Schule des Rades

Hermann Keyserling

Kritik des Denkens

Begreifen und Innewerden

Verstehen

Den Wortlaut unseres letzten Sonderabschnitts habe ich, freilich mit den erforderlichen Erweiterungen und Kürzungen aus Amerika übernommen, da ich kürzer und besser das, was in vielen anderen Schriften, besonders in Schöpferische Erkenntnis, ausführlich auseinandergesetzt steht, nicht zusammenzufassen wüßte. Nun sollte es leicht fallen, ganz deutlich zu machen und auch einzusehen, wie sich die Offenbarungen von Tatsächlichem und von Sinn zu einander verhalten und warum das Denken als solches nie zur Sinneserfassung wird. Das Denken an sich ist ein mechanisches Geschehen. Jeder Einfall nun kommt aus der Region schöpferischen Lebens. Auch hier darf man in erster Instanz zwischen Leben und Geist nicht scheiden: auch das Entstehen neuer Organe, auch Metamorphosen, Mutationen, Regenerationen gehen, erkenntniskritisch betrachtet, auf Einfälle in weitestem Verstand zurück; es sind Schöpfungen der allgemein-lebendigen Bildungs- und damit Einbildungskraft. Ist diese ursprüngliche Gleichheit nun aber erkannt und anerkannt, dann freilich darf und muss man zwischen Geist einerseits und vitalem und organischem Leben andererseits unterscheiden. Und da erweist sich als erster Ausdruck reinen Geists in seinem Erkenntnisaspekte das Verstehen: das Verstehen im Unterschied von Wissen. Verstehen ist nun der allgemeinste und zugleich elementarste Ausdruck von Sinneserfassung; der allgemeinste, weil alles Einsehen von Bedeutungs-haftem, also auch auf gänzlich irrationalem Gebiet, ein Verstehen ist, das elementarste, weil Verstehen inneres Assimilieren bedeutet, und insofern mit allem Assimilieren, auch dem vitalen, auch dem nur-organischen verwandt ist. Sehen wir nun den gleichen Zusammenhang von einer anderen Seite an, so finden wir, dass sich das Verstehen auf die Innenseite des Gleichen bezieht, dessen Außenansicht dem Reich an sich bedeutungsloser Tatsachen angehört. Einen Satz verstehen, bedeutet demnach buchstäblich ein Innewerden dessen, was äußerlich nur eine Zusammenstellung von Buchstaben ist, welche dem, der die betreffende Sprache nicht beherrscht, auch sinn- und zusammenhanglos bleibt, selbst wenn er sie lesen, auswendig lernen und insofern alle Ansprüche von Wissen erfüllen kann. Von hier aus gelingt denn ohne weiteres eine letztgültige Abgrenzung zwischen Begreifen und Innewerden. Das Denken und damit die Wissenschaft führt zum Begriff der Dinge, welche es betrifft; solchem Begriff aber entrinnt notwendig deren inneres Wesen. Innewerden jedoch bedeutet direktes Aufnehmen eben dieses Wesens. Hier bietet das Verstehen eines anderen Menschen als Einheit durch alle vielfältigen und sich widersprechenden Äußerungen hindurch das Urphänomen. Geist wird unmittelbar vom Geist affiziert, wie überall auf Erden gleicher Daseinsebene Angehöriges einander affiziert. Die Möglichkeit solchen Affiziertwerdens ist ein Urphänomen; hier ist jede weitere Zurückführung unmöglich. Andererseits aber ist ein eigentlich leichter zu verstehen (wenn auch nicht zu begreifen!), inwiefern Geist auf Geist wirken, als inwiefern Geist Sinneseindrücke haben kann. Tatsächlich hat er letztere auch garnicht: alle dem Geist unmittelbar gegebene Welt ist, gemäß Kants Lehre, allemal Vorstellung und damit eine geistige Spiegelung oder aber ein mehr oder weniger verändertes Ergebnis der Verarbeitung von Nicht-Geistigem durch Geist.

