Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

IV. Das Problem des Geistes

Die Liebe

Der endliche Geist ist derjenige, der nicht
anders als nur durch Leiden tätig wird, nur
durch Schranken zum Absoluten gelangt;
nur insofern er Stoff empfängt, handelt und
bildet. Ein solcher Geist wird also mit dem
Triebe nach Form oder nach dem Absoluten
einen Trieb nach Stoff oder nach Schranken
verbinden, als welche die Bedingungen sind,
ohne welche er den ersten Trieb weder haben
noch befriedigen könnte.
 Immanuel Kant

Eros ist ein so weiser Dichter, dass er auch uns zu Dichtern macht. Denn jeder wird zum Dichter, wenn der Gott ihn berührt, wie fremd er auch früher den Musen war. Und das mag uns dafür zeugen, dass Eros vor allem der große Schöpfer der ganzen Musik ist.1

Die Liebe die Schöpferin der Kunst! —

Was ist die Liebe? — Diese Macht, die jeder kennt, die alles Größte, was je der Mensch erstrebt, vollbrachte, welche die härtesten Herzen schmilzt und die schwächsten zu heldenhaftem Mut entflammt, der unmittelbarste Ausdruck unseres Inneren — sie bleibt ein ewiges Problem, das dem Dichter wie dem Denker, solange es Menschen gibt, als solches unlösbar bleiben wird. Wie alle letzten Dinge, wie alle Welträtsel, so kann auch die Liebe nur erlebt, erfahren, nie eigentlich verstanden werden; sie spottet aller Begriffe und Definitionen, und über jeden Rahmen schwingt sie sich triumphierend hinaus. Denn sie ist das, was alle Grenzen sprengt, die Kontinuität, die das Individuum leugnet: sie ist der Zusammenhang des Lebens selbst. Dass das Leben Eines ist, ein Kontinuum im Raume, trotz aller Entfernungen, in der Zeit, trotz alles Sterbens — das wissen wir, obwohl wir es nie eigentlich begreifen können. In der Liebe erleben wir’s selbst: Was ist’s, was Liebende über Raum und Zeit verbindet, was sie einander zuführt, unaufhaltsam gleich Magneten? — Niemand vermag’s zu sagen; aber ein jeder hat es erlebt. Hier herrscht ein dem Denken transzendenter Zusammenhang, der gleichwohl alle Realität erst möglich macht. Ohne Liebe gäbe es keine Menschen, gäbe es kein Leben. Sie ist die Kraft, welche die diskreten Individuen stetig verknüpft, sie die Macht, die ihre ewige Wiederkunft sichert. Sie ist der dynamische Ausdruck des Lebens selbst.

Und darum hat der Mensch in ihr seinen Gott gefunden. Ahnungsvoll erkannte er von je des Lebens ewige Einheit; er wusste, dass das Vergängliche nur Gleichnis ist, dass das Leben fortdauert, ob alles Lebendige gleich stirbt; er fühlte die Wahrheit und konnte sie in der Erscheinung doch nicht finden — und da verlegte er sie in eine andere Welt. Gott ist ewig, er hält die Welt zusammen, so sprach er — und wollte doch nur sagen: das Leben ist ewig, sein Zusammenhang ist gewiss. Diesen Zusammenhang aber, den er in der Außenwelt nur ahnt — er empfindet ihn unmittelbar dann, wenn er liebt. Die Liebe bewirkt und bedeutet zunächst nur die Einheit des Menschengeschlechtes; er übertrug sie auf die Gesamtheit der Natur. Die Liebe ward im Christentum zur Idee des Universums.

Dieser Gedanke ist von tiefster, erhabenster Symbolik. Wehe dem Menschen, der sie missversteht, der sie durch Grübeln zu töten sich unterfängt! Kein Begriff reicht an sie hinan, und nur die Anschauung des Erwählten vermag sie ganz zu fassen. Wir aber, die wir das kühne Unternehmen wagen, das Gefüge der Welt zu begreifen — sollte es uns nicht gelingen, den übermenschlichen Zusammenhang in der Idee nachzubilden? — Der Mensch ist, als Mann oder Weib, unvollständig; sehnsuchtsvoll bangt er nach der Ergänzung. Wenn Ares, sagt Plato, Liebende mit der Wucht seines Hammers zusammenschmelzen wollte — kein Paar könnte sich ein seligeres Los wünschen. So aber ist der Einzelne auf ewig unvollkommen. Jeder der beiden fühlt sich exzentrisch, jeder setzt sein Zentrum außer sich und glaubt es im Geliebten zu finden. Aber er täuscht sich: nicht im Geliebten liegt sein Mittelpunkt — sondern mitten inne zwischen beiden: es ist das Zentrum der Welt selbst, deren entgegengesetzte Pole die vom göttlichen Wahn Befallenen verkörpern; es ist das Herz der Welt, das ewig schlägt, nach dem beide sich sehnen. Liebend ist der Mensch eins mit dem All der Natur; in der Liebe schafft er selbst den Zusammenhang der Welt. Da wogt der Strom des Geschehens unmittelbar durch die Wogen seines Empfindens, da tut er aus innerstem Drang, was die Natur ewig gewollt …

Jakob Böhme schreibt: Es ist in der Natur immer eines wider das andere gesetzt, dass eines des anderen Feind sei, und doch nicht zu dem Ende, dass sich’s feind sei, sondern dass eines das andere im Streite bewege und in sich offenbare. Denn so nur einerlei Wille wäre, so täten alle Wesen nur ein Ding, aber im Widerwillen erhebet sich ein jedes in sich selber zu seinem Sieg und Erhöhung; und in diesem Streite stehet alles Leben und Wachsen.

