Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Dritter Zyklus:I. Was wir wollen

Erneuerung

Wenn alles auf die Einstellung ankommt, dann brauchen wir uns über die Oberflächlichkeit und Roheit unserer Zeit nicht mehr zu wundern: deren Errungenschaften auf dem Gebiet der Tatsachen bessern nichts an ihrer Einstellung, falls diese verfehlt sein sollte. Diesen Sachverhalt müssen wir uns jetzt an einigen Beispielen verdeutlichen, deren Verständnis den kürzesten Weg dahin bedeuten dürfte, das besondere Wollen der Schule der Weisheit zu verstehen. Je länger ich lehre, desto mehr ziehe ich nämlich das konkrete Beispiel der abstrakten Bestimmung vor. — Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannte sich zum Glauben, dass die exakte Wissenschaft, insonderheit die Naturwissenschaft, sämtliche Fragen, welche der Mensch überhaupt stellen kann, zu lösen fähig sei. Dieser Glaube hat sich nun auf die Dauer so wenig bewährt, dass manche führende Geister unserer Tage in bezug auf die Tatsachen absichtlich unexakt sind, dass das wissenschaftliche Gewissen überall an Empfindlichkeit abnimmt und die Jugend vielfach Miene macht, sich von aller Wissenschaft loszusagen. In Wahrheit sind nun die Stellungnahmen des 19. Jahrhunderts und der heutigen Radikalen genau gleich verfehlt und zwar im genau gleichen Sinn.

Die Wissenschaft ist schlechthin positiv zu bewerten, nichts kann sie auf ihrer Ebene ersetzen; sie soll so exakt wie nur irgend möglich sein, darf sich auf keinerlei Konzessionen an Metaphysik, Religion und Kunst einlassen; unter dieser Bedingung wird sie zweifelsohne einmal zu einem erschöpfenden exakten Weltbegriffe führen. Nur kann kein möglicher exakter Weltbegriff die Welt erschöpfen1; hier liegt die Ursache der Enttäuschung an der Wissenschaft. Diese bedeutet nicht das, was ihre Gläubigen in ihr sahen. Ihre Möglichkeit ergibt sich aus einer ganz bestimmten Einstellung, nämlich der auf die Außenansicht der Dinge. Sie kennt ausschließlich Erscheinungen, die nach Gesetzen zusammenhängen; was außerhalb oder jenseits dieser Sphäre, welche Kant zuerst richtig abgrenzte, belegen sein könnte, gibt es nicht für sie. Der Sinn dieser Begrenztheit des Reiches möglicher Wissenschaft leuchtet sofort ein, sobald wir sie durch unsere gewohnten Begriffskoordinaten bestimmen: die Wissenschaft hat es ausschließlich mit der Sprache zu tun, nicht mit dem, was durch sie gesagt wird; ihr entrinnt folglich das gesamte Reich des Sinns, bis auf die kleine Provinz des Eigen-Sinns der Sprache selbst. So schließt eben die Fragestellung, welche sie ermöglicht, zugleich die Möglichkeit dessen aus, dass sie die Probleme lösen könnte, welche den Gebieten der Kunst, Religion und Philosophie angehören. Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts hat sich genau im gleichen Sinne überschätzt, wie im Mittelalter die Religion. Auch diese sollte einmal alle Fragen beantworten können.

Die Folge war im Mittelalter ein allgemeiner Rückschritt gegenüber dem Altertum auf allen Gebieten, die nicht dem religiösen angehören. Genau so bewirkte die falsche Einschätzung der Wissenschaft im 19. Jahrhundert einen Niedergang, gegenüber den vorhergehenden Perioden, auf allen nicht-wissenschaftlichen Gebieten. Beide Arten des Niedergangs wären aber offenbar zu vermeiden gewesen, wenn der Sinn der Wissenschaft und Religion rechtzeitig erkannt worden wäre. Denn wo der Mensch verstanden hat, dort schlägt seine Schicksalsbestimmtheit in Schicksalsbestimmung um. — Und nun ein zweites Beispiel der Bedeutung der Einstellung, das dem Verständnis unseres besonderen Ziels noch näher führt. Dieses liefert die anthroposophische Bewegung. Dass ich dieser, soweit sie Erkenntniserweiterung anstrebt, positiv gegenüberstehe, habe ich schon an anderer Stelle gezeigt2; ich verfolge auch ihr unaufhaltsames Eingreifen in die soziale und pädagogische Praxis wohlwollenden Blicks, denn an den Tatsachen des Lebens wird sich am schnellsten erweisen, wie weit sie wissenschaftliche Wahrheit vertritt. Anders steht es mit meiner Bewertung der anthroposophischen Bewegung, soweit diese einen fortschrittlichen Impuls ins Leben hineintragen will. Nehmen wir an, sämtliche neue Tatsachen, deren Dasein Steiners Geisteswissenschaft behauptet, seien richtig bestimmt; in dem Falle bereicherte diese die Erkenntnis um mehr Neues, als je vielleicht durch Forschung geschah. Ob sie damit aber einen Fortschritt einleitet, oder nicht, hängt nicht davon ab, sondern von ihrer Einstellung zu den neuen Tatsachen. Auf Tatsachen als solche ist überhaupt keine Bewegung zu begründen; in diesem Zusammenhang bedeutet die Wiederverkörperung nicht mehr wie das Einmaleins.