So bedeutet denn Innewerden das unmittelbare Gewahren geistiger und damit innerlicher Wirklichkeit. Und nur solches unmittelbare Gewahren ist geistige Erfahrung. Innewerden aber kann der Mensch ausschließlich dessen, worauf sich der Sinn-Begriff in seinem weitesten Verstand bezieht. Nun stellen sich die Fragen: erstens, gibt es überhaupt geistige Wirklichkeit? Nun, deren Existenz ist in erster Instanz genau so gewiss wie diejenige äußerer Wirklichkeit und in zweiter Instanz viel gewisser, weil wir Menschen alles Äußerliche nur inbezug auf unseren Geist innerlich erleben, und erst innerliches Erleben Menschen-Leben bedeutet. Die zweite Frage, die wir zu stellen haben, ist die: dürfen wir außer und jenseits des uns als sicher geistbedingt Erscheinenden die Existenz von Sinnhaftem annehmen? Diese Frage ist mit gleicher Sicherheit nicht zu bejahen. Es ist auf kritischem Wege bisher jedenfalls nicht zu erweisen, dass es übermenschliche oder überorganische Geister gibt. Es ist schon garnicht nachzuweisen, wie weit der Bereich des Lebens reicht und ob nicht vielleicht unsere grobe Scheidung zwischen Lebendigem und Leblosem verfehlt ist, wenn nicht ganz, so doch von bestimmten Grenzen an. So gelten auch die gesichertesten naturwissenschaftlichen Wahrheiten und Richtigkeiten nur innerhalb bestimmter Grenzen. Hier kann wohl der Einzelne sichere Offenbarung haben oder zu haben glauben, und die Wirkung solcher Einzelner mag höchst wahrscheinlich machen, dass das Geoffenbarte für alle gilt — die absolute Allgemeingültigkeit solcher Offenbarung ist kritisch nicht zu erweisen.

Tatsächlich sind denn auch die meisten als solche bezeichneten Offenbarungen so gut wie sicher nicht wahr. Und noch sicherer nicht wahr sprechen alle philosophischen Systeme, die der gesamten Natur einen hypostasierten Sinn unterlegen. Hier denn gelangen wir, noch einmal, und diesesmal abschließend, zur Feststellung der engen Grenzen, innerhalb welcher Denken überhaupt kompetiert. Alle Wesenserkenntnis fällt ein, sie kann nicht erschlossen werden. Sind nun auch richtige Einsichten als Voraussetzungen also eingefallen, so muss doch der Verstand sie verarbeiten, um ihren Gehalt übertragbar zu machen. Wie dies geschieht, werden die kritischen Aufsätze des zweiten Teils dieses Buches, insbesondere die über Intuition und richtige Bezeichnung ausführlich erweisen. Nun betreffen aber alle Einsichten ins metaphysisch und spirituell Wirkliche als solche über-Intellektuelles; so besteht keine prästabilierte Harmonie zwischen Sinn und Ausdruck. Dieser liegt es hier näher, jenen zu verfälschen, als ihn richtig wiederzugeben. Darum soll das erste Imperativ für jeden, welcher des Reichs der Metaphysik und spirituell Wirklichen innewerden will, der sein, allen Aberglauben an die Kompetenz des Denkens zu überwinden. Das Denken ist seinem Wesen nach Erdzugekehrt. Es ist unfähig, Transzendentem gerecht zu werden. Alle Geistes-Erkenntnis stammt aus einer Region jenseits möglichen Denkens.

