Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

11. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1926

Körper, Geist und Heilkunst

Im folgenden gebe ich in skizzenhafter Form die Hauptgedanken eines Vortrags wieder, den ich im verflossenen August in Bad Kissingen hielt.

Drei Kausalreihen interferieren in allem Menschenleben, dreier Koordinaten bedarf es in jedem Fall zur Bestimmung eines bestimmten Lebenszustands: es sind dies die der kosmischen Einflüsse (des Milieus im weitesten Verstand), der Vererbung und des autonomen Geists. Alles Leben bedeutet einerseits ein In-bezug-auf-die-Außenwelt; ständiges Reagieren, Sich-Anpassen bezeichnet insofern sein Wesen. Andererseits aber ist es ein ständiges Beleben des Toten von innen heraus. Jeder Typus, jede Gestalt, jede Entelechie, jede Kultur als solche lebt aus eigenem Recht. Der Außenwelt gegenüber bedeutet die Vererbung einen völlig selbständigen Faktor. Wiederum als ein Selbständiges nun fungiert, wo vorhanden, der schöpferische Geist. Und dessen Bedeutung im Zusammenhang nimmt schneller zu, als seinem eigenen Wachstum entspricht, weil seine Schöpfungen, einmal herausgestellt, ihrerseits zu kosmischen Einflüssen gerinnen; denn recht eigentlich um solche handelt es sich bei dem, was unter psychischer Atmosphäre, geistigem Milieu und Zeitgeist verstanden wird. Der psychische Organismus reagiert auf Ideen nicht weniger und nicht anders, wie auf Chemikalien der Protist.

Wie verhalten sich nun Körperliches und Geistiges zueinander? So leicht im bestimmten Fall zwischen beiden zu scheiden sei, ein prinzipielles Scheiden ist unmöglich; insofern sind alle bisherigen Fragestellungen falsch. Alle als Tatsache erfahrbare Wirklichkeit ist Erscheinung; dies gilt von Begriffen und Ideen genau so wie von physischen Körpern. Nicht Erscheinendes, und doch zweifellos irgendwie Seiendes, gibt es einzig in der Region des Sinns. Man gedenke des Urbeispiels der Schule der Weisheit, des Verhältnisses der Bedeutung eines Gedankens zu den Buchstaben, die ihn im Bereich der Erscheinung ausdrücken. Innerhalb dieser nun ist eine sichere Grenze zwischen Körperlichem und Geistigem nicht zu ziehen. Alle Lebenserscheinung ist sinnvoll; ein physisches Organ ist genau so nur aus seiner Bedeutung zu begreifen wie ein philosophischer Satz. Eine, prinzipielle Grenze zwischen Körper und Geist wäre lediglich dann zu ziehen, wenn man diesen mit Verstand und Bewusstsein identifizieren dürfte. Doch das geht nicht an. Der verstandlose Körper ist meistens weiser als der Intellekt, und die meisten und wichtigsten Geistesprozesse verlaufen unbewusst. Hieraus ergibt sich denn die Notwendigkeit einer anderen Fragestellung. Man darf prinzipiell überhaupt nicht zwischen Körperlichem und Geistigem scheiden, sondern nur zwischen Sinn und Ausdruck. Je mehr der Sinn als solcher bewusst und gemeint wird, desto geistiger ist ein Wesen im üblichen Verstand. Aber die traditionelle Scheidung zwischen Geist und Körper ist, noch einmal, falsch. Insofern es sinnvoll ist, ist alles Körperliche geistig; insofern es erscheint, ist alles Geistige materiell. Und weiter: insofern der festgefahrene Ausdruck dominiert, herrscht das Gesetz der Materie, die Trägheit; insofern die Initiative, das Grundattribut des schöpferischen Sinns, der freie Geist. Woraus sich denn ergibt, dass zwischen Naturordnung und geistiger Routine kein prinzipieller Unterschied besteht. Wer nach Schema F arbeitet, ist genau so ungeistig, wie ein Chemikal. Nur der, bei dem der Nachdruck auf der Freiheit liegt, ist ein geistiges Wesen. Aber auch hier gibt es keinen Unterschied zwischen Körper und Geist im üblichen Sinn. Bei Tieren hat der Körper soviel freie Phantasie, wie unter Menschen nur der produktivste Geist; man denke an die Verfärbungsgabe des Tintenfischs, die Regenerationskraft von Seestern und Molch. Gleich viel Phantasie hat der Mensch normalerweise nur als Geist. Aber auch er kann sich nur vermittels der Naturroutine ausdrücken. Auch er ist überall an die Gesetze der Materie gebunden. So mag sich der Mensch als Geistwesen noch so autonom fühlen: von den beiden anderen Koordinaten des Menschenwesens, den kosmischen Einflüssen und dem vererbten Blut ist keiner unabhängig.

Von hier aus ist der tiefste Sinn aller Heilkunst eindeutig zu bestimmen. Diese hat es nicht mit abstrakten Krankheiten zu tun, sondern dem lebendigen Menschen, dessen Leben sie erhalten, heilen, höherbilden will. Deshalb muss sie überall, in schlechthin jedem Fall, mit den drei Koordinaten alles Menschenlebens zusammenarbeiten. Ihr sicherstes Mittel sind die kosmischen Einflüsse, weil diese einerseits die stärksten sind — alles Leben existiert zunächst in bezug auf die physische Außenwelt — andererseits die, welche sich am leichtesten handhaben lassen. Klimatische Einflüsse, Wasserkuren, Medikamente sind willkürlich anwend- und dosierbar. Daher wird die somatische Medizin für alle Zeit den Vorzug behalten. Aber sie wirkt andererseits nur bei entsprechender Berücksichtigung des zweiten Faktors, der generellen und individuellen Lebensformel. Der dritte Faktor nimmt wiederum an Bedeutung zu, je mehr das Psychische bestimmt. Dies gilt von Naturvölkern und Kindern einerseits, andererseits von höchstentwickelten Kulturvölkern und geistigen Persönlichkeiten. Dies erklärt, warum der moderne Westen immer mehr auf psychische Heilmethoden schwört. Der berufene Arzt ist nun der, welcher das jeweils gültige Verhältnis der drei Kausalreihen oder Koordinaten erkennt und seine Behandlung danach richtet. Beim einen wirken physische Mittel am besten, und zwar entweder in großer oder kleiner Dosis verwandt; beim anderen psychische. Immer entscheidet der besondere Schnittpunkt der drei Koordinaten, d. h. das besondere jeweilige Zentrum des lebendigen Sinneszusammenhangs. Deshalb bedeuten die gleichen Symptome, ja die gleichen Krankheitsbilder in zwei verschiedenen Fällen grundsätzlich nie Gleiches. Es kann aber auch nicht jeder Arzt jeden Kranken heilen. Warum? Weil er als solcher schon, unabhängig von der Behandlungsmethode, den dritten Faktor verkörpert, der alles Leben bestimmt: die Initiative des Geists. Jede Initiative nützt nicht jedem. Von hier aus aber gelangen wir nunmehr zum Grundbegriff der ärztlichen Kunst überhaupt: diese besteht darin, durch geistige Initiative jeweils das Gleichgewicht zwischen den drei Faktoren zu verändern und dadurch einen krankhaften Zustand zu zerstören. Wie der Arzt dies erreicht, ob mit physischen Mitteln, guten Worten oder die katalytische Wirkung schweigenden Abwartens, ist einerlei. Und hieraus ergibt sich weiter, warum Ärzte unersetzlich sind: solche Veränderungen kann nur der andere einleiten, genau wie das Kind nur durch die polare Zusammenarbeit zweier zustande kommt. Die neueste Methode der Autosuggestion widerlegt diese Behauptung nicht: bei dieser wirkt einfach das eigene Bewusstsein gegenüber dem Unbewussten als der andere.

Der eigentliche Zweck dieser Betrachtungen ist aber kein medizinischer, sondern ein prinzipieller. Deshalb kehre ich zur Feststellung der Falschheit der üblichen Scheidung zwischen Körper und Geist am Schluss zurück. Aus unseren Betrachtungen ergibt sich, über das Bereich möglicher Heilkunst hinaus, ein Zwiefaches: erstens die Falschheit jeder Auffassung, dass das Geistige, abgesehen vom Körperlichen, zu pflegen sei; also die Verfehltheit jedes Idealismus, jeder Weltanschauung der bloßen und reinen Innerlichkeit. Aber ebenso die Falschheit jeder materialistischen Weltauffassung. Der Materialist versteht gerade das Körperliche nicht. Deshalb ist jeder Arzt recht eigentlich ein Schädling, der nicht zugleich ein Seelsorger ist. Woraus denn letztlich folgt: auch über den Wert des Arztes entscheidet letztinstanzlich der Menschenwert. Das Sein entscheidet über den Wert des Könnens. Der Fachmann, der an sein Fachkönnen als das letztlich Wesentliche glaubt, ist insofern der schlimmste aller Stümper1.

1 Im Augenblick der Drucklegung dieses Aufsatzes erhalte ich vom Koblenzer Arzt Fritz Mohr, der mir von vielen Seiten als einer der besten und verantwortungsvollsten Analytiker empfohlen worden war, dessen monumentales Werk Psychophysische Behandlungsmethoden (Verlag S. Hirzel, Leipzig). Soweit ich nach flüchtiger Lektüre urteilen kann, handelt es sich hierbei um das Werk, das von allen bisher erschienenen am sichersten und konsequentesten von dem in diesem Aufsatz für den Arzt als Ansatzpunkt geforderten Jenseits von Körper und Geist ausgeht. — Zugleich erhalte ich Arthur Kronfelds Psychotherapie (2. Aufl., Berlin 1925, Julius Springer). Von allen mir bekannten Büchern über dieses Gebiet hat das Kronfeldsche drei Vorzüge voraus: es ist in seiner Einstellung von Theorien am unabhängigsten, am reinsten auf die praktische Heilaufgabe des Arztes zugespitzt und zugleich am klarsten in der intellektuellen Durchleuchtung der Probleme. Dem medizinischen Studenten und dem Arzt möchte ich dieses Buch deshalb als psychotherapeutischen Leitfaden vor allen anderen empfehlen. Für den Nichtmediziner aber kommt es trotz seiner Qualitäten weniger in Betracht als etwa das oft empfohlene von Beatrice M. Hinkle, weil keine spirituelle oder metaphysisch bewusste Persönlichkeit dahintersteht und folglich ein letztes Wissen vom Wert der Persönlichkeit und dem Ziel ihrer möglichen Höherentwicklung fehlt. Eben deshalb kann es dem Leser, der es nicht schon hat, kein Verständnis der Realität der Seele vermitteln und keinen Antrieb zum Selbstmehrwerden geben.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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