Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Zur Einführung:Die Kultur des sich-leicht-Machens

Überschwemmung

Allein die Überschwemmung der Massen mit unverstandenem Geist wirkt doch, andererseits, nilartig befruchtend. Der Wissensdrang derer, deren Erbmasse wenig Kultur birgt, ist leicht so groß wie der Durst des Wüstensands, viel größer als der erblicher Kulturträger. Oft fiel mir auf, wieviel weniger geistige Interessen deren berufene Verkörperer meistens haben, als jüngst erwachte Barbaren. Jene verkörpern den Geist, diese sehnen sich nach ihm also bedeutet er diesen mehr. Dass sie mit dem Empfangenen wenig anzufangen wissen, ändert nichts daran. Um die Sonderart dieser Übergangsperiode richtig zu würdigen, muss man den Kulturprozess ähnlich betrachten, wie den der Natur. Diese wirft Milliarden von Keimen in die Welt hinein, damit wenige Millionen sich entfalten können. So wird heute die Erde mit gelösten oder suspendierten Geistesprodukten überschwemmt, auf dass etwas davon das Chaos überdauere. Es liegt naturhafte Weisheit in diesem Geschehen. Anlässlich der immer weiter um sich greifenden Theosophie habe ich gezeigt1, inwiefern die geistige Minderwertigkeit eines großen Teils ihrer Adepten Gutes bedeutet: dank dem allein wird ihr Düngerkreis so groß, dass ihr wertvoller Gehalt die verstreuten Seltenen, die esoterischer Weisheit innerlich gewachsen sind, überall zu erreichen Aussicht hat. Nicht anders verhält es sich mit dem Popularisierungsstreben dieser Zeit. Die alte Ordnung zerfällt, die Formen von gestern sind entvitalisiert. Damit Neues entstehen kann, das eine Wiedergeburt des Alten bedeutete, muss die Wüste zunächst von Wassern, die von Fragmenten vergangener Kultur gesättigt sind, überschwemmt werden. So wird sich jene allmählich zu fruchtbarem Ackerland verwandeln.

1 Siehe Für und wider die Theosophie in Philosophie als Kunst, Darmstadt 1920.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Zur Einführung:Die Kultur des sich-leicht-Machens
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