Doch wir wollen die Betrachtungen dieses Kapitels nicht mit Negativem beschließen. Stellen wir lieber die Frage, welcher Zusammenhang zwischen Sinneserfassung besteht gegenüber dem letzt-Ausgeführten im Sinn einer Umschaltung um 180° um. Dann muss die Antwort folgendermaßen lauten. Die Voraussetzungen alles Denkens, sobald diese anderen als formalen Inhalt haben, sind selbst nicht denkerisch; sie sind entweder äußere Erfahrungen oder Einfälle; Verstehen von Geistigem, alias Sinneserfassung, ist offenbar nur über den Einfall möglich. Aber der geistige Sinn ist andererseits bis zu einem gewissen Grade artikulierter Verkörperung im Rahmen der Denkgesetze fähig, und erst wo dieses geschehen, ist eine Einsicht im Erdenleben verankert. Das heißt, wo das Denken nicht letzte Instanz ist, sondern Ausdrucksmittel, dort bedingt das alles Geistesleben beherrschende Gesetz der Korrelation von Sinn und Ausdruck, dass das Denken innerhalb der durch die Natur des Mittels gegebenen Grenzen zu einem Ausdrucksmittel überdenkerischer Einsicht werden kann. Hierauf nun, hierauf allein, beruht die Möglichkeit von Philosophie überhaupt, die ihrem tiefsten Wesen nach keine Wissenschaft, sondern eine Kunst ist (siehe Philosophie als Kunst, Kapitel I.). Wie das zusammenhängt, macht das Beispiel der Poesie, wie die Hellenen sie verstanden, am deutlichsten. Der Dichter galt ihnen ausdrücklich als Macher — nichts anderes bedeutet das Wort poietès — der seine Sache handwerklich so gut als überhaupt möglich zu machen hatte. Doch alle Inspiration kam von den Musen her1: kein Grieche kam jemals darauf, dass seine Einfälle in ihm selber ihren Ursprung haben könnten. Dank der einzigartigen plastischen Einbildungskraft dieses Volkes, das in seiner Mythen-bildenden Zeit Natur und Geist ähnlich als unauflösliche Einheit erlebte, wie Alt-China, offenbarte sich ihm das, was ich Sinn heiße, in Form von Göttergestalten, die für es genau so wirklich waren, wie dem modernen Philosophen seine Ideen, dem analytischen Psychologen seine Urbilder. Doch das geforderte Verhältnis von eingehender Muse zum Macher entsprach genau dem, was ich mit dem prosaischen Begriff eines Korrelationsgesetzes von Sinn und Ausdruck umschreibe. Die von den Griechen geforderte vollkommene Schönheit der Gestalt war ein ihrer Anlage entsprechender Sonderausdruck der Forderung von Vollendung des Ausdrucks überhaupt.

Diese Forderung ist auf dem Gebiet der bildenden Kunst grundsätzlich am leichtesten zu erfüllen, weil äußere Schönheit an Normen der Anschauung zu messen ist; am schwierigsten im Fall der Fassung über-denkerischer Einsicht. Sie ist schwieriger als im Fall der Realisierung aller sonstigen künstlerischen Intention, handele es sich um dichterische, malerische oder musikalische, weil das Denken ursprünglich mit Sinnkörpern als Material und Elementen operiert und darum jene ursprüngliche Fremdheit zwischen Intention und Ausdrucksmittel nicht besteht, die zumal den Musiker, in dessen Materie als solche überhaupt kein rationalisierbarer Sinn hineinzulesen ist, davor bewahrt, dem Sinn des Ausdrucksmittels anstatt dem Sinn der geistigen Intention gemäß zu dichten. Das heißt, nur suprem kritisches Denken vermag metaphysisches Wissen oder spirituelle Schau oder religiöse Eingebung auch nur einigermaßen unverfälscht wiederzugeben. Darum hat denkerische Philosophie überhaupt nur dort auf Beachtung Anspruch, wo sie suprem kritisch ist. Der Fall liegt hier ähnlich wie bei der höheren Mathematik. Leibniz verbrachte Tage mit Notierungen, mit möglichst vollkommener Begriffsfassung nicht allein, sondern sogar mit möglichst vollkommener Ausschreibung dessen, was er als Mathematiker konzipierte. Er wusste, dass hier das Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck viel größere Genauigkeit fordert, als auf jedem anderen Gebiet. Gleichsinnige Genauigkeit ist in der Philosophie unerzielbar, weil jeder philosophische Begriff wesentlich eine symbolische Bezeichnung ist und als solche nicht nur einen, sondern einen vielfachen Sinn hat; dies kann nicht anders sein, weil alles Geistig-Wirkliche tatsächlich vieldeutig ist. Desto schärfer muss sie bestimmen und unterscheiden, wo dieses möglich ist, desto sicherer in der Grenzenziehung sein.

1 Gern verweise ich hier auf das Kapitel Der antike Dichter des im Verlag Franz Leo u. Co., Wien erschienenen Buchs Apollon, Studien über antike Religion und Humanität Karl Kerényis, der Walter Ottos Studien über das Welterleben der Griechen und Römer würdig fortsetzt.
Hermann Keyserling
Kritik des Denkens · 1948
Die erkenntniskritischen Grundlagen der Sinnesphilosophie
© 1998- Schule des Rades
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