Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Für und wider die Theosophie

Begriff eines Absoluten

Ob der Begriff eines Absoluten, im gewöhnlichen Wortsinn verstanden, einer Wirklichkeit entspricht, ist nicht gewiss; sicher tut er dies, sofern er als äußerste spezifische Vollendung definiert wird. Denn alles Lebendige, handele es sich um Körper, Seelen oder Ideen, kann einen so vollkommenen Ausdruck finden, dass eine Weitervervollkommnung seiner nicht nur unmöglich scheint, sondern unmöglich ist. Dies kommt daher, dass alle konkreten Lebenstendenzen innerlich begrenzt sind; wären sie unbegrenzt, kein Ausdruck vermöchte sie zu erschöpfen. Jeder Mensch gehört einem bestimmten Typus, einer gegebenen Zeit und einer besonderen Rasse an; er ist ein Individuum, männlichen oder weiblichen Geschlechtes; und genau im gleichen Verstand ist jeder Gedanke der Ausdruck bestimmter, individualisierter und insofern endlicher geistiger Bewegungsrichtungen, mag ihr Urquell im Übrigen aus der Unendlichkeit des Lebens selbst entspringen. Vom Standpunkt der reinen Vernunft aus geurteilt, sollte dieser Umstand eine verhängnisvolle Einschränkung bedingen. In Wahrheit enthält die in der Tat vorliegende Beschränkung, sintemalen das Leben einen zugleich immerwährenden und immer wieder aufgehaltenen Entwicklungsvorgang darstellt, innerhalb dessen das Höhere als paradoxales Ergebnis des ausgelebten Niederen in die Erscheinung tritt, zugleich das Prinzip alles dessen, was wir groß und bedeutend heißen. An das Unendliche ist kein Maßstab anlegbar; wären wir nicht endlich, unseren Idealen fehlte jede Grundlage. Wir könnten nicht nach dem Schönen, Guten, Wahren streben, denn diese Ideen hätten nie das Licht der Welt erblickt. Wir bewundern das Vollendete, Vollendung aber setzt einen Maßstab voraus, dieser Maßstab seinerseits eine Wirklichkeit, an die er ohne Vorurteil angelegt werden kann: so kann Vollendung unmöglich anderes bedeuten als den vollendeten Ausdruck gegebener Möglichkeit. Auf dieser Erkenntnisgrundlage erweist sich so manche Frage, die kein absoluter Idealismus zu beantworten wusste, von vornherein gelöst. Warum bewundern wir eine schöne Frau? Weil das Formstreben ihrer Rasse und ihres Typus in ihr vollendeten Ausdruck fand, daher erfüllt, was andere Frauen bloß versprechen und desto sehnsüchtiger erwarten lassen. Warum bewundern wir Männer wie Cäsar, Goethe, Augustin? Weil sie das in sich vollkommen realisiert haben, was in ihnen nach Ausdruck rang und Gleiches in uns allen tut. — Im Fall von Gedanken und Ideen liegen die Dinge ebenso. Jeder Ausspruch, jedes Gedankensystem erscheint uns tief, in welchem das, was es sein wollte, vollendet zum Ausdruck kam; welcher Satz auch in umgekehrter Fassung gilt. Mag diese Deutung der Größe und Tiefe die Wahnidee eines selbstgegründeten Absoluten stürzen — sie führt doch zu keinem Relativismus im gewöhnlichen Sinn. Wer sich vollendet auszudrücken weiß, ist eben dadurch ein höher geartetes Wesen, denn der Mittelmäßigkeit fehlt diese Kraft; und hat einer sich vollkommen ausgedrückt, so hat er eben damit, unabwendbar, die Wahrheit gesprochen. Mögen seine Ausdrucksmittel als solche noch so unbefriedigend gewesen sein — gelang es ihm, vermittels ihrer, vollständig auszudrücken, was er sagen wollte, dann hat er notwendig mehr gesagt, als er je meinen konnte. So paradox dies klinge, es ist wahr. Jeder lebendige Körper, ob noch so beschränkt im Rahmen von Raum und Zeit, enthält und verkörpert doch das Ganze der Lebenswelle, die sich vorübergehend in ihm materialisierte. Das heißt, das Vorübergehende bedeutet das Ewige und ist insofern identisch mit ihm. Oder noch anders ausgedrückt: das Endliche reicht tatsächlich über seine Grenzen hinaus, da es das Prinzip aller nur möglichen Grenzen zum Ausdruck bringt. Dieses ist der Sinn dessen, was ich vorhin über das Verhältnis von vollendetem Ausdruck und Wahrheit niederschrieb.