In der Tat, ein zusammenhängendes Geschehen — sofern Geschehen Bewegung voraussetzt — vermögen wir uns ohne polare, d. h. entgegengesetzte und ergänzungsfähige Kräfte gar nicht vorzustellen. Eine einzelne und folglich einseitige Bewegung würde in alle Ewigkeit fortdauern, ohne je ihr Ende zu erreichen; aus einseitigen Kräften wäre der tatsächlich vorhandene Zusammenhang des Universums vollkommen unbegreiflich. So ist uns das Vorhandensein einer elektrischen Kraft nur insofern fasslich, als es Elektrizitäten — d. h. positive und negative Elektrizität, die sich wie rechts und links zueinander verhalten — gibt; und ebenso steht es mit allen anderen Kräften, sofern sie wirklich agierend sind und nicht, wie die Gravitation oder die Kohäsion, bloß den Begriff eines Erfahrungszusammenhangs dynamisch umschreiben2. Sofern wir an einen Zusammenhang des Geschehens glauben, sofern wir daran festhalten, dass alles Werden in der Natur korrelativ ist, sind wir, kraft unserer Denkgesetze, außerstande, uns diesen Zusammenhang anders als durch das Entgegenwirken polarer und korrelativer Faktoren zu verdeutlichen. Aus diesem Gesichtswinkel allein hat der Kraftbegriff überhaupt einen Sinn — sowohl der alte, anthropomorphische, als der moderne, der durch das englische Wort stress am besten ausgedrückt wird: eine Kraft ist nie, sie wird oder wirkt bloß; sie ist an sich ein Unfassbares, bei welchem die Existenzfrage, die Frage nach dem Sein schlechterdings unbeantwortbar bleibt. Das einzige Sein, von welchem bei Kräften die Rede sein kann, bezieht sich auf ihr konstantes Verhältnis untereinander — z. B. die Beziehung zwischen positiver und negativer Elektrizität, welche Idee wir kurzweg als Elektrizität bezeichnen — alles Übrige ist ein ewiges Werden. Die enantiomorphen (d. h. ergänzungsfähigen) Faktoren sind streng relativ, wesentlich wandlungsfähig, in keiner Hinsicht konstant — positive Elektrizität kann in negative verwandelt werden, obgleich sie von dieser qualitativ durchaus verschieden ist, nur wandelt sich dann ihr ursprüngliches negatives Korrelat unweigerlich in ein positives um —, sie verflüchtigen sich vor jedem Versuch der Fassung. Darum kann das Wort Kraft nie etwas anderes als eine potentiell konstante Beziehung zwischen labilen Faktoren bedeuten, welche, wenn der Kraftbegriff einen homogenen Zusammenhang umschreibt, sich wie rechts zu links zueinander verhalten müssen.

Ebenso steht es mit der Liebe. Fern sei von mir, zu behaupten, die Liebe sei wirklich eine Kraft analog der Elektrizität, oder der Gegensatz der Geschlechter drücke — wie es von Empedokles bis Schelling die verschiedensten spekulativen Geister behauptet haben — tatsächlich dasselbe aus, wie die elektrische oder magnetische Polarität: in gegenständlichem Sinne lässt sich Lebendiges mit Leblosem nicht vergleichen. Wohl aber sind wir außerstande, die Liebe anders als der Kategorie der Kraft nach zu begreifen; und insofern trifft das für alle Kraft Gültige auch bei jener zu. Auch die Liebe ist nur als Beziehung polarer und ergänzungsfähiger Faktoren; ohne diese wäre sie undenkbar. Auch bei der Liebe sind die Faktoren streng korrelativ und ohne möglichen Bezug aufeinander gar nicht existierend — ein Mann an sich oder ein Weib an sich sind absurde Vorstellungen. Und auch die Liebe, gleich jeder Kraft dem Denken ein Unfassbares, drückt den konkreten Zusammenhang dessen aus, — was, aus anderer Perspektive gesehen, durchaus geschieden erscheint. Für die Natur machen erst Mann und Weib zusammen den Menschen aus; der Mensch — nicht Mann oder Weib — ist die Idee, die überzeitlich beharrt, die lebendig bleibt im Wechsel der Individuen und Generationen; aber als Beziehung von Mann und Weib kommt sie im Zeitlichen zum Ausdruck, in ihrem wechselseitigen Verhältnis, ihrer Ergänzung, ihrem Zusammenwirken tritt das Menschentum zutage. Der dynamische Ausdruck dieser Idee ist aber die Liebe; in der Liebe erlebt der Mensch den Zusammenhang der Natur.

