Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

II. Von den Untergründen des Lebenskampfes

Überwindung der Höllenblindheit

Mit dem Kriege habe ich mich hier nicht näher befasst, denn dass es sich bei ihm um einen Ausbruch der Unterwelt handelt, so ideale Gesinnung sich gerade in seinem Bereiche äußert, liegt auf der Hand (SM, III). Selbstverständlich setzt der Krieg höchste und edelste Gefühle frei; Mut, Opfersinn, Freundschaftsethos, Vaterlandsliebe erblühen in ihm wie niemals sonst. Doch dies geschieht nicht, weil der Krieg an sich ein geistig Wertvolles wäre, sondern weil gerade die reine Unterweltlichkeit seines Charakters, sein Schauerliches und Scheußliches den Licht-Geist zur Überwindung der Höllenblindheit anfeuert. Deswegen beweist es Irrsinn, so einer um der hohen Tugenden willen, welche der Krieg weckt, den Krieg verherrlicht. Selbstverständlich liegt das geistige Ideal darin, für alle Zukunft Kriegsgreuel auszuschließen. Und dieses Ideal ist in der Vergangenheit nicht unfundiert. Heute wissen wir, dass die Mehrheit der sehr alten Menschengemeinschaften wesentlich friedlich war, wie es einerseits die Eskimos, andererseits die Inder heute noch sind, und dass das Bekenntnis zur Gewaltanwendung großen Stils beinahe überall mit dem Vorherrschend Werden reitender oder seefahrender Nomadenvölker zusammenhängt. Der tierische Vorfahre des Menschen war so gut wie sicher unkriegerisch, und die brutal-groben und menschenaffenähnlichen Vorformen, die Paläontologie ausgegraben hat, stellen zweifellos verhärtet-spezialisierte Abzweigungen vom Grundstamm, nicht unsere direkten Vorfahren dar. Zur Zeit, da er sich aus der Tierheit herausdifferenzierte, war der Mensch nicht aggressiv, sondern im höchsten Grade sensitiv (SM, VIII); es waren die Eigenschaften, die unter Menschen heute noch das Weib, den phylogenetisch älteren Typus (SM, II), im Unterschied vom Manne kennzeichnen, eine mehr weibliche als männliche Klugheit und Weisheit, ein bei keinem anderen höheren Organismus vorhandenes Anpassungs- und Hingabevermögen an alle Erfahrung, dank denen sich das von allen ursprünglich schwächste und waffenloseste Tier auf Erden behaupten konnte. Wahrscheinlich ist die wachsende Bedeutung der Gewalt und der Gewaltmittel in der Geschichte biologisch ähnlich zu deuten, wie das Riesenhaft- und Immer-mehr-gepanzert-Werden der ursprünglich kleinen und zarten Saurier. In der bisherigen Erdgeschichte aber sind alle zu groß und zu hart und zu Gewaltfreudig gewordenen Wesen sehr schnell ausgestorben, denn nur Plastizität und Wandlungsfähigkeit gewährleisten dem Leben Dauer inmitten der Übermacht des Unlebendigen … Nun gibt es freilich kein Zurück zum Ursprung. Das geistige Ideal, für alle Zukunft Kriegsgreuel auszuschließen, ist auf unserer jetzigen Organisations- und Spezialisierungsstufe unverwirklichbar. Doch wenn dem also ist, wenn der beste Geist des heutigen Menschen im Frieden gar leicht verkümmert, so beweist dies eben nur, wie tief verstrickt in seine böse Unterwelt der heutige Mensch ist. Die Unterwelt fordert Greuel um ihrer selbst willen, der Geist im Menschen aber braucht wiederum die Spannung zu ihr, um auf seiner Ebene zu wachsen. Im Zusammenhang vorliegender Betrachtungen sei insbesondere daran erinnert, wie notwendig Fäulnis, Unflat, und Schmutz zum Krieg gehören.1 Nichtsdestoweniger bejaht zutiefst jeder junge Mann den Krieg, gerade auch in diesem seinem Aspekt, so wie jedes junge Weib die Begleiterscheinungen des Gebärens bejaht.

Das hier noch so kurz Angedeutete sollte genügen, um jedem, welcher guten Willens ist, den Weg dahin zu weisen, wie er selber mit dem Probleme fertig wird. Das Entscheidende hierbei ist die Erkenntnis, dass das geschilderte Unterweltliche im selben, aber auch in keinem anderen Sinn zum Menschen gehört, wie seine Darmtätigkeit; an sich ohne persönliche Bedeutung, gewinnt sie solche erst durch das, was die Inder Nicht-Wissen hießen. Doch die indische Lösung, die bloße Enthaftung des inneren Menschen von allem Nicht-Ich bedeutet, ist keine generelle Endlösung. Es gilt sich einzugestehen, dass dieses Nicht-Ich in allem seinem Bösen und Häßlichen doch unablöslich zum Menschen gehört und dieses Schicksal auf sich zu nehmen — so erst ist der Prozess der Verpersönlichung eingeleitet, auf welchen es überall zur Erfüllung des Lebens nicht allein letztlich, sondern auch einzig ankommt. Den ersten Anfang zur Absteckung eines heutigen Menschen gangbaren Wegs zur Selbsteinkehr gemacht zu haben, ist der unsterbliche Ruhmestitel der Psychoanalyse. Doch deren Deutungen versagen gar oft, und den Weg zur Seelsorge hat sie nie gefunden, konnte sie nicht finden. Allzu ausschließlich hat es sadistische Naturen in diesen Beruf gelockt und unwillkürlich steigern solche durch ihren Einfluss den bösen Charakter des Unterweltlichen. Noch negativer muss das Gesamturteil über die bisherige Charakterologie lauten. An sich brauchte sie nur eine sehr nützliche theoretische Disziplin zu sein. Doch bei allzu vielen Charakterologen bedeutet das Interesse für die Unterwelt eine Auswirkung des Unterweltlichen selbst. Sie wollen herabziehen, für Hohes niedere Triebfedern feststellen, Strahlendes schwärzen. Natürlich gelingt das ihnen, denn das meiste Unterweltliche ist häßlich, wie es das Leben der Gedärme ist. Nur ist eben mit solchen Feststellungen und Zurückführungen nicht das mindeste geleistet und gewonnen. Alles kommt darauf an, welches Oberweltliche dank diesem (unterweltlichen lebt und wie sich der Gesamt­organismus gestaltet. Statt aller weiterer Erörterungen gebe ich an dieser Stelle eine alt-orientalische Legende wieder, welche Ouspensky (New Model of the Universe, p. 146) ausgegraben hat.

Die ganze Welt war erschüttert durch das Wunder des Exodus, der Name Moses war in aller Munde. Die Kunde vom großen Wunder erreichte den weisen König von Arabistan. Dieser ließ sich nun seinen besten Maler kommen und sandte ihn zu Moses, um sein Porträt zu malen und es ihm zurückzubringen. Als der Maler wiederkehrte, versammelte der König alle Weisen und alle Wissenden der Physiognomik um sich und forderte sie auf, nach dem Bilde den Charakter des Moses, seine Vorzüge, Neigungen, Gewohnheiten und die Quelle seiner wunderbaren Macht zu bestimmen. O König, antworteten die Weisen, dies ist, das Abbild eines grausamen Mannes, welcher hochmütig, nach materiellen Gütern gierig und von Machtlust und allen Lastern der Welt besessen ist. Diese Worte empörten den König: Wie kann es sein, rief er aus, dass ein Mann, dessen großartige Taten im Weltall widerhallen, also geartet sein soll? Es setzte ein Streit ein zwischen dem Maler und den Weisen. Der Maler blieb dabei, dass sein Porträt des Moses wirklichkeitsgerecht war, während die Weisen bei ihrer Behauptung beharrten, dass sie des Moses Charakter nach dem Porträt fehlerfrei bestimmt hätten. Da beschloss der weise König von Arabistan, festzustellen, welche der streitenden Parteien recht hatte, und er selbst begab sich ins Lager von Israel. Beim ersten Blick erkannte er, dass des Moses Gesicht vom Maler fehlerfrei wiedergegeben worden war. Als er das Zelt des Gottesmannes betrat, verneigte er sich zur Erde und berichtete Moses den Streit zwischen dem Künstler und den Weisen. Zuerst, bevor ich dich selber sah, meinte ich, dass der Künstler ein schlechtes Bild gemacht haben müsste, denn meine Weisen sind in der Wissenschaft der Physiognomik vielerfahrene Männer. Nun bin ich zur Überzeugung gelangt, dass sie gar nichts taugen und dass ihre Weisheit eitel und wertlos ist. Nein, erwiderte Moses, so ist es nicht; sowohl dein Maler als deine Physiognomiker sind äußerst fähig, und beide Parteien haben recht. Es sei dir hiermit kund und zu wissen getan, dass ich mit all den Lastern, von denen deine Weisen redeten, von der Natur in der Tat begabt worden bin und vielleicht in höherem Grade noch, als sie aus meinem Bildnis herauslasen. Doch ich habe mit meinen Fehlern und Lastern solange in stärkster Willensanstrengung gekämpft und dieselben schrittweise überwunden und entmachtet, bis dass ihr Gegenteil mir zur zweiten Natur ward.

Jedes Wort mehr könnte den Eindruck dieser Erzählung nur abschwächen. Der Fall Moses, wie er hier geschildert wird, ist prototypisch und paradigmatisch für schlechthin jeden Menschen in seiner ursprünglichen Gegebenheit und seiner Möglichkeit. Bei bedeutenden Menschen gilt dies insonderheit gerade von der ursprünglichen Vorherrschaft böser Triebe. Noch gab es keinen großen Mann, mit der einzigen Ausnahme der halb im Jenseits verankerten Heiligen-Naturen, der nicht mit extrem starken Trieben ausgestattet gewesen wäre. Sie alle aber sind, aus dem Zusammenhang gerissen oder überwuchernd, unzweideutig böse. Falsch ist allein die ja heute noch von den meisten verfochtene Theorie, dass direkte Bekämpfung die Natur verändert. Die Untergründe als solche sind unverwandelbar; so böse sie seien, sie können an ihrem Ort nicht anders sein, als wie sie sind. Je mehr sie vom Bewusstsein geleugnet oder in ihrer Existenz bedroht werden, desto mehr erstarken sie in ihrer Eigenart.2 Worauf es ankommt, ist die Urkraft dem Geiste dienst- und nutzbar zu machen. Deswegen frommt ihnen gegenüber grundsätzlich nur Generosität — welche Moses ja wohl selber, ohne es zu wissen, geübt hat, da er ein Mann des öffentlichen Lebens war und berufsmäßig mit Gana-Motiven operieren musste; Hass und Kampf isolieren und steigern die Triebe in ihrer Eigengesetzlichkeit, und so kommt es zuletzt dahin, dass ihr Böses auch das Oberweltliche durchdringt und schließlich überwältigt. Im übrigen gehört ihr Grauenhaftes, noch einmal, genau so zum Menschenwesen, wie das Sterben und das Töten-Müssen.

Dies gilt es auf sich zu nehmen. So auf sich zu nehmen, wie der Menschensohn liebevoll die Schuld aller Menschen auf sich nahm. Leuchtet an dieser Stelle nicht blitzartig die ganze Größe und Tiefe des christlichen Erlösermythos auf und ein? Wie immer es mit dem einmaligen geschichtlichen Ereignis bestellt sei — der Weg Jesu ist Sinnbild für den Weg, welchen jeder gehen muss, welcher als der, welcher er ist, des Heils teilhaftig werden will. Durch rechtes Denken und rechtes Sich-Versenken kann man die Menschennatur so sehen, wie sie wirklich ist, und damit einer Verschiebung der rechten Verhältnisse zwischen Ober-, Mittel- und Unterwelt vorbeugen, dank welcher Verschiebung allein das Natur-Häßliche Geist-häßlich und das Natur-Böse spirituell böse wird. Diese Vorbeugung aber kann nur durch ein Band der Sympathie gelingen, das vom gutwilligen Geist zwischen dem tiefsten Selbst und der Natur, in der er verkörpert erscheint, geschaffen wird. Tritt solche Liebe zur Einsicht hinzu, dann transfiguriert sie, früh oder spät, die ganze Natur. Den Weg dahin beschreibt am besten die indische Karma-Lehre. Je energischer ein Mensch der Vergeistigung zustrebt, desto früher offenbaren sich von Fall zu Fall die Konsequenzen jedes Fehlurteils und jedes Irrwegs, desto schneller schlägt das Schicksal zurück. Hier bedeutet blitzschnelle Sühne höchste Gnade. Dank solch psychochemischem Prozess nun wird aus Zwiespalt auf die Dauer Einklang. Vorhin sagten wir: der Körper des persönlichen Lebens baue sich auf aus der Summe der freiwillig getroffenen inneren Entscheidungen und dem Zusammenhang der inneren Haltungen gegenüber dem Nicht-Ich. Jetzt können wir die ganze Tragweite dieser Bestimmung verstehen und zugleich die Verderblichkeit falschen Denkens und falscher Entscheidung in ihrem ganzen Umfang grundsätzlich ermessen. Der Körper des eigentlich persönlichen Lebens liegt auf ganz anderer Ebene als alle ursprüngliche Natur- und Geistgegebenheit. Er ist ganz und gar die Schöpfung persönlicher Einstellung, persönlicher Einsicht, persönlicher Entscheidung, persönlicher Haltung. Persönlich und letztlich ist der Mensch das allein, wofür er sich in sich entschied und auf das er alsdann alle Gegebenheit, dieselbe verwandelnd, zurückbezieht (W, 236 ff.). So stellen denn die grauenhaften Tatsachen und Notwendigkeiten, welche wir schildern mussten, für das persönliche Leben keine letzte Instanz dar. Mehr noch: dieses thront ursprünglich oberhalb ihrer. Der Mensch muss sich nur persönlich ganz zu eigen machen, ganz zueignen, was dem Selbste zunächst als verkrampfte Vielfalt gegeben ist und diesen Krampf auf höherer Ebene lösen. Das ist der wahre Sinn des christlichen Begriffes vom Erlöser. Der Mythos vom Mittler ist eine für das Bewusstsein gewisser Stufen wohl notwendige Hilfskonstruktion. Zunächst offenbart sich jedes neue Zentrum in der Seele als ein anderer. Aber mit diesem anderen gelingt auf höchster Stufe Verschmelzung. Das nunmehr gebildete, vollkommen persönlich gewordene und als solches nichts mehr ausschließende Selbst nimmt freudig alle Schuld auf sich, so wie sie ist, und damit erledigt sie dieselbe. Es nimmt den Tod auf sich und damit überwindet es ihn schon jetzt, wie die griechisch-orthodoxe Dogmatik lehrt, in diesem Leben. Für sein höchstpersönliches Selbst hat oder gewinnt alles, was es erfährt, persönliche Bedeutung — auf dem Gebiet des lebendigen Geists aber schafft die Bedeutung den Tatbestand.

1 Am besten schildert diese Seite des Krieges Helen Zenna Smith in ihrem Buche Not so quiet (französische Ausgabe Pas si calme…, Librairie Stock, Paris). Gemäß deren Schilderung gelangten zarteste Krankenschwestern aus feinsten englischen Häusern an der Front unwillkürlich dahin, gerade beim Widerlichsten zu verweilen und in Ausdrücken zu reden, welche Männer im Frieden nur im Trunkenheitszustand in den Mund nehmen.
2 Dies ist der tiefste Sinn des von Coué entdeckten Gesetzes des effort converti, gemäß welchem Leberspannung des Willens auf ein Ziel gerade das Gegenteil des Erstrebten zur Folge hat. Vertieft und verfeinert hat Coués Erkenntnisse neuerdings E. Graham Howe in seinem Buch I and Me (London 1935, Faber and Faber).
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
II. Von den Untergründen des Lebenskampfes
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