Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

VI. Weltfrömmigkeit

Religion und Religiosität

Die eigentliche Geist-Tradition Europas ist nicht nordisch, sondern mittelländisch, das heißt im großen ganzen romanisch und nicht germanisch. Denn in der romanischen Tradition allein leben griechische Geistigkeit, griechischer Schönheitssinn, israelitisches und römisches Ethos, christliches Pathos und christliche Religion als Hauptdominanten ursprünglich und lebendig fort.1 Nachdem Bergson zuerst, noch vor der Jahrhundertwende, bewies, dass die Erinnerung unabhängig vom Gehirn und in eigener Sphäre selbständig lebt, hat heute die Tiefenpsychologie die letzten Bollwerke des Glaubens, dass psychische Tradition und Blut notwendig und unablöslich zusammenhängen, widerlegt. Die Seele und mit ihr die Tradition ist ein dem Blut gegenüber Selbständiges, und nur ungebrochene Tradition kann Geistesinhalte fixieren, was ja, wie wir sahen, beim Menschen nur auf der Ebene der Seele gelingt. Deswegen konnte ein Pharaonenvolk ohne biologische Änderung zu einem Fellachenvolke, konnten Sarazenen zu Beduinen werden, sanken alle verelendeten Oberschichten aller Zeiten regelmäßig unter totalem Verlust ihrer Kulturvorzüge für immer in die Masse zurück. Insofern also die Tradition entscheidet, darf man sagen, dass nur die primordialsten Ausdrucksformen des Geistes, der Mut und der Glaube in ihrer spezifisch europäischen Artung, nordisches Urgut sind, und deshalb sind es bis heute diese beiden Ausdrucksformen des Geistes allein, welche als nordische Gene an der Bildung der geistigen Erbmasse Europas mitgebaut haben; denn die Sonderlichkeit des späteren europäischen Glaubens und Muts ist unzweifelhaft nordischer Artung. Die Werte nun, welche diesen Geist-Formen entsprechen, mag man Vitalwerte heißen, weil sie sich unmittelbar mittels des ausströmenden Lebens ausdrücken und nicht durch Distanzierung diesem gegenüber verwirklicht werden. So finden wir noch heute die englische Kultur fast durchaus an den Vitalwerten des konkreten Gentleman-Typus und erst sekundär an deren Korrelaten wie Ehre, Gerechtigkeit, fair play orientiert. Bei den heutigen Deutschen sind die Selbstvorstellungen und Wunschbilder der englischen Wirklichkeit ähnlich; von der deutschen Wirklichkeit gilt dieses jedoch nicht. Was den Deutschen macht, ist nicht, was er mit anderen nordischen Völkern gemein hat, sondern das Weiche und Germinale, und deshalb so ungeheuer für Geist Empfängliche, das wir vorhin beschrieben haben; es ist das weibliche Korrelat zum männlich-Nordischen, welch letzteres nun mehr in Form von verhältnismäßig seltenen kriegerischen und heldischen Sondertypen in Deutschland fortlebt. Doch in der weiblichen Modalität tritt der nordische Naturismus, wie man, hierin dem französischen Historiker Seillière folgend, die Orientierung an Vitalwerten wohl bezeichnen mag, desto reiner zutage, weil eben das Weib naturhafter ist als der Mann. Und dieser Naturismus ist es, von welchem jeder Deutsche in der Selbstbildung ausgehen muss. Vom Naturismus und nicht von der Geistigkeit.