Jede ganz und vollkommen verkörperte Idee bedeutet und enthält nicht allein diese eine Inkarnation, sondern das Prinzip dieser sowohl, als jeder nur möglichen folgenden, woraus hervorgeht, dass sie wesentlich wahr ist, was immer gegen ihre Erscheinung zu sagen sei. Deshalb hat der Tod keine Macht über sie, nur ihre Körper vermag er zu töten; diesen allen aber ist andererseits das Kastenabzeichen der absoluten Wahrheit aufgeprägt, allen Wissenden kenntlich. Doch gilt solches allein von vollendeten Verkörperungen, denn nur das Vollendete ist ganz zum Leben geboren. Das Unvollendete stellt nur einen Versuch zu leben dar, und kein erfolgloser Versuch vermag seinem geistigen Beweggrund einen lebendigen Leib zu erschaffen. Auf diese Weise erweist es sich, dass der Begriff der Vollendung als des vollendeten Ausdrucks gegebener Möglichkeit keineswegs zur flachen Ansicht gewisser Philosophien führt, dass alles Vorhandene eben deshalb wahr sei; im Gegenteil: es realisiert auf höherer Ebene den Glauben an eine absolute Wahrheit. Freilich gibt es kein Absolutes im intellektualistischen Verstand, aber das Vollendete bedeutet das Absolute. Als vollendeter Ausdruck gegebener Möglichkeiten ist es alles, was es zu gegebener Zeit in einer dauernd-sich-wandelnden, fortwährend-sichentwickelnden Welt überhaupt als wirklich geben kann.

