Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

10. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1925

Bücherschau · Friedrich Gundolf · Caesar

Stefan George ist groß, und Gundolf ist sein Prophet. Ich wüßte wenig allgemein-Lehrreicheres in der Gegenwart, als das Verhältnis dieser zwei Geister zueinander. Bot Mrs. Baker-Eddy, deren Lebensgeschichte jeder psychologisch Interessierte oder auf Wirkung Bedachte vor allen anderen studieren sollte, das großartigste Beispiel dessen, wie sich wesentlich Wahres, ob in noch so verballhornter Gestalt (denn wenn die Christian Science Erfolge hat, so liegt dies eben an ihrer immanenten Wahrheit), trotz unmittelbarer Minderwertigkeit seines Vertreters, sofern dieser nur den erforderlichen Willen hat, durchsetzt, so illustriert das gegenseitige Verhältnis von George und Gundolf, wie nichts anderes, das wahre Wesen der Polarisation. Ohne Gundolf, der ihn als Sinnbild persönlich erlebte, wäre George für keinen weiteren Kreis zum Gott geworden und insofern machtlos geblieben; ohne George hätte Gundolf der Halt gefehlt, um sein Eigenes überzeugt zu vertreten. Nicht anders stand es mit Allah und Mohammed. Woraus denn allgemein folgt: bei lebendigen Beziehungen zwischen Menschen ist die Beziehung als solche die Hauptsache; auf das empirisch oder sachlich Richtige kommt es am wenigsten an.

Durch George — oder vielleicht ist dieser auch nur eine spätere Inkarnation von jeher wirkender Numenalität? — hat Gundolf, ein Confessor redivivus antiken Heroenkults, ein besonderes religiöses Verhältnis zum großen Menschen an sich gewonnen; und deren größter ist ihm Caesar. Ich habe nun besonders viel dadurch gelernt, dass ich Gundolfs Cäsar (Georg Bondi, Berlin) beinahe unmittelbar nach Eduard Meyers Cäsars Monarchie (Stuttgart, Cotta) las; denn deutlicher habe ich die Unwichtigkeit genauer Übereinstimmung zwischen sinnbildlicher und sachlicher Wahrheit selten zum Ausdruck gebracht gesehen. Wahrscheinlich hat Meyer, welcher Cäsar eines großen Teils seines mythischen Nimbus entkleidet, unter anderem indem er beweist, dass das spätere Kaiserreich eine Verwirklichung von Pompejus und nicht von Cäsars Absichten bedeutete, inwiefern dessen Karriere eine bloße Episode bedeutete, sachlich recht. Aber an Gundolfs Darlegung der Wirkung von Cäsars Bild durch die Jahrhunderte hindurch erkennt man besonders klar, wie wenig es in der Geschichte auf sachliche Wahrheit ankommt, denn nur Sinnbilder wirken im Großen. Man gewinnt ferner in die Gesetze der Mythenbildung einen tiefen Einblick. Gundolf irrt nicht, wenn er sagt, dass Cäsars persönlicher Genius in der Geschichte triumphiert hat, sofern er diesen von der Person wohl unterscheidet: es ist die besondere cäsarische oder imperiale Einstellung, die er verkörperte, oder anders gesagt: das Vorbild eines vor ihm ungeahnten Überlegenheitsniveaus, an dem sich aller Herrschaftstraum seither polarisiert hat. Und da die Niveaufrage schlechthin entscheidet, so ist auch klar, inwiefern der Mythos immer wahrer spricht als die Tatsächlichkeit: er zeigt jenes gereinigt von aller Zufälligkeit, die ihm nicht wesentlich entspricht.

Gundolfs Bedeutung in dieser Zeit beruht auf seiner besonderen Fähigkeit, Mythen historisch zu fundieren. Im übrigen sind seine Bücher von verschiedenem Werte je nachdem, inwieweit sein besonderer Blickpunkt, der auf der Verabsolutierung des Wertbezugszentrums George beruht, dem gewählten Thema entspricht. Insofern sind seine Bücher über George selbst und das über Shakespeare und den deutschen Geist seine weitaus besten — letzteres deshalb, weil es, vom Dasein des großen Menschen ausgehend, das Hauptgewicht auf das Problem der Sprachschöpfung legt, worin ja Georges größte Bedeutung liegt. Aus dem gleichen Grunde ist Gundolfs Goethe-Buch sein schlechtestes, weil sich von seinem Aussichtspunkte aus Goethes Größe nur dunkel, oder aber in Verzerrung zeigt. Von seinem Cäsar-Buche möchte ich sagen, dass es sehr viel besser hätte werden können, als es geworden ist, denn an und für sich muss Cäsar Gundolf ganz besonders liegen: in der Periode, in welcher er es schrieb, hat der Literarhistoriker in ihm zu sehr das Übergewicht gehabt. Gundolf hätte hier mehr von Cäsars Größe selbst als von seiner Spiegelung in anderen, als literarischem Ansatz auch im Einzelnen, ausgehen sollen. Immerhin empfehle ich sein Cäsar-Buch gerade denen zu lesen, welche Gefallen am vorherbesprochenen Werke Zieglers fanden: es bedeutet nämlich, der Intention nach, dessen Gegenpol. Es verherrlicht implizite die romanische Form genau so überzeugend, wie Ziegler germanische Bewegtheit. Nun machen beide zusammen erst das aus, was man Europa heißt. Wer nicht beides wenigstens als Vorbild in sich trägt, ist nicht Europäer, jedenfalls kein Europäer der Zukunft. Und vor allem kann kein Deutscher Menschheitsbedeutung gewinnen, der sich nicht, so oder anders, am Romanischen polarisierte. Als ursprüngliche Bewegung und folglich Nicht-Gestalt braucht er neben seinem Eigensten ein Bezugszentrum außer sich, um seine Vollendung zu finden, welche dann freilich zur weitesten wird, deren ein Europäer fähig ist. So strebte Germanien von jeher nach des Südens Sonne; so erschien es am größten, als es mit Rom in historischer Spannung stand. Daher erschuf es das klassische Ideal. Eben deshalb steht Deutschland seither zu Frankreich in schicksalhafter Spannung. Eben deshalb sehe ich in deren Steigerung, welche der Weltkrieg schuf, sofern sie zu keinen neuen Explosionen führt, Europas beste Zukunftsgewähr. Diese Gedanken kann ich hier nicht näher ausführen. Wer sie für sich durchdenken will, dem empfehle ich zunächst als bisher knappste und gedankenschärfste Fassung des Problems die Betrachtungen eines Römlings des Freiherrn Otto von Taube in der Festschrift für Anton Kippenberg Navigare necesse est (Insel-Verlag): sie bedeuten in mancher Hinsicht geradezu die Prolegomena zu jeder künftigen deutschen Geschichtsphilosophie.1

1 Als Erläuterung sei hier gleichzeitig auf Hugo Balls Folgen der Reformation (München 1924, Duncker & Humblot) hingewiesen, denn dieses Buch bestimmt deren nachteilige Folgen im Sinn der geistigen Isolierung Deutschlands und seines Heraustretens aus der humanistischen Gesamtbewegung Europas mit kaum zu übertreffender Schärfe und Schonungslosigkeit. Leider ist der Geist, in dem dies geschieht, kein gerechter, überlegener und gütiger, sondern der eines verbissenen Ressentiments, weshalb nicht allein sehr viele Einzelurteile verfehlt sind, sondern das ganze gehässig und häßlich wirkt. Offenbar meint Ball in hohem Maße sich selbst, wo er Deutschland zu erniedrigen sucht. Denn wenn man den schönen Geist bedenkt, in dem sein Byzantinisches Christentum geschrieben ist, so erschrickt man geradezu über den Zwiespalt der zwei Seelen, welche in Balls Brust zusammenwohnen müssen.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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