So bewirkt die Liebe den Zusammenhang des Lebens, so ist sie die Kraft, welche aus der Diskontinuität des Lebendigen die Kontinuität des Lebens schafft. Und wenn Plato sagt, alle Liebe sei Liebe zur Unsterblichkeit:

Das Zeugen und die Geburt, beides ist ein Göttliches in uns, und unsterblich sind alle sterblichen Geschöpfe, so sie zeugen und gebären —

so drückt er in unvergleichlicher, poetischer Sprache nur dieselbe Erkenntnis aus. Aber Platos Ausspruch bezieht sich zugleich auf die Kunst; auch diese sei das Produkt der Liebe — wie sollen wir das verstehen? — Allerdings schafft auch der Künstler über sich selbst hinaus, auch er verewigt sich, gleichwie die Kinder das Leben der Eltern fortsetzen. Nichtsdestoweniger bleibt der Zusammenhang zwischen leiblicher und geistiger Produktivität ein Mysterium, dessen Schleier weder durch die Einstimmigkeit aller schöpferischen Geister, noch auch durch den Umstand, dass die Sprache seit je — als ob es sich um die selbstverständlichsten Erscheinungen, die deutlichsten Begriffe handelte — von geistiger Produktivität, Zeugung, Geburt und Schwangerschaft gesprochen hat, wahrhaft gelüftet werden kann. Und doch ist die Berechtigung dieser Ausdrucksweise nicht zu bestreiten; sollte die Wesenseinheit von geistiger und leiblicher Zeugungskraft unmittelbar gewiss sein, und vielleicht gerade darum nicht nachgewiesen werden können?

Die Wissenschaft hat Letzteres gleichwohl versucht. Sie hat gefunden — oder zu finden geglaubt —, dass die Intelligenz im ganzen Tierreich in umgekehrtem Verhältnisse zur Fruchtbarkeit stehe; so erwürben die weiblichen Ameisen und Bienen z. B. nur auf Kosten der Geschlechtlichkeit höhere Geisteskräfte; die allein fortpflanzungsfähige Bienenkönigin sei das unbegabteste Wesen im Stock. Auch beim Menschen scheint ein ähnliches Verhältnis vorzuliegen: kein Genie hat ihm ebenbürtige Nachkommen hinterlassen, und der meisten Geschlechter starben auffallend frühzeitig aus. Möbius schreibt3:

Offenbar ist das Urphänomen der Gegensatz zwischen Gehirntätigkeit und Fortpflanzung. Beide Funktionen sind eng verknüpft, aber je mehr die eine das Übergewicht erlangt, desto mehr leidet die andere.

Dieser Gegensatz lässt sich nur dahin deuten, dass es dieselbe Energie ist, die im einen Falle die leibliche, im anderen die geistige Produktivität bedingt — und diese Deutung bestätigt die Weisheit aller Dichter und aller Zeiten. Aber sie gibt keine Erklärung; inwiefern kann dieselbe Energie so grundverschiedenen Ausdruck gewinnen?

Weiter führt vielleicht folgender, Gedankengang: dass die geistige Bedeutung eines Menschen wesentlich von der allgemeinen Sensibilität seines Organismus abhängt, ist über jeden Zweifel erhaben4. Der Grad der Eindrucksfähigkeit bestimmt das Niveau eines Menschen; die Möglichkeit, dieselbe auf ein Ziel zu konzentrieren, kennzeichnet den produktiven Geist. Nun ist es gleichfalls für jede große Liebe, jede starke Leidenschaft charakteristisch, dass alle Sinne bei ihr beteiligt sind, die Sinnlichkeit nimmt die gesamte Sensibilität des Menschen in Anspruch. Den gleichen Zustand kennt außer dem Liebenden nur der schaffende Künstler. Somit scheint der Zusammenhang von Liebe und Produktivität letzthin darauf zu beruhen, dass in beiden Fällen der ganze Mensch zum Ausdruck gelangt; die ganze Kraft des ganzen Menschen ist auf ein Ziel gerichtet.

Aber Genaueres, und zugleich Allgemeines, lässt sich nicht bestimmen. Die Möglichkeit der Produktion darzutun, geht über unsere Kraft, und zwischen der Idee der Liebe und ihrer konkreten Ausdrucksform klafft ein so ungeheurer Spalt, dass die Erkenntnis in ihm versinkt, wenn sie ihn zu überspringen trachtet. Darum können wir über den Zusammenhang von leiblicher und geistiger Produktivität an sich nur folgendes sagen: dass er vorliegt, daran ist kein Zweifel; der Geist pflanzt sich in demselben Sinne fort, wie das Leben selbst.

Aber ist es nicht möglich, wenigstens das Wie? zu erforschen, wo das Warum?, ja selbst das Was?, über alles Verstehen transzendiert? — Wir wissen, dass die Dauer des Lebens in der Zeit, das lebendige Geschehen, polare Faktoren voraussetzt, die, relativ an sich, durch ihre Ergänzung ein neues Sein ergeben. Mann und Weib müssen zusammenwirken, damit ein Mensch entsteht, jeder Teil für sich ist vom Standpunkte des Lebens unvollständig. Sollte da das Werden zum Sein der geistigen Schöpfung nicht denselben Weg einhalten, auf dem der Mensch selbst entstand? — Dieses Problem ist es, das uns zunächst beschäftigen soll. Denn dergestalt gefasst kann es nicht völlig unlösbar sein. —