Treffen die sachlichen Behauptungen der Anthroposophen zu, so wird man sie bald ebenso selbstverständlich anerkennen, wie die von der Drehung der Erde um die Sonne, und alle nur möglichen Bewegungen werden insofern übereinstimmen. Eine Bewegung wird ausschließlich durch ihre Einstellung zu den Tatsachen charakterisiert; diese allein gibt ihr Eigenart und Sinn. Die der Anthroposophie ist nun die denkbar unglücklichste: sie ist das Kreuzungsprodukt von zwei als verfehlt erwiesenen und historisch überholten Einstellungen. Die eine ist die bereits behandelte des jüngst verflossenen wissenschaftlichen Zeitalters. Rudolf Steiner vertritt sie persönlich durchaus. Für ihn gibt es, was immer er behaupte, ausschließlich wissenschaftliche Probleme, denn auch das Goethesche Schauen, dessen Fortentwickler er sein will, führt phänomenologischer und nicht metaphysischer Erkenntnis zu, von der Selbstverwirklichung zu schweigen. Deshalb bemerkt er am Geistigen nur das, was ich dessen Außenansicht heiße, lässt er jegliches Verständnis für den Sinn vermissen. Ebendeshalb erwartet er ganz natürlich, dass die neuen Erkenntnisinhalte, die er vermittelt, als solche eine Erneuerung bringen müssen. Zur Metaphysik und Religion hat Steiner, trotz seiner bedeutenden philosophischen Begabung, kein anderes Verhältnis, wie irgendein typischer Naturwissenschaftler der neunziger Jahre, denn dies ist eine Einstellungsfrage. Wenn also Wissenschaft überhaupt keine Erneuerung bringen kann, so gilt dies auch von der Anthroposophie. Hier nun setzt, das Verhängnis verschlimmernd, deren zweiter Fehler ein.

Nur sehr wenige — soviel ich weiß, kommt unter bekannten Steinerianern bisher nur Rittelmeyer in Frage — wissen von den neuen Tatbeständen aus Erfahrung. Den anderen wird gelehrt, ihren Führern zu vertrauen, im übrigen aber deren Mitteilungen denkend zu verarbeiten, — auf diesem Wege kämen sie der Wahrheit näher. Ganz gleich nun, ob die Offenbarungen Steiners vielleicht sämtlich buchstäblich zutreffen; ganz gleich, ob das Bedenken fremder Schauung vielleicht wirklich die geistigen Organe auf die Dauer zur Ausbildung bringt: diese Praxis führt notwendig zur Wiedergeburt der Mentalität des späteren Mittelalters, der Mentalität, die durch die beiden Koordinaten des Offenbarungsglaubens und des scholastischen Denkens bestimmt wurde. Es entsteht also eine Zurückbildung der geistigen Persönlichkeit in der Richtung der Unselbständigkeit. Sofern wir rechtmäßig vom Mittelalter bis zur Neuzeit ein Fortschreiten feststellen, beruht dieses auf der Verselbständigung der Persönlichkeit; eben um diese haben alle sich folgenden Jahrhunderte von der Renaissance und Reformationszeit an gekämpft. Der anthroposophische Impuls hingegen bildet, was immer er wolle, die, welche er trifft, typischerweise zu Scholastikern zurück, welche dadurch nicht besser werden, dass ihre besondere Art überdies die Erbschaft des naturwissenschaftlichen Materialismus in sich trägt; er muss es tun, weil er falscher Einstellung entspringt und diese sowohl den Tatsachen ihren Sinn wie der Persönlichkeit ihren Charakter gibt. Der Anthroposoph ist physiologisch Dogmengläubiger; sein Bewusstseinszentrum liegt nicht in seinem freischöpferischen Selbst; je begabter er sonst ist, desto scholastischer mutet sein Denken, desto jesuitischer sein Handeln an. Deshalb möge die Anthroposophie, noch einmal, soviel neue Wahrheiten vermitteln, wie sie nur will und kann: als Bewegung kann sie zu nichts Gutem führen. Oder milder ausgedrückt: nur insofern kann sie zu Gutem führen, als sie ein historisch vielleicht notwendiges Durchgangsstadium3 darstellt und sich als solches selbst überwindet.

Halten wir dieser ungünstigen Wirkung Rudolf Steiners die ganz unglaublich steigernde eines anderen Lebenden gegenüber, die, weil sie auf keinen neuen Geistesinhalten beruht, nur selten verstanden wird: ich meine die Rabindranath Tagores. Während seines Aufenthalts in Deutschland hielt sich Zeitung über Zeitung darüber auf, wie wenig Neues er gesagt hätte. Wie sollte er? Tagore ist tief, und zu allen Zeiten haben die ganz Tiefen grundsätzlich Gleiches gelehrt. Träte Gottvater plötzlich unter uns, so hätte er schwerlich solcherlei Neues zu sagen, was unsere Buchstabenklauber befriedigen könnte; aller Wahrscheinlichkeit nach würde Er nur die Lehren der Bibel wiederholen … Tagores Wirkung beruht nicht auf seiner Geistigkeit, die keine unerhörte ist, auch nicht auf seinem dichterischen Wert, über den sich streiten lässt; sie beruht ganz und durchaus auf seiner Tiefe. Und dies will sagen: die altbekannten Geistesinhalte, welche, sachlich betrachtet, auch ein schlechtes Feuilleton vertreten mag, bedeuten in seinem Falle Anderes, Neues. In seinem Fall bringen sie Sinneszusammenhänge zum Ausdruck, welche sonst nicht in die Erscheinung eingreifen. Durch Bereicherung seines Wissensschatzes kommt keiner wesentlich weiter; diese braucht ja nichts Lebendiges in ihm zu bewirken. Wenn einer jedoch ein religiöses Erlebnis hat, wenn ihm eine metaphysische Einsicht persönlich aufleuchtet, dann offenbart sich, ein richtiges Wunder, durch Längstbekanntes hindurch, eine neue geistige Wirklichkeit, nicht anders wie die Liebe dem Leben einen neuen Sinn gibt, der das Alltägliche verklärt.

Solches Wunder widerfuhr im vergangenen Sommer denen, die ihre Seele dem Einfluss des großen Inders auftaten. Durch ihn begegnete ihnen recht eigentlich Gleiches, als wenn ihnen selber Tieferes eingefallen wäre, denn die Scheidung zwischen den Menschen besteht nur an der materiellen Oberfläche; alle Seelen hängen zusammen; die Vorbilder und Führer sind nur deshalb solche, weil sie bei den Geführten eben die Rolle spielen, wie im Fall eigener Schöpferkraft die Inspiration. Dank Tagore wurden vielen die alten Wahrheiten zum erstenmal verständlich, d. h. sie erfuhren die erforderliche Belebung von innen her (vgl. S. 184). Indem sie aber also zum erstenmal verständlich wurden, erschienen sie auch neu. Hiermit wären wir zu einem wesentlichen Begriff der Neuheit gelangt, welcher diese zur Erneuerung doch in Beziehung setzt. Jeder neugeborene Mensch ist etwas absolut Neues, gleichviel wem er ähnlich sieht. Jedes erlebte Gefühl, jede lebendig eingesehene Wahrheit, ja, jedes Leben beginnt in jedem Augenblicke neu, denn ohne unaufhörliche Belebung aus einer Tiefe, die dem Bereich der Erscheinungen nicht angehört, könnte es nicht bestehen. Also schafft die Belebtheit die wahre Originalität. Insofern nun hat Tagore denen, welche ihm hingebend lauschten, nicht Altbekanntes, sondern völlig Neues gesagt: da aus den alten Lehren in seinem Falle andere Geisteswirklichkeiten sprachen, als sonst ins Geschehen eingreifen, so haben jene durch ihn verstanden, was kein kanonischer Buchstabe ihnen je gesagt hatte. — Also liegt das wesentlich Neue, synonym mit dem wesentlich Erneuernden, grundsätzlich niemals auf der Ebene der Tatsächlichkeit, sondern einzig der des Sinnes. Hieraus aber folgt, dass nicht das Was eines Gedankens entscheidet, sondern vielmehr das Wer dessen, der ihn ausspricht, weil dieses Wer über den Bedeutungszusammenhang entscheidet, welcher hinter ihm steht. Und hieraus folgt weiter, dass das Niveau der Persönlichkeit letztlich den Sinn erschafft.

1 Vgl. den fünften Vortrag meiner Prolegomena zur Naturphilosophie.
2 Vgl. meine Studie Für und wider die Theosophie in Philosophie als Kunst. — Ich leugne gar nicht, dass tiefe Geister durch die Anthroposophie in ihrer Tiefe befruchtet werden können: wer von Hause aus tief ist, dem bezieht sich alles unwillkürlich auf sie zurück. So glaube ich Rittelmeyer (vgl. dessen Aufsatz in der Tat vom September 1921) gern, dass er durch Steiner als Religiöser weitergekommen ist. Was ich im Folgenden bestreite, das ist, dass die Einstellung der Anthroposophie als solche zur Vertiefung führt. Um letztere zu erzielen, wird sie sich entsprechend dem, was ich hier ausführe, umstellen müssen, und dazu sind viele ihrer besten Anhänger schon im Begriff. Einige von diesen erwecken neuerdings den Anschein, als ob sie den Impuls nicht Dornachs, sondern Darmstadts in sich aufgenommen hätten (dieses selbstverständlich völlig unbewusst). Nun, eben damit wenden sie sich von dem ab, was die anthroposophische Bewegung als solche macht. Denn wer unmittelbar aus der letzten Tiefe lebt und diese zugleich versteht, vertritt, einerlei welcher Sekte er angehören mag, eben das, was wir hier wollen.
3 Vgl. hierzu Philosophie als Kunst S. 242 ff.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Dritter Zyklus:I. Was wir wollen
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