Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Zur Einführung:Die Kultur des sich-leicht-Machens

Pralaya

Dennoch spreche ich der Kultur des Sich-leicht-Machens die Daseinsberechtigung nicht ab. Sie gehört mit in den Liquidationsprozess hinein, den wir durchleben. Wir hatten uns übernommen. Nun setzt — auf indisch zu reden — ein geistiges Pralaya ein.

Die Früchte des Geists jedem mühelos in den Schoß fallen zu lassen, bedeutet gewiss die subtilste, eleganteste und auch höflichste Art, diesen zu negieren. Nie doch ward Geist höher eingeschätzt als gerade heut! Die Großen, nur wenigen vormals zugänglich, sollen’s jetzt allen werden! Kein Licht darf fortan mehr unter dem Scheffel schwelen! Dies scheint freilich wohlgesinnt gedacht. Leider gehört es nun aber zum Wesen des Geistigen, nur durch Tätigkeit wirklich zu werden; die Tätigkeit nicht allein dessen, der es erschafft, sondern auch dessen, der es empfängt. Kann man sagen, dass der Sinn der Kritik der reinen Vernunft etwa in den Druckseiten, die ihn äußerlich festhalten, enthalten sei? Nicht eigentlich; er entsteht vielmehr neu, jedesmal wo er verstanden wird. Sonst ist er nicht da. Das Mysterium magnum des Buches besteht darin, dass dieses, ohne dauernd mehr als Buchstaben zu bergen, durch deren bestimmte Anordnung das immerwährende Neuentstehen eines bestimmten Sinnes äußerlich gewährleistet. Dieses Wiedererstehen hängt aber ganz und gar von der Eigenanstrengung des Lesers ab. Trägt dieser nichts hinzu, so entsteht auch nichts. Also kann auch nichts entstehen, wo man sich’s leicht macht. Deshalb ist die Idee, den Geist durch Popularisierung mächtiger zu machen, von Grund aus falsch.

Der Geist wächst allein in der Überwindung der trägen Natur. Deshalb bedeuten Erschwerungen, vernünftig bemessen, für ihn Erleichterungen. Das wunderbare Kombinationsvermögen der Chinesen ist die unmittelbare Folge dessen, dass Lesen ohne gleichzeitiges synthetisch-verstehendes Denken für sie unmöglich ist. Die Bildungskraft des Französischen beruht darauf, dass die Meisterung dieser Sprache geistige Meisterschaft verlangt. Der Gegensatz zwischen Schreibweise und Aussprache vor allem verhindert beim modernen Englischen, dass dieses den Geist vollständig trivialisiert. Gleiches gilt erst recht vom Neugriechischen. Dass die modernen Griechen, sonst ungeistig genug, in ihrer Mehrheit noch höchst kulturfähig erscheinen, rührt hauptsächlich daher, dass jeder nicht-Analphabet gezwungen ist, die Assoziationen des Klangs, um zu verstehen, mit denen nicht allein des Gesichts, sondern einer ganzen sehr geistigen Geschichte zu kombinieren. Man führe eine rein phonetische Orthographie in Hellas ein, und bald wird es dort nur mehr Levantiner geben. Nicht anders steht es mit den verschiedenen Konventionen, die aller Kunstbetätigung formell zugrunde liegen. Die strenge Form des Sonetts, der Fuge zumal, ist für vieles Höchstgeistige geradezu allein verantwortlich, während es umgekehrt mit der Formlosigkeit der modernsten Poesie und Musik unmittelbar zusammenhängt, dass deren Schöpfungen vielfach erschreckend ungeistig wirken. Je mehr Initiative beim Schöpfer wie beim Beschauer, desto mehr Geist: dieser Satz ist buchstäblich zu nehmen. Denn der Geist entsteht und ist nur durch persönliche Anspannung.

Was soll man unter solchen Umständen zu den allseitigen Erleichterungsversuchen dieser Zeiten sagen? Nun, sie führen der Entgeistung zu. Es liquidiert in ihnen die alte Kultur. Sie verflüchtigt sich im großen Pralaya.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Zur Einführung:Die Kultur des sich-leicht-Machens
© 1998- Schule des Rades
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