Betrachten wir die Frage jetzt von einer anderen Seite her. Wir kamen zum Schluss, dass nur das Vollendete eine volle Verwirklichung dessen bedeutet, was zu verwirklichen war. Hieraus ergibt sich, für den Fall lebendiger Menschen, dass nur große Menschen ganz am Leben sind, und für den Fall von Wahrheiten, dass keine Wahrheit als ganz wahr gelten darf, sofern sie nicht in den angemessenen Begriffen ausgesprochen wird. So übertrieben diese Sätze klingen, die Geschichte beweist durchaus ihre wörtliche Richtigkeit. Nur wahrhaft große Menschen leben fort, nur wahrhaft große Ideen und Gedankensysteme entrinnen dem Untergang. Die Unsterblichkeit, richtig verstanden, bedeutet eben nicht die Fortdauer des Toten dank äußeren Umständen (so wie Felsen dauern, weil die Luft sie nicht zersetzen kann, Mumien, weil die Leichname einbalsamiert wurden, und Menschen ohne inneren Anspruch auf Unsterblichkeit, weil die Lebenden sie nicht vergessen haben oder Bücher ihre Erinnerung aufbewahren), sondern die fortdauernde Wirksamkeit eines Prinzips trotz des sukzessiven Dahinschwindens seiner Verkörperungen. In eben diesem Sinne bleiben große Männer und große Gedanken immerdar am Leben. Doch gilt solches ausschließlich von den Großen, d. h. von denen, die ihre Vollendung irgendwie erreichten. Die Unvollendeten können nicht fortleben aus dem einfachen Grund, dass sie ins Leben überhaupt noch nicht ganz hineingeboren waren. Es ist merkwürdig, wie selten diese Sachlage verstanden wird. Die Meisten wähnen, dass die geschichtlich Großen ein Absolutes, Unbedingtes darstellen, wo sie in Wahrheit nichts anderes bedeuten, als die volle Verwirklichung der Lebenstendenzen, die alle Zeitgenossen gleichen Typus’ mit ihnen teilten; während sie in ihrem eigenen Fall immer wieder der Einbildung frönen, die Menschheit um unsterbliche Gedanken bereichert zu haben, wo sie in Wahrheit nur trübe Erschautes, kaum Verstandenes ungenau ausdrückten. Tatsächlich — und Tatsachen müssen anerkannt werden, so unwillkommen sie seien — hat keiner ein Recht auch nur auf den Traum, irgend etwas von bleibender Bedeutung geleistet zu haben, bevor er die seiner Individualität erreichbare spezifische Vollendung nicht erreicht hat. Keine Idee wird jemals zu einer Lebenskraft von wahrer Macht werden, bevor sie nicht ihre vollständige Verkörperung fand. Hier handelt es sich um keine Behauptung, sondern ein Axiom. Denn Ideen verhalten sich in diesem Zusammenhang genau so wie lebendige Menschen. Alle Reinkarnationsgläubigen im Sinne der Theosophie werden mit mir (dem Reinkarnation ein etwas anderes bedeutet) wohl in Folgendem übereinstimmen: das Unverkörperte hat keine reale Macht; entleibte Seelen können auf diese Welt nicht wirken. Sie müssen sich in Fleisch und Blut materialisieren, um zu Kräften zu werden. Unausgedrückte oder schlecht ausgedrückte Ideen nun sind entleibte Seelen; deshalb ermangeln sie der Wirkungskraft.

Alle großen Gedanken, Gedankensysteme und Religionen sind, ich bemerkte es bereits, vollständige und vollkommene Verkörperungen gewesen. Gewiss nicht immer in Form abstrakter Begriffe, wohl aber immer in durch ihr bloßes Dasein überzeugender Gestalt lebendiger Persönlichkeit, symbolischer Sprache usw. Wenn Heraklits oder Lao Tses Aphorismen vom Standpunkt des logischen Denkens dunkel erscheinen, so rührt dies von der Wahl eines falschen Standorts her; man soll Musik nicht nach den Regeln der Malerei beurteilen. In ihrer spezifischen Ausdruckssphäre ist die symbolische Sprache Heraklits genau so klar wie in der seinen die Voltaires). Solches gilt in geradezu wunderbarem Grade von der frühesten indischen Philosophie, sowie von den Lehren mancher mittelalterlicher Mystiker. Allein es gilt nicht bisher von der modernen Theosophie.

Fern sei von mir, darüber zu urteilen, was meine Verständnisfähigkeit übersteigt; nur davon will ich handeln, was ich persönlich beurteilen kann. Nun kann ich dies hinsichtlich der meisten Behauptungen, die das tiefste Selbst in uns betreffen, und dies desto besser, als die Psychologie und Metaphysik der Theosophen mit der altindischen zusammenzufallen vorgibt. Und da zögere ich nicht, das Urteil auszusprechen, dass es an einem befriedigenden Ausdruck, einem Ausdruck, der eine vollständige Verkörperung bedeutete, bisher noch fehlt. Ich bin in der theosophischen Literatur einigermaßen bewandert und weiß in vielen Fällen recht gut, was gesagt werden soll: leider wird es nicht tatsächlich ausgesprochen, und deshalb ist die vorgetragene Lehre nicht wahr. Oft ist darauf hingewiesen worden, dass die Theosophie eins der materialistischsten Gedankensysteme aller Zeiten darstellt: mit vollem Recht. Nicht zwar in dem Verstand, dass Götter, Geister usw. nicht das sein sollten, was Hellseher von ihnen berichten — gibt es sie überhaupt, dann gehören sie zur Natur genau im gleichen Sinn, wenn auch auf anderer Ebene, wie die aller Welt bekannten Phänomene1 —, sondern in dem, dass die Begriffe, welche sich die meisten Theosophen von geistigen Wesenheiten machen, im selben Sinne unzulänglich sind, wie die eines Ludwig Büchner, Lucretius und Lamettrie. Die unmittelbare Gegebenheit des Materialisten ist keine andere als die des Idealisten; der Unterschied zwischen beiden beruht auf der Art, wie beide Teile jene verstehen. In diesem Verstehen nun sind alle Materialisten, mit Einschluss der Theosophen, ausgesprochen unglücklich gewesen. Ein Beispiel dessen genüge: ich wähle das der verschiedenen sogenannten Körperhüllen des Menschen. Sicher gibt es verschiedene mögliche Bewusstseinsebenen; höchstwahrscheinlich entsprechen diesen verschiedene Schichten der Materialität, obschon die Meisten, unter anderen auch ich, der Organe entbehren, welche dies nachprüfen könnten. Aber die theosophische Theorie selbst ist ohne Zweifel falsch. Mag der Mensch noch so vielfältiger Körperlichkeit teilhaftig sein, er ist kein zusammengesetztes Produkt der Art, wie die Theosophie dies lehrt; er besteht aus keinem geistigen Kern, der in eine Folge materieller Hüllen eingeschlagen wäre, von denen jede höhere spiritueller und weniger materiell erschiene: der lebendige Mensch ist ein spirituelles Prinzip, das sich in materieller Gestalt genau im gleichen Sinne ausdrückt, wie ein Gedanke in Worten2.

Deshalb dürfen Körper und Geist auf die theosophische Art nicht unterschieden werden; da jede von jenen einen Ausdruck dieses und sonst nichts bedeutet, so sind alle, von einer Seite her betrachtet, gleich spirituell, und, von der anderen Seite her, gleich materiell. Das Spirituelle ist auf der physischen Ebene genau so gegenwärtig, wie auf jeder anderen; für sich selbst hat es keinen Erscheinungsplan. Unverkörpert fehlt ihm die aktuelle Existenz, verkörpert trägt es notwendig ein stoffliches Gewand, und da Stoff Stoff bleibt (ob auch noch so verschieden an Qualität und Wert, je nachdem wozu er dienen soll), so gibt es keine Ebene, die höher als eine andere im Sinn von spiritueller oder weniger materiell wäre — noch kann es eine geben. In bezug auf den Atman ist daher ein Wechsel der Bewusstseinsebene bedeutungslos3. Eine vollkommene Verkörperung in der Physis bedeutet genau so viel in bezug auf ihn, wie eine solche in mentaler oder astraler Sphäre. Nun ist aber der Mensch, als lebendiges, bewusstes, als Subjekt handelndes Wesen überhaupt nur Atman, und stelle er sich im Übrigen noch so oberflächlich dar. Er ist ebensowenig einer seiner Körper, wie der Gedanke mit den Buchstaben, die ihn ausdrücken, zusammenfällt, und ebensowenig wie jener aus diesen, vermag der Geist aus dem Körper herausgeschält zu werden. Die altindische Philosophie hat hierin ziemlich klar gesehen. Die Theosophie hingegen hypostasiert bestimmte Phänomenalitäten zu metaphysischen Wirklichkeiten und kann nicht umhin, wo sie einmal diese Bahn betrat, eine regelrechte Skala von der Materie zum Geist zu konstruieren, was notwendig zu einer materialistischen Auffassung dieses führt. Sehr viele der theosophischen Lehren sind in solchem Verstande falsch. Nun können aber ungenau ausgedrückte, oder was Gleiches bedeutet, nicht vollständig verkörperte Ideen, wie oben ausgeführt, keine positiven und wohltätigen Lebensmächte werden. So bietet die Theosophie in ihrem augenblicklichen Zustand dem unerfahrenen Wahrheitssucher in der Tat keine förderliche Arbeitshypothese. Da die meisten dieser zwischen Ausdruck und Sinn, zwischen Tatsachen und reflektierter Theorie nur schlecht unterscheiden, so gehen sie mit Unvermeidlichkeit von unzutreffenden Grundvoraussetzungen aus. Dann schreiten sie, da der Ausgangsort die Zielsetzung bedingt, in hoffnungsloser Richtung fort, selten scharfsichtig genug, die wahre Lage auf halber Wegstrecke zu erkennen. Und dies ist noch nicht das Schlimmste. Der erfolgreiche Widerstand, dem sie überall begegnen, wo sie mit kritischen Geistern zusammentreffen, ruft nur zu oft fanatischen Dogmenglauben in ihnen wach, welcher Umstand mit Unvermeidlichkeit ihre Erkenntnisfähigkeit schädigt. So ist die Theosophie auf dem besten Wege dahin, noch bevor sie eine Periode vorurteilslosen Forschens durchmaß, zu scholastischem Systeme auszukristallisieren.

Ist hiergegen gar nichts zu tun?

O ja, doch nur in einem Fall: dass die Theosophie es sich zur Grundmaxime mache, von der Systematisierung abzusehen, bis dass die Tatsachen und ihr Sinn einigermaßen feststehen. Ihre größte Gefahr liegt im blinden Glauben an Autoritäten, zumal an die orientalischer Lehrer und Meister. Niemand bewundert Indiens große Denker mehr, als ich dies tue; ich wies schon darauf hin, dass wir ihnen die vollkommensten Ausdrücke für alle das Selbst betreffenden Wahrheiten danken, die wir bisher besitzen. Allein jene wahren Weisen sind nicht die Urheber der Systeme gewesen, die neuerdings von der Theosophie aufgegriffen und weiter ausgearbeitet wurden: diese sind von Kommentatoren zusammengezimmert worden, einer ganz anderen Sorte von Leuten. Diese waren keine Seher, wie ihre Meister — wären sie solche gewesen, nie hätten sie’s gewagt, die Sutras zu erklären; sie waren gute Logiker und Dialektiker, nicht mehr, gleich den meisten systematischen Philosophen. Daher konnten sie für ihre Person nicht einsehen, dass die höchsten Wahrheiten jenseits aller nur möglichen Systeme belegen sind, jenseits der Sphäre des Intellekts überhaupt, dessen Wege zu ihnen nicht hinanführen4. Keiner der vielen Kommentatoren war sich hierüber klar, und da keine Tatsache im Reich ihrer Gegebenheit ihnen zur Klarheit verhelfen konnte, so fehlte ihren logischen und dialektischen Betätigungen jede Hemmung. Auf diese Weise sind jene verschränkten und verstrickten Systeme der Metaphysik entstanden, die, lawinenartig an Umfang zunehmend, vom Altertum bis in unsere Zeit hinabgerollt sind; sie entsprechen überhaupt keinem realen Zusammenhang, dies sei denn durch Zufall. Die modernen Theosophen nun schauten angesichts der Schwierigkeit, ihre seltsamen Erlebnisse zu verstehen, nach solchen aus, die ihnen helfen könnten, wobei ihnen das Gleiche passierte, was den meisten jugendlichen Geistern widerfährt, die einem Buch begegnen, was eben das anscheinend ausspricht, was sie selber sagen wollen, aber nicht können: sie setzten von vornherein voraus, dass ihre Vorgänger ihr Ziel erreicht hätten. So übernahmen sie die überlieferten Systeme ohne Kritik. Die erste Folge dieses Vorgehens war nicht ohne Komik. Da sie von der Wahrhaftigkeit der Systeme überzeugt waren, so ging ihr persönliches Streben dahin, nicht die Tatbestände vorurteilslos zu erkennen, sondern vielmehr die Theorien Indiens oder des Mittelalters zu bestätigen. Und da es alle Zeit möglich ist, jede Tatsache mit jeder beliebigen Theorie zu vereinbaren, vorausgesetzt, dass man die Haltbarkeit des ausgespannten Gedankennetzes nicht kritisch untersucht, so gelang es ihnen wirklich, wenn auch noch so oft auf Kosten der Wahrheit, jene zu bekräftigen. Heute sind viele Phänomene in ihrem Bewusstsein von Interpretationen, die jenen vielfach in keinem Sinn gerecht werden, überhaupt nicht mehr zu trennen; schlimmer noch, manchmal wähnen sie die Richtigkeit als wahr vorausgesetzter Lehren eben dann zu bestätigen, wenn sie von Erlebnissen künden, welche jene recht eigentlich widerlegen. Dauert dieser Zustand noch lange an, so wird er der Theosophie nicht minder verderblich werden, wie der gleiche der Philosophie des Mittelalters in Europa und der aller Zeiten in Indien, seitdem die großen Lehrer dort ausstarben, verhängnisvoll geworden ist. Diese Gefahr ist desto größer, weil die empfohlene Methode der Meditation, genügend lange ausgeübt, unentrinnbar zur subjektiven Realisierung des vorgestellten Gegenstandes führt, so dass nicht außerordentlich philosophisch veranlagte Geister nicht umhin können, an die Wahrheit einer lange meditierten Doktrin zu glauben, da sie jene ja erfahren — mag sie im übrigen noch so irrtümlich sein. Freilich bedeutet Yoga-Praxis eine ausgezeichnete Übung für Seele und Geist, nur muss man wissen, wie man sie betreibt; nie darf sie in Selbsthypnotisierung vermittels unkritisch übernommener Vorstellungen bestehen. Solche nun tritt außerordentlich leicht ein, so oft einem das Ergebnis einer Versenkung vorausgesagt wird5. Nur wirklich starke Geister sind gegen diese Gefahr gefeit; gerade der Yogaschule selbst ist sie verderblich geworden. Patanjali, allem Anschein nach ein wahrhaft großer Geist, der seine Erkenntnis durch echte Selbstvertiefung, nicht durch Meditation überlieferter Theorien gewonnen hatte (der aber leider, gleich den meisten Lehrern von Genie, eben das für lehrbar hielt, was seinem Wesen nach unübertragbar ist), sagt irgendwo, nach Beschreibung seiner Vision des Sonnensystems:

All dies noch Ungesehene muss der Yogi schauen, indem er über dem Sonnensystem Samyama macht, und hierauf über anderen verwandten Gegenständen. Möge er üben, bis ihm dies alles sichtbar wird.

Nun, seine Jüngerschaft übte, und manchem unter ihnen ist dieses alles auch sichtbar geworden — jedoch in welchem Verstand? — In dem einer Halluzination. Dies erweist die Tatsache, dass kein Schüler weiter gelangt ist als der Lehrer, es sei denn im Sinn der Systematisierungsarbeit, die augenscheinlich nicht auf reicherer Erfahrung beruht. Innerhalb der modernen Theosophengemeinde treibt man’s nicht viel besser. Ein Erkenntnisfortschritt findet aus gleichen Ursachen kaum statt. Und doch sollte die Geschichte der indischen Philosophie zum warnenden Beispiel dienen. Man sollte doch einsehen, dass selbst wenn das heute anerkannte System im Ganzen richtig wäre, Samyama-machen über demselben nicht weiterbringen wird. Systeme sind bestenfalls richtige Interpretationen — was soll da deren Meditation? — Aus allen diesen Erwägungen heraus sollte die Theosophie, wenn sie das vorzeitige Systematisieren einmal nicht lassen kann, doch auf ihre Systeme möglichst geringes Gewicht legen. Wahrscheinlich sähen es viele ihrer Jünger gar nicht gern, wenn die Führer meinen Rat beherzigten, wollen sie doch nichts anderes als Erklärungen haben, welche sie blind glauben und bei denen sie sich ein für allemal beruhigen könnten. Überdies scheint es für den Intellekt kein schwereres Opfer zu geben, als das Sacrificium explicationis. Indessen, dieses muss manchmal gebracht werden. Hier, wenn irgendwo, ist Selbstbeherrschung durch Yoga am Platz. Nichts beweist eindeutiger die Unkultur eines Geistes, als die Unfähigkeit, solches Opfer zu bringen. Der Ungebildete erklärt immer und alles, er deutet, urteilt, verallgemeinert coûte que coûte, ohne auch nur ein klein wenig abwarten zu können. Aus diesem Grund erscheint Aberglaube unausrottbar, sind Frauen so viel systemsüchtiger als Männer. Der Gebildete vermag zu warten, bis dass er den Tatbestand erfasst hat und enthält sich jedes Urteils überhaupt, falls er erkennt, dass die Zeiten für ein abschließendes nicht reif sind, oder dass sein eigenes Erkenntnisvermögen dazu nicht taugt. Denn wenn vollkommen ausgedrückte Wahrheit auch jedermann einleuchtet, so vermögen nur sehr wenige den Ausdruck selbständig zu finden. Zweifelsohne wird unter den Theosophen irgendeinmal, falls ihre Lehre grundsätzlich zutreffen sollte, ein genügend starker Geist erstehen, um ihrer Wahrheit die entsprechende Fassung zu geben. Allein es lohnt sich nicht, diesem Ereignis vorzugreifen.

Was einem von Natur nicht liegt, gelingt einem doch nicht, man mühe sich ab so viel man mag; dabei leidet die Arbeit, der man gewachsen ist, unter der unfruchtbaren Kräfteverausgabung. Und dann kann die Theosophie, nach unerbittlichem Weltgesetz, vor der Stunde zu keiner wohltätigen Lebensmacht werden, bevor sie nicht ihren vollkommenen Körper fand. Dass dieser bisher noch aussteht, tut ihr keinen Abbruch, was immer ihre schüchternen Anhänger oder böswilligen Kritiker glauben mögen: jene hypersensitiven Naturen, welche erfahren können, was gröbere überhaupt nicht affiziert, sind selten im intellektuellen Sinne stark. Sie haben meistens etwas Weibliches, ihr sympathisches Nervensystem überwiegt das Gehirn, wie denn hellseherische Frauen zu aller Zeit häufiger waren als gleich begabte Männer. Was aber der Theosophie freilich Abbruch tut, das ist die Tatsache, dass ihre Jünger als offenbarte Lehren verkünden, was allergünstigstenfalls eine vorläufige Deutung bezeichnet. Die Tatsachen an sich selbst sind doch so wunderbar, dass sie auch ohne Deutung einem tröstlichen und förderlichen Glauben zum Gegenstand dienen können. Und da die meisten Theosophen im Grunde nichts anderes erstreben, als solchen Glauben, so sehe ich nicht ein, weshalb die Theosophie sich tödlichen Gefahren aussetzen will, indem sie, mehr lehrend als sie bis heute lehren kann, einen vermeidbaren Fehler nach dem anderen begeht.

1 Vgl. hierzu das erste Kapitel meiner Prolegomena zur Naturphilosophie.
2 Vgl. hierzu den Vortrag Sinn und Ausdruck in Kunst und Leben in dem Buche Schule der Weisheit (Darmstadt 1922).
3 Genaueres hierüber steht im Adyar-Abschnitt meines Reisetagebuchs.
4 Vgl. hierzu mein Reisetagebuch (man schlage im Register unter System und Wahrheit nach).
5 Vgl. meine Abhandlung Zur Psychologie der Systeme im Anhang zu Schöpferische Erkenntnis.
Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Für und wider die Theosophie
© 1998- Schule des Rades
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