologie als Logik des kollektiven Unbewussten auf. Beider Deutungen sind nicht glücklich. Was hier zutiefst entscheidet, sind die Strebungen und Sehnsüchte des Selbstes nach Verwirklichung; der Oberfläche näher belegen sind die Zeitgeister, an welchen jeder teilhat und die darum jeden als Teil einer Gruppe mitbewegen. Aus der Mechanik oder Energetik der Seele folgt nie Bestimmtes und auch das Allgemeine nie mit Notwendigkeit, weil ein Oberhalb ihrer allemal dem mechanischen und energetischen Ablauf einen konkreten Inhalt und besonderen Sinn gibt. Dem aus vielen Bestandteilen zusammengesetzten, als solchen überhaupt nicht rationalisierbaren Gesamtzustand einer Zeit oder eines bestimmten Volkes entsprechen bestimmte Theorien mehr oder weniger, und diese sind dann Vertretungen oder Stellvertretungen oder einfach Sinnbilder des Eigentlichen. Wird eine Lehre mit Recht auf einen bestimmten großen substantiellen Geist bezogen, dann ist es dessen Substanz, welche in Wahrheit wirkt, und gar nicht die Lehre. Der Grund der Wirkung kann aber auch beinahe ganz in den Bekennern liegen. Ein russischer Betrachter von großem Tiefsinn schrieb in den dreißiger Jahren, kein primitiver Asiate könne den Lehren des Bolschewismus widerstehen. Warum nicht? Weil deren Simplismus dem ganzen Ressentiment, der ganzen Frage nach dem Warum, der ganzen Sehnsucht nach einem besseren Leben auf Erden, der ganzen chiliastischen Hoffnung jahrtausendelang unterdrückter Schichten und Völker schlagzeilenartigen und darum rein symbolischen Ausdruck verleiht. Auch hier ist die allgemeine Gesinnung und nicht der bestimmte Gedanke die eigentliche Macht. Genau so aber, wie jeder prüfen sollte, welchen Ursprungs und welcher Art die Kräfte und Einflüsse sind, welche ihn tief ergreifen und bewegen, um aus seiner Bewegtheit und Ergriffenheit diese oder jene Konsequenz zu ziehen — bis dass wir uns entschieden haben, sind wir frei, erst die getroffene Entscheidung schafft unabänderliches Schicksal —, genau so, nein sehr viel sorgfältiger noch sollte ein jeder prüfen, welches die eigene Substanz ist, die sich mittels gegebener oder nicht gegebener Funktionen äußert oder äußern möchte. Denn der Mensch ist nur diese Substanz, und von deren richtiger und rechtzeitiger Erkenntnis hängt der Erfolg seines Strebens nach Selbstverwirklichung ab. Indem er sich aber also prüft, sollte ein jeder als von seinem obersten’ Axiome davon ausgehen, dass es auf seine derzeitigen Meinungen und abstrakten Gedanken am wenigsten ankommt. Alle Menschen missverstehen sich selbst einen Teil ihres Lebens, und sehr viele tun es ihr ganzes Leben lang. Letztere Gefahr laufen aber am meisten die, welche sich in Theorien festbeißen.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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