Die Liebe besitzt, wie gesagt, nur als das dynamische Band zwischen diskreten Faktoren Realität; ohne diese ist sie undenkbar. Was Liebe ohne die Möglichkeit liebender Wesen bedeuten sollte, ist unerfindlich. Daher müssen wir unser Augenmerk auf die Faktoren richten; mit der bloßen Tatsache ihrer Anziehung ist uns nicht gedient. Hierzu aber dürfte es zweckmäßig sein, uns gleich zu Anfang folgender Grunderkenntnis zu erinnern: dass es bei dynamischer Fragestellung — bei der Frage nach dem Werden, dem Zustandekommen — nicht nur vergeblich, sondern geradezu widersinnig ist, nach absoluten, unverrückbaren Polen zu forschen. Das Wesen aller Kraft ist ihre Wandelbarkeit; sie kann als solche niemals gefasst werden. Nur die Beziehung der Faktoren aufeinander bleibt konstant, diese selbst können jede erdenkliche Verschiebung und Umwandlung erleiden. So ist es bei allen physischen Kräften; ähnliche Verhältnisse finden wir innerhalb des Lebens: der geschlechtliche Dimorphismus, so wie er beim Menschen statt hat, ist keineswegs ein allgemeines Phänomen; zahllose Organismen, ja ihre Mehrzahl, pflanzt sich auf ganz andere Weise fort, obwohl auch bei ihnen — wie ich ein andermal zu zeigen hoffe5 — das lebendige Geschehen stets vermittels polarer Faktoren vor sich geht. Und auch innerhalb des Menschen­geschlechts sind die Pole nur ausnahmsweise so schroff auskristallisiert, wie es heute innerhalb der kultiviertesten Gesellschaftsklassen Europas der Fall ist. Bei Naturvölkern sind Mann und Weib oft schwer voneinander zu unterscheiden. Darum müssen wir — wenn wir auf dem Gebiete des geistigen Schaffens wirklich analoge Verhältnisse zu finden erwarten, wie auf dem der leiblichen Fortpflanzung — von vornherein davon absehen, im Menschengeiste etwa ein Äquivalent des männlichen oder des weiblichen Prinzips an sich erkennen zu wollen. Das bedeutete eine petitio principii, die uns sicherlich verderben würde: denn männlich und weiblich bezeichnen schon im leiblichen Dasein keine festumgrenzten Tatsachen, sondern bloß die Extreme, zwischen welchen es die verschiedenartigsten Übergänge gibt, die gelegentlich sogar verschmelzen und jedenfalls die merkwürdigsten Wandlungen erleiden können. Auf psychischem Gebiete treten uns auch wirklich ähnliche Erscheinungen entgegen: es gibt die verschiedensten, auf die mannigfaltigste Weise abgetönten und durch stetige Übergänge miteinander verbundenen Geistesorganisationen. Die Extreme hat Nietzsche treffend gezeichnet:

Es gibt, sagt er, zwei Arten von Genies: eins, welches vor allem zeugt und zeugen will, und ein anderes, welches sich gern befruchten lässt und gebiert. Und ebenso gibt es unter den genialen Völkern solche, denen das Weibsproblem der Schwangerschaft und die geheime Aufgabe des Gestaltens, Ausreifens, Vollendens zugefallen ist — die Griechen z. B. waren ein Volk dieser Art, insgleichen die Franzosen —; und andere, welche befruchten müssen und die Ursache neuer Ordnungen des Lebens werden.6

Lassen wir uns also auf keine voreiligen Hypothesen und Behauptungen ein; sehen wir vorurteilsfrei zu, wie eine geistige Schöpfung zustande kommen mag.

Wie geheimnisvoll die Prozesse der Ideenverknüpfung immer sein mögen und sind — eines können wir mit Bestimmtheit voraussagen: dass auch der Geist außerstande ist, aus dem Nichts zu schaffen. Es gibt kein absolutes, unbedingtes Erfinden, geradeso wie es kein unbedingtes Wachstum gibt — das Material muss von außen stammen. Was völlig neu erscheint, nie dagewesen, ist stets nur ein Produkt der Umgestaltung — im selben Sinne etwa wie eine Pflanze sich ausschließlich aus leblosen Elementen aufbaut, diese aber zu Verbindungen zusammenschließt, die sie aus eigenem Antrieb nie eingehen könnten.

L’esprit humain ne peut rien créer, sagt Buffon; il ne produira qu’aprés avoir été féconde par l’expérience et la méditation, ses connaissances sont les germes de sa production.

Nichts beweist das deutlicher als das Traumphänomen. Hier ist der Zusammenhang mit der Außenwelt aktuell fast gänzlich aufgehoben; der Geist schafft scheinbar am Freisten, weil am Willkürlichsten, es entstehen Bilder so überschwenglicher Art, Kombinationen so kühnen Charakters, dass jeder Bezug auf die Realität ausgeschlossen erscheint. Und doch: niemals hängt der Mensch mehr mit dem Erlebten zusammen; alle Elemente lassen sich aus tatsächlichen Vorgängen oder Eindrücken herleiten, mögen diese auch so weit zurückliegen, dass sie dem wachen Bewusstsein längst entschwunden waren7. Dagegen ist die Verbindung der Elemente spontan — in des Wortes weitester Bedeutung; die Träume an sich sind neu und nie dagewesen, weil ihre Bestandteile auf solche Weise zusammenhängen, wie dies in keiner Erfahrung möglich wäre.