Naturismus geht physiologisch notwendig mit religiöser Unbegabung zupaar. Hier kann man von den freilich vorhandenen Ausnahmen nicht einmal sagen, dass sie die Regel bestätigen: sie gehören allemal entweder einer höheren Daseinsebene umfassenderen Menschentumes an, auf welcher die für die bisherige Menschheit typische Antithese Naturismus-Religiosität in einer Synthese höheren Grades aufgehoben und damit erledigt wird, oder aber sie betreffen aus der Art Geschlagene. Der Mensch ist nun einmal — wenn man seine Vielfalt und Vielschichtigkeit aus Zweckmäßigkeitsgründen für dieses eine Mal auf eine verkürzte Zweiheitsformel bringen will — einerseits Erd-, andererseits Geistwesen, und je nachdem, wo der Begabungs- und Bedeutungsakzent in seinem psychischen Gesamt­organismus ruht, erscheint er verschieden orientiert. Ist er’s dem transzendenten Geiste zu, dann bedeutet ihm die Welt seiner geistentsprossenen inneren Bilder alles, und die Natur ist ihm theoretisch Maya oder Sünde oder Fessel, praktisch mehr oder weniger gleichgültig. Solche Einstellung hat in erster Linie die Völker des Ostens gekennzeichnet, deren Anschauung zum Satze ex oriente lux geführt hat. Das waren alles nicht nordische oder nordisch verbliebene Völker, woher immer sie ursprünglich stammen mochten. Wir wissen heute, dass die spezifisch indische Religiosität in allen ihren noch heute lebendigen Formen im Industal schon lange vor der arischen Einwanderung lebte. Die (später halb oder ganz vergessenen) importierten arischen Nomaden-Götter sind kaum als echt religiöse Gebilde zu werten: sie waren in eine Überwelt projizierte sehr erdhafte Heldengestalten, den ur-germanischen und den homerischen Göttern naheverwandt, von denen das spätere wissendere Indien lehrte, sie seien diesseits der Schöpfung entstanden und ständen grundsätzlich, trotz größerer Natur-Gewalt, nicht über, sondern unter dem Menschen. Erst nachdem der erdzugekehrte und deshalb scharf beobachtende Ariergeist mit dem tiefen autochthon-indischen Bewusstsein des Übersinnlichen zu verschmelzen begonnen hatte, entwickelte sich jene einzigdastehende Verbundenheit (re-ligio) mit dem Transzendent-Geistigen, dank welcher der Hinduismus, was immer gegen Einzelformen desselben zu sagen sei, als bisheriger Höchstausdruck menschlicher Religiosität gewertet werden muss. Nirgends anderswo unter Menschen ist das Bewusstsein der unirdisch-geistigen Wirklichkeit im Menschen auch nur annähernd gleich hell und differenziert erwacht und so ausschließlich lebensbestimmend geworden. Das Verdienst der (gewiss nie zahlreichen) arischen Einwanderer bei diesem Prozess erschöpft sich dabei wohl in dem freilich sehr Beträchtlichen, dass dank ihm solarer und rationaler Geist in der ursprünglich wahrscheinlich ganz irrationalen und lunaren indischen Geistigkeit mitbestimmend und dort, wo dies physiologisch möglich war, richtunggebend wurde. Doch der eigentliche nordische Naturismus — so weit er sich nach so langen Wanderungen in südlichen Breiten noch erhalten hatte — ist in Indien restlos eingeschmolzen worden. Jeder echte Inder ist wesentlich Jenseits-, nicht Diesseits-zugekehrt.

Zwischen reinem Naturismus und reiner Religiosität, zwischen Chthonismus und Geistbezogenheit gibt es natürlich viele Übergänge und Zwischenglieder, denn Nicht-Irdisches und Irdisches gehören beide als integrierende Bestandteile zu jedem Menschen. Ein solches Zwischenglied stellt das wundervolle Welt-Gefühl Alt-Chinas dar, das zwischen Geist und Erde niemals reinlich unterschied, beide aber intensiv erlebte und von dieser Mitte her eine allbejahende aber kaum differenzierende Einstellung zu allem Wirklichen gewann, auf welche kein europäischer Begriff auch nur einigermaßen passt. Einen anderen Übergang bezeichnen die alten Perser und Juden, deren Urvorstellungen viel verwandter waren, als man gemeiniglich glaubt. Beide legten den Akzent auf das ethische Problem: dieses aber ist das Grenzproblem zwischen Geist und Erdwelt, der genaue Ort, an dem sich die letzte Inkompatibilität von Geist- und Erdnorm am allerschärfsten äußert (W, II, 8). Der wesentlich Religiöse stellt das ethische Problem auf solche Weise nie, wie dies denn auch Jesus nicht tat, denn sein ganzes Interesse gilt dem Transzendenten an sich. Umgekehrt ist der wesentlich Chthonische notwendig amoralisch, denn vom Standpunkt der Erde ist alles das nicht Sünde und nicht Schuld, was aller höheren Religion als solche gilt. Immerhin waren Perser und Juden tief religiös und vor allem religiös bestimmt. Fraglich ist schon, ob wir die Tibetaner, deren seltsame Eigenart wir dank Alexandra David-Néel so gut kennen, als religiös bezeichnen dürfen: ich wage kein abschließendes Urteil, jedoch mein Eindruck ist der, dass sie eigentlich an nichts glauben, sondern nur auf unerhörte Weise die abnormen oder sonst selten gewordenen psychischen Natur-Kräfte beherrschen, welche sonst im Dienste der Religion stehen (man gedenke der echten indischen Yogis, welche wirklich ent-welten wollen: ihnen gegenüber wirken die tibetanischen als Sportsleute!). Ein völlig Einzigartiges stellt die urgriechische Religiosität dar: diese Menschheit war unzweifelhaft von Göttlichem ergriffen, doch dank ihrer unerhörten, alle anderen überwuchernden bildnerischen Begabung verkörperte sich ihr Erleben sofort in Kulten und Mythen, so dass bald nur als Kunst fortlebte, was ursprünglich echte Religion war.2 Die nordischen, besonders die germanischen Völker nun waren im selben Sinne extrem Natur-zugekehrt, wie die Inder extrem Geist-zugekehrt waren. In der ganzen nordischen Mythologie, im ganzen nordischen düsteren Schicksalsgefühl gibt es nichts, was auch nur einigermaßen einen Vergleich mit orientalischer Religiosität zuließe.3 Hiermit gelangen wir denn zur Begründung unserer Behauptung, dass Naturismus typischerweise mit religiöser Unbegabung zupaar geht. Zu jeder Erfahrung bedarf es spezifischer Begabung; die Behauptung, jeder könne, wenn er nur wolle, Gott schauen, ist ebenso unsinnig wie die, dass jeder in sich magische Kräfte heranbilden oder zum großen Musiker, Techniker oder Maler werden könne. Freilich sind die Hauptorgane der Erfahrung bei jedem vorhanden, obgleich schon der Unterschied zwischen Weit- und Kurzsichtigen, zwischen Hell- und Schwerhörigen viel größer ist, als die meisten glauben. Doch gerade bei der Religiosität scheinen die Dinge ähnlich zu liegen wie bei der Musik: man ist entweder musikalisch oder unmusikalisch. Es gibt, Völker, welche häufiger als andere musikalische Begabungen hervorbringen; so gibt es religiös begabte und religiös unbegabte. Die nordisch-germanischen nun haben bis auf äußerst seltene Einzelfälle nie auch nur annähernd die gleiche religiöse Begabung bewiesen, wie die des Ostens und Südostens. Und für mich persönlich besteht überhaupt kein Zweifel darob, dass unter allen lebenden Germanen oder Halb-Germanen die Deutschen die religiös unbegabtesten sind. Zum Teil hängt das offenbar mit der Weichheit des deutschen Gemüts zusammen, welche festes Glauben schwierig macht. Es scheint nicht möglich, die innere Welt so zu fixieren, wie dies erforderlich ist, auf dass sie einen tief ergriffe, ohne dass eine wohlausgebildete und starke Funktion des Glaubens, welche in der Vorstellungswelt das Korrelat des Seins schafft (U, III), die betreffenden Vorstellungen festzuhalten erlaubte. Das deutsche Gemüt kann schwer irgend etwas festhalten, denn jedes neue Erlebnis rührt es aufs neue um. Zu diesem Gebrechen aber tritt offenbar natürliche Unbegabung. Man missverstehe mich hier nicht: ich rede ausschließlich von religiöser Unbegabung, nicht von Irreligiosität. Gottsucher sind in Deutschland überaus häufig, nur Gottfinder sind selten. Und das Finden Gottes wird bei uns dadurch maßlos erschwert, dass nirgends anders so reichlich und so oft seitens Unberufener über Religion geredet und geschrieben wird. Welch schauerlich primitiver Götzendienst wird nicht mit dem armen Goethe getrieben! Über den Goethe-Kult der Salons, der Presse, des ganzen Bildungsphilistertums als damals populärsten Religionsersatzes schrieb in der Zeit seines Todes-Jubeljahrs Richard Müller-Freienfels treffend:

Vielleicht merken die guten Leute selbst nicht, wie sehr dieser Kult den Religionsformen, die sie durch Goethe totschlagen wollen, ähnlich ist. Denn treiben sie nicht den gleichen Buchstabenkult, den gleichen Dogmenkult den gleichen Reliquiendienst, den sie anderen Religionen vorwerfen? Man zitiert Goethe, wie man ehemals die Bibel zitierte. Man hängt sein Bild in die Wohnungen, wie man Marienbilder aufhing. Man bewahrt seine Briefe und Wäscherechnungen als Reliquien. Es ist ein jämmerliches Schauspiel zu sehen, wie ein wahrhaft Großer also zum Religionsersatz herabgewürdigt wird.

Aber was wird in deutschen Landen nicht also als Religion missverstanden? Ein wirklich großer deutscher Dichter schrieb neulich in ein Stammbuch Kunst ist Religion. Ein weitbekannter Kritiker: Der Theaterregisseur muss ein religiöses Verhältnis zur Bühne haben. Und man braucht bloß der trostlosen Kirchenstreitigkeiten der Jahre 1933/35 zu gedenken, allwo politische Gesichtspunkte als religiöse Motive anerkannt wurden, wo geradezu entsetzlich viele Gottesmänner jeden Sinn für die absolute und intrinseke Bedeutung der Religion und Religiosität unabhängig von allem weltlichen Geschehen vermissen ließen, und wo einer von ihnen gar am Karfreitag predigen konnte — man entsinne sich demgegenüber der Worte Pauli

Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn nicht geschont hat — am Karfreitag hat sich die schonungslose Sachlichkeit Gottes offenbart —:

man braucht nur dieses unbestreitbar National-Typischen zu gedenken, um keine Zweifel über die religiöse Unbegabung des Deutschen übrig zu behalten. Die Deutschen sind eben kein ursprünglich religiöses Volk, sondern — soweit sie sich doktrinär für Gott interessieren — ein Volk von Theologen. Die Sehnsucht nach Religion, welche freilich in ihnen lebt, verführt sie aber leicht dazu, lyrischen Überschwang mit Religion zu verwechseln, worin der Urgrund der meisten deutschen Schwarmgeisterei zu suchen ist, oder soziale Fürsorge als religiöse Betätigung misszuverstehen, oder in der Kirche als Anstalt deren Wesen zu sehen — einer von Luthers vielen Irrtümern — oder endlich als dem Christentum gleichwertige Religion anzusehen, was nie Religion sein kann. Im übrigen hat Berdjajew soeben (1936, in einem zunächst nur russisch erschienenen Buch Ich und die Welt der Objekte, S. 36/37) nachgewiesen, worin Luthers tiefstes religiöses Missverständnis lag: er schrieb alles der Gnade zu, ließ keinerlei Raum für die schöpferische Freiheit des Menschen übrig. Berdjajew fährt dann fort:

Bei Luther gibt es keine Wechselwirkung der zwei Naturen, der göttlichen und der menschlichen. Im deutschen Idealismus setzt diese Tendenz sich fort. Die lutherische Gnade, als einziger Quell alles Guten, wurde säkularisiert und auf die Erkenntnis angewandt. Das transzendentale Bewusstsein, die Weltvernunft, der Weltgeist — alles das ist jene säkularisierte Gnade, und sie gilt als Quell der Erkenntnis, nicht der Mensch. Bei Hegel ist völlig deutlich, dass Gott selbst erkennt, die göttliche Vernunft, nicht aber der Mensch. Es ist so, als ob dieser selbst gar nichts in den Erkenntnisprozess hineintrüge… Trotz der bis zum äußersten übersteigerten Aktivität des Subjektes (das aber nicht im Menschen liegt!) ist der Mensch passiv, er führt nur die Gebote des transzendentalen Bewusstseins aus. —

Dieser Gedankengang Berdjajews, den ich hier leicht gekürzt und zusammengezogen wiedergebe, beleuchtet besonders grell sowohl die typisch-deutsche Akzentlegung aufs Er-Leben anstatt aufs Leben, welche Passivität oder Pathik bedingt, als auch die deutsche Unbegabung für Religion.

Diese nun äußert sich in der Geschichte als schlechthin durchgehendes Phänomen. Sogar zu den Zeiten Deutschlands, welche unbestritten als tief religiös gelten, war dies nicht anders. Wohl hat das Deutschtum im weitesten geographischen Verstand zeitweilig die ergreifendste religiöse Malerei und später die tiefste religiöse Musik Europas hervorgebracht. Doch das lag daran, dass die Maler und Musiker von dazumal, durch Bindung an die blind geglaubte Autorität der christlichen Heilslehre im Sinn von deren Tradition in Form gehalten, von dieser Autorität unbewusst und unwillkürlich inspiriert wurden. de facto, mit ihm selbst oft völlig unbekannten und unzugänglichen Teilen seines Wesens, hat ja jeder an schlechthin aller Wirklichkeit teil. So partizipiert auch jeder Deutsche an der religiösen. Doch seine besondere Veranlagung bedingt, dass diese Teilhabe in ihm nicht unmittelbar produktiv wird; erst in der Hingabe an das seiner Natur von Hause aus fremde Christentum gelang es ihm bisher — mit der einzigen Ausnahme der sämtlich aus der Art geschlagenen wenigen großen Mystiker — eine Verbindung herzustellen zwischen transzendenter Wirklichkeit und irdischem Leben. Und dann äußerte sich das Religiöse nicht direkt produktiv, sondern so, dass es andere Begabungen, so vor allem die malerische und musikalische, inspirierte. Wie durchaus diese Deutung zutrifft, erweist an erster Stelle der einzigartige Naturalismus der großen deutschen bildenden religiösen Kunst, darunter am eindrucksvollsten die geradezu naturwissenschaftlich metikulös-exakte Darstellung der Hölle; weniger deutlich, aber für den, der da weiß, was Religion wesentlich bedeutet, nicht weniger abschließend, der rein lyrische Charakter deutscher religiöser Dichtung, endlich die Tatsache, dass überhaupt die Musik zum individualisierten Sprachrohr des Göttlichen hat werden können: denn an und für sich gibt die Musik mehr als jede andere Kunst nur erdhaftes Erleben wieder; ihre Gesetze und Normen sind identisch mit denen der physischen Außenwelt, und ihre direkte Wirkung geht nicht auf den Geist, sondern die erdbedingte Seele und mittels des Rhythmus direkt auf den Körper. Aber das gleiche Fehlen einer unmittelbaren religiösen Beziehung zum Transzendenten lässt sich auf allen nur möglichen Gebieten und Ebenen nachweisen. Jeder tief und original Religiöse bedarf grundsätzlich keiner Vermittlung, um der religiösen Wirklichkeit innezuwerden: in ihrer Mehrzahl und in ihrer ganzen Lebensordnung religiös inspiriert waren die Deutschen nur, solange die Autorität der Kirche ihnen die Form gab. Dies galt zumal von der mittelalterlich-katholischen, deren Willen und Einfluss sich der damalige Deutsche hingab, wie das Weib dem Manne (wohlgemerkt: der Ur-Begriff Autorität hat den Sinn von Lebensweckung und -mehrung, Befruchtung der geistigen Existenz des Menschen). Wie nun Luther den Bau jener Kirche für seine Nachfolger niederriss, da legte er sich alsogleich auf eine Autorität als die einziggültige fest, welche kein wahrhaft Religiöser je als solche anerkennen kann: die wörtlich, ja wortwörtlich verstandene Schrift. Denn echt Religiösen kann nämlich jedes Bild, zu dem auch das Wort gehört (SM, XI), immer nur Sinnbild sein; die Frage des Buchstabenglaubens stellt sich ihm überhaupt: nicht. So ereignete sich die schauerliche Groteske, dass Textexegese, also Philologie, bei Deutschen eine Religion zersetzen konnte. Sobald ein bestimmter Dogmenglaube erschüttert war, stand der Deutsche plötzlich religionslos da — ein Unglück, wie es keinem Inder, keinem Perser, keinem Russen, keinem Araber, keinem echten Juden und auch keinem sonstigen Abendländer hätte passieren können. Man wähne ja nicht, das Glauben sei eben doch geblieben und damit die Religiosität: das spezifisch deutsche Glauben als solches — hier füllen wir eine Lücke aus, die eine frühere Auseinandersetzung mit dem nordischen Anteil am Europäertum bestehen lassen musste — ist wesentlich kein religiöses Glauben. Es ist ein Glauben der Art, wie ihn zur Zeit, da ich dieses schreibe, der Nationalsozialismus und die Person Adolf Hitlers beschwören und bannen. Mit vollem Rechte fragte einer der obersten Führer der Bewegung 1935, als er sich mit den Kirchenstreitigkeiten auseinandersetzte, wo denn mehr Glauben zu finden sei, bei den Nationalsozialisten oder den Kirchenmännern, und antwortete mit gleichem Recht: Meiner Ansicht nach bei uns. Nur ist eben dieser wahrhaft lebendige deutsche Glaube kein religiöser Glaube.

Es ist absolut unmöglich, zu Irdischem eine religiöse Beziehung im selben Sinne zu haben wie zu Nicht-Irdischem. All die erdschweren Göttergestalten, die in frühen Zeiten freilich religiöses Erleben vermittelten, waren Sinnbilder für Geistiges. Mythen gar entstehen ausschließlich so, dass eine Menschheit von inneren Bildern ergriffen und überwältigt wird — vom Bewusstsein her zu schaffen sind sie überhaupt nicht. Die Tatsachenkomplexe, welche neuerdings Mythen geheißen werden, sind aber nichts als Tatsachen, hard facts im gut-amerikanischen Verstand. Wer heute von Blut spricht, meint das Blut, das man züchten, wer heute von Boden spricht, meint den Boden, den man meliorieren oder zum Erbhof machen kann. Von einer Mythenwelt her ist Organisieren schlechterdings unmöglich. Wir deuteten schon früher darauf hin, dass der Mensch den Bedeutungsakzent im Zusammenhang Geist-Erde auf verschiedene Stellen legen kann, und dass dann allemal etwas Besonderes entsteht. Im nächsten Kapitel werden wir sehen, dass das in diesem Sinn der deutschen Sondereinstellung Entsprechende nicht Religion, sondern Weltanschauung ist. Hier nur soviel darüber. Vor etwa einem Jahrzehnte gab es in Deutschland Tausende, die sich so fanatisch, als hinge ihr Seelenheil davon ab, dazu bekannten, dass gemäß Hörbigers Welteislehre die Sterne nicht heiß, sondern kalt sind. In sehr ähnlichem Sinne war im germanischen Norden die Kirchenlehre des Mittelalters weit mehr Weltanschauung als Religion. Die Heilsordnung ward damals als wissenschaftlich-objektiv existent verstanden, und der Teufel, das Grundmotiv mittelalterlichen Vorstellungslebens, als die wissenschaftlich feststehende Tatsache, mit welcher der Mensch an erster Stelle zu rechnen hatte. Alle eigentliche und arttypische Religion in Deutschland wirkt auf mich als hybrides Gebilde, als Mischung von eigener Sehnsucht, Lyrik, Weltverbesserungstrieb, Urangst, Weltanschauung und dann von Anempfundenem. Nur bei den römisch-katholischen Deutschen ist dies vielfach wirklich wesentlich anders: dies liegt aber nicht an ihrer Uranlage, sondern an der fortlebenden orientalisch-mediterranen Tradition.

Hier wie überall gilt es, so man erkennen will, in erster Linie, die Bezeichnungen richtigzustellen. Religion und Religiosität sind etwas ganz Bestimmtes, nicht notwendig Vorhandenes, und es bedeutet Unfug, um eines verehrten Wortes willen die Tatsachen zu vergewaltigen oder zu verdrehen (W, II, 9). Was ist, nun das Positivum, das dem bisher gezeichneten Negativum der deutschen Uranlage entspricht? Es ist die Weltfrömmigkeit. Es ist eine Beziehung zur Natur in ähnlich innigem Sinn, wie religiöse Frömmigkeit solche zu Transzendentem darstellt. Unter gar keinen Umständen aber sind beide auf einen Generalnenner zu bringen. Weltfrömmigkeit bedeutet niemals Gottverbundenheit. Sie bedeutet auch nicht Naturverbundenheit überhaupt: Weltfrömmigkeit ist das Gefühl der Weltverbundenheit, wie es ein germinales, Ei-artiges Wesen haben muss, welches in andauerndem Erlebnis-Kontakt mit der ganzen ihn bedingenden Welt steht.

1 Das Freiheits-Kapitel wird letzteren Gedankengang zu Ende führen.
2
Ich zitiere hierzu, was ich im Heft 24 des Weg zur Vollendung über Walther F. Ottos Buch Dionysos, Mythos und Kultus (Frankfurt a. M. 1933) schrieb:
Am Anfang aller Religion stehe, vom Bewusstsein her geurteilt, nie der Mensch, sondern der Gott. Durch ihn erst ist das Ziel und der Weg dahin, und auch die Not, die er wenden soll, geschaffen. Nicht weil der Mensch wünschte, erschien ihm ein Gott, um Erfüllung zu schenken: auch die Notwendigkeiten und Wünsche flossen wie die Gewährungen aus dem Wesen der Gottheit. Der Gott nun äußert sich unmittelbar im Kultus: Der Kultus als Ganzes gehört zu den monumentalen Schöpfungen des Menschengeistes. Um den richtigen Gesichtspunkt für ihn zu gewinnen, muss man ihn neben die Architektur, die bildende Kunst, die Dichtung und die Musik stellen, die alle einmal im Dienste des Göttlichen gestanden haben. Er ist eine der großen Sprachen, mit denen die Menschheit zum Erhabenen redet und aus keinem anderen Grunde redet, als weil sie reden muss. Das Erhabene und Göttliche verdiente diesen Namen nicht, wenn es den Menschen bloß einschüchterte und ihn nötigte, durch Gefälligkeiten sein Wohlwollen zu erringen. Der Beweis seiner Größe ist die Kraft, die es erweckt. Dem Gefühl seiner Gegenwart hat der Mensch das Höchste, dessen er fähig war, verdankt. Und dieses Höchste ist seine Sprachgewalt, die von der wunderbaren Begegnung zeugt, durch die sie empfangen und entbunden worden ist. Jede Offenbarung öffnet auch das menschliche Gemüt, und schöpferisches Tun ist ihre unmittelbare Folge. Der Mensch muss das Ungeheure heraussagen, das ihn ergriffen hat. Das tat er einst durch den Bau der Tempel, der sich in dem Riesenwerk der Dome noch bis in die Jahrhunderte, die vor uns liegen, fortgesetzt hat. Mag man sie Wohnungen des Göttlichen nennen — mit diesem Namen wird nur ein geringer Teil ihrer großen Bedeutung getroffen. Sie sind sein Spiegel und Ausdruck, aus einem Geiste geboren, der gestalten muss, wenn der Glanz der Größe ihn getroffen hat. — Die ehrwürdigste dieser großen Sprachen ist die des Kultus. Sein Zeitalter liegt weit hinter uns. Und es ist wahrlich kein Wunder, dass gerade seine Sprache uns fremder geworden ist als alle anderen. Denn sie zeugt von einer solchen Nähe des Erhabenen, dass der Mensch unmittelbar selbst, mit Darbietung seiner eigenen Person, zu der Ausdrucksgestalt werden musste, die jene anderen Sprachen aus größerer Distanz durch das Medium der Steine, der Farben, der Töne und der Worte zu schaffen berufen waren. Darum sind sie auch mit dem Schwinden der göttlichen Nähe mächtiger hervorgetreten, während der Kultus langsam erstarrte. Aber er hat sie noch Jahrtausende begleitet, und manche seiner Formen haben selbst in Spätzeiten noch die Kraft gehabt, das Göttliche zu rufen, dessen Gegenwart sie einst erweckt hatte.
3
Auf eine mir ganz unerwartete und besonders aufschlussreiche Illustration dessen, worin die höhere religiöse Begabung der Orientalen besteht, stieß ich, wie ich lange nach Niederschrift obiger Zeilen T. E. Lawrence’s Seven Pillars of Wisdom (London 1935, Jonathan Cape) las. An mehreren Stellen handelt der Verfasser, wohl der schärfste Erkenner arabischer Seelenart, von der den Arabern eigentümlichen schroffen Scheidung zwischen Fleisch und Geist, die so weit gehe, dass eine Haupt-Lust bei ihnen im Erdulden nicht nur von Strapazen, sondern von Qualen bestände. Er kontrastiert damit sein englisches Gefühl, das zwischen Leib und Geist kaum zu unterscheiden erlaubt, gelangt aber selbst zu keiner Schlussfolgerung. Indem jedoch Lawrence andererseits feststellt, die Spezialität dieser und der ihnen naheverwandten Stämme sei der Glaube, ihre wichtigste Industrie die Erfindung von Göttern oder die Ausführung göttlichen Befehls, und neben den drei großen Propheten, die Erfolg hatten, Moses, Jesus und Mohammed, hätte es Tausende gegeben, welche scheiterten, jedoch psychologisch nicht minder echte Propheten waren, gibt der Verfasser implizite die Ursache an für diesen Sachverhalt: sie liegt in der unerhörten religiösen Begabung der Wüstenvölker, aus welcher sich notwendig eine schroffe Scheidung zwischen Erde und Geist ergibt. Wer, gleich Lawrence, in erster und letzter Instanz eine Leib-Geist-Seele-Einheit erlebt, der beweist damit, dass ihm die Fähigkeit des Bemerkens und Unterscheidens der Wirklichkeit abgeht, mit welcher die Möglichkeit echter Religiosität steht und fällt. — Natürlich ist die arabische Art, Geist im Unterschied von der Erde zu erleben, nicht die einzig mögliche. Die andersartige der Inder und der Mystiker aller Länder und Zeiten ist ihr dem Sinne nach gleichwertig und de facto in vielen Fällen überlegen gewesen.
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
VI. Weltfrömmigkeit
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME