Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

10. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1925

Bücherschau · Nikolai Arseniew · Karl Barth · Max Scheler

Es werden gewiss viele unserer Mitglieder und Freunde die Notwendigkeit des Rhythmus, die auf unserer letzten Tagung von Dahlke zu Baeck (Tod und Wiedergeburt) und Arseniew führte, auch in persönlichem Studium nacherleben wollen. Deshalb schließe ich den Betrachtungen über Dahlke einen kurzen Hinweis an über die beste mir bekannte neuere religionsphilosophische und religiöse Literatur. Über Baecks wichtigstes Buch schrieb ich bereits in einem früheren Heft. Von Arseniew ist neuerdings eine Arbeit Ostkirche und Mystik (I. Vom Geist der morgenländischen Kirche, II. Verklärung der Welt und des Lebens in der christlichen Mystik), München 1925, Ernst Reinhardt Verlag, erschienen, welche ich allen denen warm empfehle, die sich in die herrlich-lyrische Tiefe des griechischen Christentums versenken wollen. Und nicht nur diese: auch in die Tiefe metaphysischer Erkenntnis (γνωςις), welche im Christentum des Ostens solange fortlebte, als die Tradition antikmetaphysischen Verstehens dort noch lebendig war. In dieser Hinsicht bezeichnet nämlich die seitherige Entwicklung keinen Fortschritt, sondern einen Rückschritt; die tiefsten Einsichten wurden, wie ja naturgemäß, in der zeitlichen Nähe des Urquells, sofern dieser metaphysisch begabte Geister speiste, gewonnen, und wenn aller religiöser Fortschritt seither von solchen kam, welche persönlich von geringerer Einsichtstiefe ausgingen, so liegt dies daran, dass die ursprünglichen Einsichten für die folgenden Geschlechter zu tief waren und das Leben deshalb nicht mehr beeinflussten; dies ist der wesentliche Grund der frühen Erstarrung des christlichen Ostens sowie der Tatsache, dass das griechische Christentum, wie ich im Russischen Christen (München, Drei-Masken-Verlag) gezeigt habe, seine ganze Tiefe seither nur mehr in der herausgestellten Liturgie und, nur ganz selten, in der Gestalt begnadeter Heiliger, in der Formung des Lebens offenbart hat. Aber es sollte mich sehr wundern, wenn das künftige, vollendete Christentum dem Urquell nicht wieder nahekommen sollte. Denn ebenso wie das An sich des metaphysisch Wirklichen ein Ungeschichtliches ist, so liegt die Vollendung historischer Verwirklichung metaphysischen Sinnes wiederum im A-Historischen, inwiefern das Geschichtsfremde des griechischen Christentums die Erfüllung vorweggenommen hat.

Was nun das Gotteserlebnis, als das unmittelbare Erleben des Eingreifens eines übernatürlichen, betrifft, so wüßte ich kein lehrreicheres Werk über dies Problem zu nennen, als das neueste von Karl Barth Das Wort Gottes und die Theologie (München, Chr. Kaiser Verlag). Hier begegnet einem, in modernem Gewand, die extremst-denkbare Grenzbestimmung zwischen Gott und Mensch, Natur und Gnade, nämlich die, deren typische Fassung wir Calvin verdanken. Viele haben nicht verstanden, was ich in meinem Tagungsschlussvortrag mit dem Subjektwechsel, welcher möglicherweise in der transsubjektiven Reihe der persönlichen Lebensmelodie letztendlich stattfindet, meinte: ich bezog mich dabei innerlich eben auf die u. a. von Barth vertretene Auffassung, dass im religiösen Erleben Gott, nicht der Mensch, das Subjekt sei. Hierüber möchte ich zur Zeit nicht mehr sagen. Wer für sich im Verständnis dieses schwersten aller Grenzprobleme weiterkommen will, der studiere eben Barth; er wird mehr, wenn nicht von ihm, so doch an ihm lernen, als etwa von allen katholischen Gnadenlehren, weil keiner von deren Vertretern aus sich selbst allein heraus redet und deshalb unmöglich gleich stark das Wesen eines nicht von Hause aus Gläubigen treffen kann, wie ein aus persönlicher Erkenntnis überzeugter. Vielleicht muss ich hier hinzufügen, dass ich mich persönlich nicht zur Auffassung Barths bekennen kann, aber dass mich die Polarisierung mit seiner Echtheit desto mehr gefördert hat. — Hinsichtlich des Wiedergeburtserlebnisses oder des Erlebens des Werdens des Gottesreichs im Menschen kenne ich heute nur einen, der aus normal gewordener Erfahrung von ihm reden darf: dies ist Johannes Müller von Schloss Elmau. Dieser ist unbedingt echt, ihm ist das Dritte Reich, von dem er kündet, unmittelbare Wirklichkeit. Leider nur ward ihm das Verhängnis zuteil, dass die Natur ihm keine adäquaten Ausdrucksmittel schenkte. Müller ist in seinem Wesen nicht nur primitiv, sondern primordial; er gehört menschlicher Urzeit an und muss deshalb natürlich alle geistige Gestaltung, welche Urerleben verdeckt oder unmöglich macht, als Unwesen verdammen — denn ihm kann sich die Frage nicht stellen, das Unwesen zum Ausdruck des Wesens zu machen, was das eigentliche Problem aller heutigen Menschen ist. Nun muss er sich aber doch auf moderne Weise mit modernen Mitteln ausdrücken, und als intensiv lebender Mensch auch zu Zeitfragen, ja gerade zu diesen, Stellung nehmen. Hieraus ergibt sich denn zwangsläufig eine Diskrepanz, welche in Anbetracht von Müllers Echtheit tragisch wirkt. Sein Stil ist trivial, was er schreibt meist ohne jede lebendige Kraft. Und jeder seiner Versuche, die Zeit anders zu beeinflussen als durch das Beispiel eines echten Menschen aus anderer Zeit, der gerade durch seine Fremdartigkeit fruchtbar polarisierend wirkt, muss für die Dauer scheitern. So kenne ich nichts Geschriebenes von ihm — und er hat sehr, sehr viel geschrieben — mit der einzigen Ausnahme der Bergpredigt (C. H. Beck), welche ein seltenes Beispiel von Sinneserfassung in unserem Sinne bedeutet, unter Büchern, sowie des letzten Heftes seiner Grünen Blätter, betitelt Der Weg in das Reich Gottes, welches ich zitieren und zur Lektüre empfehlen könnte. Aber der Mensch Müller ist einzig, gerade der Mensch an sich, nicht der Vortragende, obgleich auch viele seiner Vorträge bedeutende Taten sind. Deshalb hat er so sehr recht getan, seine Hauptbedeutung in seinem unwillkürlichen Wirken, dem chinesischen Wu Wei, zu sehen und sich dementsprechend den herrlichen Rahmen von Schloss Elmau zu schaffen, wo er persönlich jedermann zugänglich ist. Man lasse sich ja nicht durch den Betrieb daselbst beirren. Betrieb ist erstens unvermeidlich an sich, wo überhaupt eine äußere Organisation geschaffen wird, zweitens muss er bei Müller besonders stark in die Erscheinung treten, weil er eine ausgesprochene Organisationsbegabung besitzt und diese zwangsläufig mehr in die Erscheinung tritt als das stille Wirken seiner tiefen und wissenden Seele. Hier hemmt seine praktische Begabung sein Tiefstes ebensosehr, wie den Denker und Schriftsteller seine Primordialität. Dieses sollte man ein für allemal verstehen — und dann zur Tagesordnung übergehen. Diese aber wäre im Falle Müllers möglichst viel vom lebendigen Menschen zu empfangen, der als einziger zum mindesten unter Deutschen tatsächlich das Recht zum Bekenntnis des Wissens vom Ich-Tode, der Wiedergeburt und des Dritten Reichs hat. Ich hoffe, dass die, welche diese Zeilen lesen, fortan in anderer Einstellung nach Schloss Elmau pilgern werden, als es viele — leider — bisher taten. Jeder sage sich: wenn ich dort von Johannes Müller nichts habe, so liegt dies nicht an ihm und nicht am Schloss, sondern einzig an mir selbst. Man ist immer allein schuld, wenn man Enttäuschungen erlebt.

Von den Offenbarungen der Okkultisten will ich hier nicht reden. Auch unter diesen sind manche echt, so z. B. wohl Bô Yin Râ, dessen bedenklich Scheinendes zum großen Teil gleichfalls von Primitivität herrührt. Aber wer mit Jenseits-Tatsachen kommt, kann nie unmittelbares Erleben, sondern höchstens Glauben schaffen; dies ist die methodisch notwendige Folge seiner Einstellung. Und nur mit unmittelbaren Erleben durchs Verstehen hindurch hat die Schule der Weisheit es zu tun. So will ich zum Schluss dieses Abschnittes lieber auf den Denker hinweisen, der unter Modernen wohl die meisten Anregungen gibt: nämlich Max Scheler. Dieser ist ein außerordentlich reicher Geist, unter Philosophen sogar einer der reichsten aller Zeiten. Ich verglich neulich Kant mit Bach: soweit solche Analogien gelten, lässt sich Max Scheler füglich mit Franz Liszt vergleichen. Diesem fiel vor allem sehr viel ein; er war viel erfindungsreicher als Richard Wagner, und zwar in einem tieferen Verstande als etwa Verdi, denn seine Einfälle betrafen vielfach Grundmotive. Nun, gerade in diesem Sinne ist auch Scheler wunderbar einfallsreich. Er hat schon sehr viel geschrieben, auch nicht annähernd alles davon gedruckt, und kommt er je zum Abschluss, oder lebt er lange genug, so wird man über die Masse seiner Leistung staunen. Mit seine wertvollsten Gedanken betreffen nun gerade das religiöse Problem, weshalb ich in diesem Zusammenhang jedermann empfehle, die betreffenden Abhandlungen in den Sammelbänden Vom Ewigen im Menschen und Vom Umsturz der Werte (Leipzig, Der neue Geist-Verlag) zu lesen. Nur darf niemand unter falschen Voraussetzungen an diese Bücher herangehen, keinesfalls unter der, die für Karl Barth und Johannes Müller zutrifft. Scheler fallen seine Einsichten nur ein, während jene die, welche sie haben, als persönlichen Glauben vertreten. Hierin liegt nun die Schwäche, die er übrigens wieder mit dem Komponisten Liszt gemein hat, dass er als Persönlichkeit nicht überzeugt, sondern allein als ungewöhnlich begabter Geist. Diese Schwäche teilt er freilich mit fast allen Philosophen. Aber wenn bei diesen keiner erwartet, dass sie mehr als Theoretiker sein könnten, so stellt auch keiner die Frage persönlicher Überzeugungskraft. Scheler nun ist mehr als Theoretiker, dieses mehr wirkt aber, weil es nicht genügt, als ein weniger. Denn je mehr einer hat, desto mehr wird instinktiv von ihm verlangt. Scheler ist als Natur ein Literat, der zwischen den Polen naiver Lebenslust und reflektierter Askese dauernd hin, und herschwankt. Seine Grenzzustände, die er jedoch nie erreicht, sind die des Künstlers und des Gläubigen. Immerhin kommt er beiden so nahe, dass er einerseits lebendiger schreibt, wie die meisten Gelehrten, und das Wesen des Religiösen tiefer erfasst, als irgendein Theoretiker vermöchte. Vom Gläubigen in ihm rührt es wohl auch her, dass sein Stil bisweilen eigentümlich scholastisch anmutet. Sicher wäre er in der Renaissance-Zeit, im mediceischen Florenz etwa, besser in seinem Element gewesen als heute, gar als ordentlicher Professor; er hätte dann auch eher seine eigenste Form gefunden — denn die des beamteten Wissenschaftlers ist die seine nicht. Aber vielleicht ist es gerade dieses Unzulängliche gemäß Goethes weisem Wort, das Scheler so produktiv macht. So ist er jedenfalls der größte lebende metaphysische Anreger innerhalb der Zunft. Und wer diese Zusammenhänge Übersieht, der wird Scheler auch nicht den Vorwurf der Unechtheit machen, den man so häufig hört. Gewiss, echt im Darmstädter Sinne, dem vollendeter Korrespondenz zwischen Person und Sache, ist Scheler nicht. Dies aber mehr aus äußeren als aus inneren Gründen. Seiner Natur entspricht weder der Rahmen, in dem er leben muss — wie wenige sind so glücklich, sich den ihnen gemäßen wählen oder schaffen zu können! — noch auch das Gelehrtentum im weitesten Verstand, zu dem er sich bekennt. Er ist insofern ein Unglücklicher. — Aber vielleicht findet er noch einmal die Form, welche ihm ganz entspricht. Die einzige Vorbedingung dazu ist ja, bei seiner hohen Begabung, eine allerdings ungewöhnliche, aber ihm wohl zuzumutende Dosis von moralischem Mut.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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