Der Traum ist die niederste, darum auch die allgemeinste Form der geistigen Produktion; was allgemein für diesen gilt, trifft — in wie immer veränderter Gestalt — auch bei den höchsten Schöpfungen zu8: Stoff und Phantasie — ich benutze absichtlich zwei extreme Bezeichnungen — müssen beide vorhanden sein, damit überhaupt ein Geistesprodukt entstehen kann; das liegt im Wesen des Geistes. Fragt sich, wie ihr gegenseitiges Verhältnis beschaffen sein mag? — Nur ein experimentum crucis kann uns hierüber Gewissheit verschaffen. Tausend schlechte Experimente beweisen nichts; ein einziges gut gewähltes und — angeordnetes kann auf einmal die ganze Frage entscheiden. Beginnen wir bei möglichst konkreten Beispielen, bei solchen, wo menschliche Beziehungen den Keim zur künstlerischen Tätigkeit ins Wachstum riefen; nur auf diesem Wege werden wir zum Verständnis des Abstrakten gelangen.

Petrarca barg in sich allein gewiss alle Möglichkeiten zum großen Dichter; aber wäre er das geworden, was er war, ohne die Begegnung mit Laura? Wer wollte aus Goethes Laufbahn die Liebschaften ausschalten, ohne seine schönste Lyrik preiszugeben? Und lässt sich ein Dante ohne Beatrice überhaupt vorstellen? — Man sagt, die Geliebten weckten den Genius, indem sie die gesamte Lebenskraft zunächst auf ein Ziel lenkten, wodurch seine Gaben ihm allererst bewusst wurden — ähnlich wie Plato meinte, man müsse zunächst einen schönen Körper lieben, um der Idee der Schönheit teilhaftig werden zu können. Das ist unbestreitbar; in diesem Sinne sind Frauen an den meisten Werken beteiligt gewesen. Doch ist diese Deutung nicht die tiefste; sie lässt die Hauptsache unberührt: warum ist kein Bildnis Leonardos z. B. mit der Mona Lisa zu vergleichen? Woher die schier souveräne Rolle, die Beatrice in Dantes Dichtungen spielt? — Hier muss ein innigerer Zusammenhang vorliegen.

Betrachten wir den Fall Dante. Jedermann kennt die Geschichte jener einzigartigen Liebe, die so unwirklich in gewöhnlichem, so äußerst real in idealem Sinne war. Nie hat Dante Beatrice persönlich gekannt, und doch lenkte sie sein ganzes Leben; sie entflammte ihn zur höchsten dichterischen Glut, und der leidenschaftliche Italiener dachte doch niemals daran, seine Sonette ins Leben zu übersetzen. In durchaus irdischem Gewande lebt sie in seinen Werken, aber auf Erden war sie ihm eine ideale Gestalt. Sie war es ihm so sehr, dass er sich instinktiv davor scheuen mochte, ihre Wirklichkeit kennenzulernen: sie hätte die Idealität vernichten können. Was ist der Kern jener grande passion, ohne welche selbst die göttliche Komödie schwerlich entstanden wäre? — Dante liebte offenbar sein eigenes Phantasiegebilde — das trifft für jede Liebe zu, ist sie doch die hohe Schule des transzendentalen Idealismus; aber er liebte es nicht nur als Mensch, sondern vor allem als Künstler. Dass er Beatrice als Mensch geliebt, diese Tatsache ist von bloß mittelbarer Bedeutung; wohl aber hatte Beatrice an seiner Schöpfung gerade so organischen Anteil, wie er selbst, weil sie das Objekt bot, dem sein Genius sich vermählen musste, um aus Sterblichem Unsterbliches zu erzeugen. Aus der Liebe der Phantasie des realen Dante für das Bild der realen Beatrice allein konnte das Höchste entstehen, dessen jene fähig war.

Wir sind, dächt’ ich, schon etwas tiefer eingedrungen. Wenn Leonardos größtes Werk die Mona Lisa ist, so liegt dies wohl daran, dass Mona Lisa Gioconda selbst nur einmal gelebt hat und sie allein fähig war, sein Tiefstes an die Oberfläche zu zaubern. Das großartigste Porträt, das die Menschheit besitzt, bürgt uns dafür, dass Leonardos Geist in glühendster Leidenschaft für das Bild jenes Weibes entbrannte — blieb doch ihr Lächeln die Grundstimmung seines gesamten, rätselvollen Schaffens. Und wenn jeder Genius nur bei einem einzigen Thema, oder wenigstens auf einem begrenztem Stoffgebiete, sein Höchstes zu leisten vermochte — so Mozart im Don Juan, Goethe im Faust, Tolstoi in Krieg und Frieden (kein Klassiker hat ausschließlich klassische Werke geschaffen) —, so liegt das offenbar am selben Grunde: die Phantasie bedarf nicht nur des Stoffes überhaupt — er muss in fester Beziehung zu ihr stehen, damit sie ihre volle Kraft betätigen und ausleben könne. Das Objekt geistigen Schaffens ist nicht gleichgültig, es ist ein wesentliches Moment.

Jeder große Künstler ist sich dessen bewusst gewesen. Goethe spricht immer und immer wieder von der positiven Bedeutung des Stoffes: ohne entsprechendes Objekt bliebe die größte Begabung steril. Richard Wagner schreibt an Liszt9:

Die musikalisch schaffende Kraft dünkt mich wie eine Glocke, die — je umfangreicher sie ist — ihren vollen Ton erst von sich gibt, wenn sie durch die gehörige Kraft in vollen Schwung gesetzt ist: diese Kraft ist eine innerliche, und wo sie nicht als innerliche vorhanden, da ist sie gar nicht vorhanden: Das rein Innerliche wirkt aber nicht eher, als bis es durch ein Verwandtes und doch Unterschiedenes von außen her erregt wird.

In der Tat, ein Geist von der envergure Wagners bedurfte gewaltiger Themen, der reichsten Sagenschätze der deutschen Mythologie, um sich voll entfalten zu können; vor einem Liede von Heine oder Dehmel wäre er höchstwahrscheinlich beengt und hilflos dagestanden. Ebenso ist es für Michelangelo wesentlich, dass er keine Nippsache machen konnte, oder umgekehrt für die exquisiten Stilisten und Kleinmaler unserer Tage, dass sie sich in großen Stoffgebieten verlieren würden. Wenn ein Meisterwerk entstehen soll, so müssen Thema und Gestaltungskraft korrelativ sein; andernfalls, wenn sich die Waage nur im Geringsten außer Gleichgewicht befindet, treten Torsos oder Monstra zutage. Wie sich aber das Resultat vollkommener Ergänzung dem sichtenden Verstande gegenüber darstellt, das hat niemand treffender als Kierkegaard gekennzeichnet. Er sagt über die Einheit von Stoff und Phantasie bei der klassischen Schöpfung10:

Diese Einheit ist eine so absolute, dass eine spätere reflektierende Zeit kaum einmal in der Idee auseinanderhalten kann, was innerlich verbunden ist, ohne Gefahr zu laufen, dass sie ein Missverständnis wecke oder nähre. Sagt man z. B., es sei Homers Glück gewesen, dass er den ausgezeichnetsten epischen Stoff vorfand, so kann man dabei leicht vergessen, dass wir ja beständig diesen epischen Stoff nur mittels der Auffassung haben, die eben Homer eigen war, und dasjenige, was der vollkommenste epische Stoff erscheint, uns nur durch die Transsubstantiation bekannt und deutlich ist, welche Homer gehört. Hebt man dagegen Homers dichterische Tätigkeit hervor, die er in der Belebung und Durchdringung des Stoffes beweist, so kann man darüber leicht vergessen, dass die Dichtung niemals geworden wäre, was sie ist, wäre nicht die Idee, mit welcher Homer sie durchdrungen hat, die der Dichtung innewohnende Idee gewesen, wäre nicht die Form die eigentliche Form des Stoffes selbst. Der Dichter wünscht sich seinen Stoff. Wünschen ist keine Kunst, sagt man wohl, und von einer Menge ohnmächtiger Dichterwerke gilt das mit voller Wahrheit. Richtig zu wünschen, ist dagegen eine große Kunst, oder besser gesagt, das ist eine Gabe. Dies ist das Unerklärliche, das Geheimnisvolle beim Genie, wie bei der Wünschelrute, welche nie den Einfall bekommt zu wünschen, als wo der Quell oder Schatz sich befindet, den sie wünscht.

Diese geheimnisvolle Kraft ist aber mit der wesenseins, welche Liebende zusammenführt, die wahlverwandte Persönlichkeiten sich finden lässt, dank welcher Naturen, die sich ergänzen können, mit unfehlbarem sympathetischen Instinkt einander zustreben und sich verstehen, ehe sie sich eigentlich gekannt. Stoff und Phantasie müssen komplementär sein, wie im Leben Mann und Weib; der Stoff ist eigentlich gar nicht Stoff in des Wortes strengster Bedeutung: denn er birgt selbständige Gesetze, welche die Phantasie, je produktiver sie ist, und je fruchtbarer der Stoff, desto weniger vernachlässigen oder vergewaltigen darf. So müssen zwei gleichwertige, positive Faktoren sich ergänzen, damit ein Meisterwerk entstehen könne; kein Künstler ist wie Jehovah, der aus nichts alles machte, er ist der echte Mensch, der nur durch Leiden tätig wird: nul ne peut posséder d’une chose que ce qu’il en éprouve, sagt Villiers de L’Isle-Adam.

Erklimmen wir jetzt einen höheren Standpunkt. Wir wissen, dass es zur Entstehung einer Geistesschöpfung zweier polarer Faktoren bedarf, die sich ergänzen müssen. Wie steht es aber mit der vollendeten Schöpfung? Können wir auch dieser von unserem bisherigen Aussichtspunkte aus Erkenntnis abgewinnen? — Der Ausspruch Kierkegaards lehrte uns, dass hier jede Scheidung unmöglich ist; was dem Stoffe, was dem Dichter angehört, das lässt sich bei einem Meisterwerke nicht mehr auseinanderhalten — beide Faktoren sind zur Einheit verschmolzen. Was die ästhetische Forschung dartun musste, das hätten wir a priori voraussagen können: die Frage nach dem Entstehen ist dynamischen Charakters; solange etwas wird, können wir von Kräften reden. Dagegen wäre es sinnlos, nach ihnen weiterzuforschen, wo nichts mehr durch sie geschieht: mit dem Sein hört das Werden auf — endet zugleich die dynamische Betrachtungsmöglichkeit. Darum ist es ganz und gar unmöglich, im vollendeten Kunstwerke die Pole seines Entstehens wiederzufinden; sie sind verschwunden, sie sind eins geworden in der Form. Hier kann die Argumentation vom Schaffen aus nichts mehr nützen, hier herrscht die Ästhetik oder die Transzendentalphilosophie.

Aber muss nicht auch sie zwecks der Erkenntnis scheiden? — Sie scheidet zwischen Erscheinung und Idee. Diese Trennung hat mit der früheren gar nichts gemein; nicht Künstler und Objekt werden gesondert betrachtet, sondern das Gesetz der Synthese von Phantasie und Stoff, die Idee des Kunstwerks selbst, in ihrem Verhältnis zum konkreten Ausdrucke. Die Idee des Kunstwerkes bedeutet nicht etwa — wie manche meinen — den Gedanken, der dem Ganzen (sei es ein Gemälde, eine Tonschöpfung, ein philosophisches System) zugrunde liegt, sondern das innere Gesetz der Schöpfung, welcher Art diese auch sei, das ein Jegliches bedingt und durchdringt und die Teile organisch zur sinnvollen Einheit verknüpft. Und dieses Gesetz ist wiederum nichts anderes als die einheitliche Beziehung von Phantasie und Stoff, aus der Seele des Künstlers in die Wirklichkeit hinausprojiziert, zur greifbaren Gestalt verdichtet. Es ist die Synthese, die aus dem Vielfachen, an sich Heterogenen und Amorphen eine lebendige Einheit schafft; und lebendige Einheit ist synonym mit: Gestalt. Darum, darum allein ist die Form, die Gestalt, des Kunstwerks Wesen. Sie verbindet organisch, was die Erkenntnis trennen muss, die innere Gesetzmäßigkeit und ihren äußeren Ausdruck. Und daher ist die Form kein Äußerliches, von dem sich nach Willkür abstrahieren ließe: sie ist das eigentlich Innerliche — das Innerlichobjektive, wie wir früher einmal sagten —, der einzig fassliche Ausdruck des Wesens11.

Wir haben hier einen bedeutsamen Schritt unternommen; aus dem Grenzgebiete der γένεσις είς ούσίαν sind wir auf die reinphilosophische Höhe gelangt, wo die Trennung von Idee und Erscheinung möglich wird. Aus der Frage: wie entsteht ein Kunstwerk? ward die weitere: was ist es? — aus dem Problem des Schaffens entspross das Problem der Form. Hier müssen wir stille stehen; die Form ist das Absolute in der Kunst, über welche hinaus es keine Instanz mehr gibt; das Sein der Schöpfung bedeutet die letzte Grenze, bis zu welcher der Geist vordringen kann; diese Richtung hat ihr Ende erreicht.

Aber tut sich uns kein anderer Weg auf? — Vom Schaffen gelangten wir zur Schöpfung, von der Dynamik des Geistes zu seinem Produkt. Nun wissen wir12, dass das Kunstwerk das Spiegelbild des Menschengeistes ist, die unverzerrte Projektion dessen, der es ins Leben rief. Es ist ein selbständiger Organismus, mit eigenem Leben, eigenen Gesetzen, nur von seinem Schöpfer notwendig bedingt. In ihm haben wir die Gesetze des Geistes unmittelbar vor Augen — an ihren direkten Wirkungen —, während wir sie anderweitig nur mittelbar erschließen können. Das Wesen des Kunstwerkes ist die Form, die Gestalt — gerade wie beim Leben selbst: sollten wir da nicht von der Schöpfung auf den Schöpfer, vom Kunstwerk auf den Geist selbst schließen können? — Wir gelangten vom Schaffen zur Schöpfung — können wir denselben Weg nicht auch in umgekehrter Richtung wandeln? Die Synthese von Stoff und Phantasie geht in der Seele des Künstlers vor sich, die polaren Faktoren werden nicht im Werke, sie werden vor allem und zunächst in dessen Urheber eins: wie, wenn es uns gelänge, die Perspektive umzukehren, von der Dynamik des Geistes nicht nur zum Sein des Kunstwerks, sondern zum Sein des Geistes selbst zu gelangen?

Das Ziel ist erhaben, der Versuch — wie gefahrvoll er immer sein mag — gewisslich der Mühe wert. An anderer Stelle habe ich zu zeigen versucht, wie innig der Zusammenhang der schöpferischen Phantasie mit der Technik ist, dass ihr Verhältnis dasjenige von Idee und Erscheinung widerspiegelte13: —

Auf dem Gebiete des Schaffens ist Technik, im weitesten Sinne gefasst, genau dasselbe, wie die konkrete Vorstellung bei der rezeptiven Erkenntnis … Dieselben Gesetze, welche unsere Rezeptivität beherrschen, sie lenken auch unsere Produktion, und die Strahlen der Außenwelt werden vom Menschengeist mit demselben Winkelwerte hinausprojiziert, mit welchem sie einfielen. Freilich ist aber die Richtung die entgegengesetzte, und daher ist das Kunstwerk, das wir schaffen, das Spiegelbild dessen, was das Auge erschaut. Mit entgegengesetzten Vorzeichen gleichsam sind sich beide gleich. Was im einen Falle gleichsam Schlussstein ist — die Idee —, im Spiegelbild ist es die treibende Kraft; was beim Schauen auf uns eindringt, uns passiv überrascht — die Erscheinung —, in der Kunst projizieren wir sie auf dem Wege des Ausdrucks hinaus. So wird die Idee, die Regel des Erkenntnisprozesses, im Spiegelbild zur schöpferischen Phantasie; und die Erscheinung, das schlechthin Gegebene, zum Wege unseres Ausdrucks, zur Technik…

Der Versuch war zwar skizzenhaft, und dennoch blieb er nicht ergebnislos — obgleich er ein ungleich gewagteres Unternehmen bedeutete, als das, was uns jetzt in Aussicht steht. Begeben wir uns denn getrost auf den Weg!

1 Platons Gastmahl, übersetzt v. Rudolf Kassner, p. 40.
2 Vgl. Kapitel I.
3 Der physiologische Schwachsinn des Weibes p. 25.
4 Die Ausnahmen sind nur scheinbare; die Sensibilität kann sich verschieden ausprägen, ist aber an sich stets vorhanden — selbst bei einer so abstrakten Erscheinung wie Kant.
Rémy de Gourmont sagt treffend (La physique de l’amour p. 273):
Il arrive que l’intelligence, au lieu d’être la somme de la sensibilité, en est, pour ainsi dire, la déviation, ou la transmutation. II n’y a plus que très peu de sensibilité; elle est presque tout entière devenue intelligente.
5 Ein besonderes Kapitel, welches diese Frage behandeln sollte, habe ich in letzter Stunde aus architektonischen Gründen gestrichen. Vielleicht veröffentliche ich es einmal in anderem Zusammenhange. Dem Leser, welcher sich für das Problem der Sexualität interessiert, möchte ich vorläufig die Schriften des geistvollen Franzosen Félix Le Dantec empfehlen; zumal seine L’Unité dans l’être vivant, Paris 1902, und La sexualité, Paris 1900 (Carre et Naud). Gelöst hat er es freilich nicht einerseits, weil seine chemische Lebenstheorie in sich fehlerhaft ist, dann aber, weil das Problem der Fortpflanzung des Lebens wirklich schier unüberwindliche Schwierigkeiten bietet: sofern die Fortpflanzung ein Geschehen, ein Werden ist, können wir sie nicht anders als der Kategorie der Kraft nach begreifen. Und wirklich trifft das für alle Kraftwirkung Gültige in gewisser Hinsicht auch hier zu: es sind wandlungsfähige und labile polare Faktoren, durch welche die zeitliche Dauer des Lebens vermittelt wird. Aber anderseits kommt diesen Faktoren — im Gegensatze zu den polaren Kräften — wirkliches Sein zu. Ein männlicher oder weiblicher Organismus wirkt nicht bloß als solcher; nein er ist auch. Darum ist der Vergleich des lebendigen Geschehens mit dem Wirken der eigentlichen Kräfte anderseits wiederum falsch. Wir stehen hier vor einem Dilemma, welches dadurch entsteht, dass das Leben weder aus reindynamischem, noch aus jedem anderen einseitigen Gesichtswinkel erschöpfend begriffen werden kann.
6 Jenseits von Gut und Böse, Aph. 248.
7 Vgl. z. B. Sante De Sanctis, Die Träume, Halle 1901. Im Traume tauchen überdies oft Eindrücke auf, die als solche niemals bewusst wurden; das sind die Grundlagen so mancher Ahnungen, Offenbarungen und Vorbedeutungen, die durch die Erfahrung nachträglich gerechtfertigt erscheinen. (Natürlich sehe ich von der Interpretation der Träume, der ein großer Teil vermeintlicher Offenbarungen zuzuschreiben ist, völlig ab.)
8 Auch Ernst Mach tritt neuerdings für die prinzipielle Wesensgleichheit jeglicher Art geistiger Produktion ein. So meint er in seinem letzten (erst während des Drucks dieser Zeilen erschienenen) Werke Erkenntnis und Irrtum p. 37, dass sich das Vorstellungsleben, welches sich in einem Kunstwerke äußert, nur durch das Ausmerzen des Unbrauchbaren von dem planlosen Hingeben an die eigenen Vorstellungen unterscheide.
9 Wagner und Liszt, Briefwechsel I, 40.
10 Entweder-Oder, deutsche Ausgabe 1883, p. 52.
11 Dass diese Grundwahrheit aller Ästhetik immer noch so wenig verstanden wird, liegt z. T. wohl daran, dass die meisten unter Form etwas ganz Äußerliches — bei Schriftstellern z. B. die gewählte Sprache — verstehen; während es sich in Wahrheit um etwas ganz anderes handelt. Ein Beispiel: Kant schrieb wahrhaftig kein hübsches Deutsch, und doch behaupte ich, dass in seinen Werken mehr wahre Form steckt, als im ganzen Schopenhauer, welcher doch ein wirklich großer Schriftsteller war. Inwiefern ist das möglich? — Ich denke weder an die Architektonik — die unvergleichlich ist —, noch an die Präzision der Ausdrucksweise, worin Kant nur wenige übertreffen: ich meine etwas viel Tieferes: die Form des Philosophen — ich gebrauche das Wort hier genau in derselben Bedeutung, als wenn es sich um die Werke von Michelangelo oder Leonardo handelte — ist die Art seiner Fragestellung, der Standpunkt, von welchem aus er sein Problem betrachtet, die Form, in welcher er denkt. Alles übrige ist, im Verhältnis zu diesem Einen äußerlich, Firnis. Und in dieser Hinsicht überragt Kant Schopenhauer um Turmes Höhe. Vielleicht versteht man mich besser, wenn ich sage, dass Rodin im selben Sinne mehr Form hat als Canova, in welchem Kant alle seine Nachfolger an wahrem Stil übertrifft. Rodin führt manches überhaupt nicht aus, und dennoch…
12 Vgl. Kap. III.
13 Vgl. meinen Aufsatz Phantasie und Technik in der Beilage zur Münchener Allgemeinen Zeitung vom 23. XI. 1903.
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME