Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

XI. Das Leben als Kunst

Heilige, Helden und Künstler

Um das zunächst abstrakt Deduzierte nunmehr konkret zu fassen, gehen wir vom Glücksproblem aus; wir dürfen es tun, obgleich Glück niemals in dem ausschließlich Positiven besteht, das der Naive in ihm sieht, sondern in einem der jeweiligen menschlichen Eigenart entsprechenden Gleichgewicht von Glück und Leid (W, II, 7). Wer sind die Glücklichen auf dieser Erde? In erster Linie die Heiligen, in zweiter die Helden, in dritter die schaffenden Künstler. Und wer die Unglücklichen? Alle ohne Ausnahme, welche sich gehen lassen im Wahn, dass Nachgeben gegenüber Trieb und Drang Glück gewährleistet, weil dieses darin bestände, dass alle und jede Velleität vollkommen befriedigt würde. Wohl findet ein Tier, welches durch Mutter Natur durchaus in Form und Ordnung gehalten wird, von sicheren festgelegten Instinkten reguliert, mit keinem Organ begabt, dessen Wirkungskreis und damit mögliche Zielsetzung über unmittelbare Lebensnotwendigkeit hinausreicht, das ihm überhaupt erreichbare Glück darin, dass alle Natur sich normgerecht auslebt: den Menschen hält Mutter Natur nicht von sich aus in Form und Ordnung, ihm fehlen sichere Instinkte, und all sein Streben weist und reicht über den ihm unmittelbar zugewiesenen Lebensraum hinaus. Andererseits hat der Mensch die Fähigkeit, durch Aufmerksamkeit und Betonung jeden Sonderteil seines Wesens zu vitalisieren und im Ausdruck zu steigern. So verläuft sein Leben nicht notwendig im Sinn des optimalen Korrelations-Zusammenhanges seiner Teile: bewusste Überbetonung eines derselben genügt, damit der Zusammenhang gefährdet werde. Dann wendet sich an und für sich positive Kraft zerstörerisch gegen den Menschen selbst.

Im Grenzfall wird seine Ganzheit zerrissen oder gesprengt; es findet dem Sinne nach Ähnliches statt, wie wenn sich der Organismus nach dem Tode in seine Bestandteile auflöst. So kommt beim Menschen alles auf rechte Betonung an; zu eben diesem Zweck hat er vom Uranfang an und gerade am Uranfang aus hellsichtigerem, schöpferischerem und darum präziser gestaltendem unbewusstem Selbsterhaltungstrieb heraus, als solcher ihn später auszeichnete, religiöse und moralische Normen herausgestellt, welche zu rechter Betonung anleiteten und deren Einhaltung die Gruppe selbstverständlich durch moralischen Druck oder Gewaltanwendung erzwang. Zu dem nun, was das organische Gleichgewicht sprengen kann, gehört beim Menschen, im Gegensatz zum Tiere, gerade der Naturtrieb, oder genauer ausgedrückt: das natürliche Gefälle der Gana. Wer sich diesem überantwortet, dem gereicht es niemals zum Heil. Jeder Mensch, im Gegensatz zum Tier, neigt von Natur aus dazu, sich zu über-essen, zu über-trinken, zu über-lieben, zu über-arbeiten, sich so oder anders zu über-nehmen, indem er ein vorgestelltes Ziel einseitig und ohne Berücksichtigung des Zusammenhangs verfolgt oder einem einseitigen Drucke hemmungslos nachgibt; allgemeiner ausgedrückt: jeder Mensch neigt ursprünglich dazu, maßlos zu sein in aller besonderen Lebensäußerung. Solch mangelnder Sinn für Gleichgewicht aber zeitigt unentrinnbar Unheil. Alle ihrem natürlichen Gefälle überlassenen Lieben enden schlecht, alle Ehen, deren Partner ihre Augenblicksregungen nicht beherrschen, zerrütten, aller Machttrieb, welchem Wille und Einsicht keine Grenzen setzen, wuchert krebsartig und zerstört zuletzt den Mächtigen zusammen mit seinem Reich. Daher denn die Urvorstellungen der Askese und Katharsis. Schon auf allerfrühester Stufe fühlt der Mensch, wie die Verhältnisse in Wahrheit liegen. Nur kann er sich kein exaktes Bild von ihnen machen, und darum meint er, durch Der-Natur-Gewalt-Antun zu höherem Gleichgewichte zu gelangen — welch primitive Vorstellung bekanntlich in der sich für besonders vorgeschritten haltenden puritanisch-protestantischen Welt eine besonders große Rolle spielt. Doch gerade diese letztere hat sich zur verdrängungsreichsten und seelisch verbildetesten innerhalb der ganzen modernen Welt entwickelt. Gleichsinnig steht heute fest, dass die Psychologie der Primitiven, in deren Seelenleben die Angst samt gewaltsamen Vorkehrungen gegen diese eine ausschlaggebende Rolle spielt, eine unzweideutig pathologische ist. Im Ergebnis sind Puritaner und Primitive der gemeinten Artung typischerweise besonders unglückliche Wesen. Hieraus folgt denn die grundsätzliche Verfehltheit der Idee, das Heil läge darin, der Natur Gewalt anzutun. Druck erzeugt immer nur Gegendruck. Nur wo nicht Gewalt die Natur unterdrückt, sondern wo die freilich erforderliche Selbstüberwindung in der Umbildung und als Erfolg im Umgebildetsein der Natur durch einen psychochemischen Prozess besteht, dank welchem das Freie selbstverständlich und unwillkürlich den Gesamt­organismus beherrscht — nur dort erscheint das Glücksideal je einigermaßen verwirklicht. Daher denn die Seligkeit des Heiligen, die Freudigkeit des Helden, das Glück des schaffenden Künstlers. Der Heilige strahlt selbst inmitten von Qualen Seligkeit aus, so wie die Sonne Licht und Wärme. Das kommt daher, dass das Freie in ihm von äußerster Geistes-Tiefe her seine ganze Natur transfiguriert hat. Auf der Ebene des reinen Geistes gibt es kein Leiden, keine Sorge, keine Angst, keine Trägheit, keine Schwierigkeit (SM, X, XII), denn hier lebt und wirkt nur dessen höchsteigene ausstrahlende Freiheit. Und wo das Bewusstsein eines Menschen ganz in ihm zentriert ist, dort kann er von Äußerlichem nicht aus dem ihm gemäßen Gleichgewicht gebracht werden.

Der nächstglücklichste Mensch auf Erden ist der Held. Dessen Beispiel ist noch verständnisfördernder als das erste, weil Heldentum allemal Tragik bedingt, so dass sich die Frage banalen Glücks im Fall des Helden überhaupt nicht stellt. Nichtsdestoweniger wird gerade er wie kein zweiter Menschentyp beneidet, beneidet bis zu seinem frühen und bitteren Tod: das ist, weil alle, besonders natürlich die Jungen, in ihrem tiefsten Herzen fühlen, dass die Freude, die seine unbedingte Selbstbehauptung im Helden auslöst, und sein non liquei gegenüber allen äußeren Umständen, seine selbstverständliche Nicht-Anpassung an diese, ein millionenmal Beglückenderes bedeutet als aller glückliche Zufall, aller Erfolg und aller Gnadenempfang. Denn gerade der Held vertritt am ausschließlichsten den primordialen und darum jedermann unmittelbar einleuchtenden Geist, dessen Ur-Attribute der Mut und der Glaube sind (SM, X). Indem er selbstverständlich sein Leben aufs Spiel setzt und damit seinen Tod ebenso selbstverständlich in sein bejahtes Schicksal mit hineinbezieht, erscheint er offenkundiger Geist-bedingt als der Heilige, dessen friedlich-versöhnliche Lebensartung beim Nicht-Verstehenden leicht den Eindruck eines Kompromisses weckt. Daher das Begeisternde alles heldischen Einsatzes, gleichviel ob dieser erfolgreich ausgeht oder nicht. Eine buchstäblich inkommensurable Freudigkeit beseelt den Menschen, welcher in sich die Ur-Angst und den Ur-Hunger ganz besiegt hat und dessen sämtliche Erd-Kräfte nunmehr sogar auf irdischem Plan und im Verfolgen irdischer Ziele dem Sinn des autonomen Geistes dienstbar sind. Diese Freudigkeit strahlt so gewaltig aus, dass sie oft Hunderttausende wenn nicht zu gleicher Heldenhaftigkeit, so doch zu einer Begeisterung befähigt, welche sie Urangst und Urhunger vergessen lässt und praktisch Gleiches bewirkt. In diesem Falle beweist die vollbrachte Tat eine geradezu mirakulöse Tugend. Dem ist also, weil das Werk bis zu einem gewissen Grade den an sich rein geistigen und insofern unfassbaren élan materialisiert; es legt eine bestimmte Erscheinung innerhalb des ewigen Werdens als Etappe fest im Prozess des Einbruchs des Geistes und schafft damit eine Ebene materialisierten Geistes, welche nicht allein dem Helden selber, sondern auch denen, welche er zu sich hinanhob, fortan zum Ausgangsorte dient. Nach vollbrachter Tat ist der Held nicht mehr der gleiche, welcher er war; mittels der Tat hat er sich selber umgeschaffen. Er ist der Sohn seiner Taten im grundsätzlich gleichen Verstand, wie einer geistlicher Sohn eines Heiligen sein kann.

Solche Möglichkeit, aus innerer Freiheit heraus übermächtiges Schicksal so sehr zu besiegen, dass das äußerlich Verhängte zum Ausdrucksmittel des Eigensten wird, kann in der Tat nicht umhin, unermeßliche Freudigkeit auszulösen. Da verliert alle Widrigkeit ihren Eigen-Sinn; alles Schwere verwandelt sich zur Förderung auf dem Weg zur Selbstverwirklichung. Kein anderer Weg aber tut dem Selbstbewusstsein so wohl wie der des Helden, weil dieser nicht in Anpassung, sondern gerade in Nicht-Anpassung besteht. Der Held polarisiert seine einzige Identität herausfordernd mit dem Weltall, und scheitert er äußerlich, so hat er unterwegs doch allemal sein inneres und insofern einzig wahres Ziel erreicht. Daher denn das unvergleichlich Ansteckende des Heldentums. Die Nachahmung Christi hat nur verhältnismäßig wenige je ihrem geistlichen Ziele nahegebracht. Helden-Nacheiferung hingegen hat innerhalb der ganzen Geschichte das mächtigste und allgemeinstwirksame Motiv zu aller Befreiung aus den Banden der Elementarnatur bedeutet. Und hier deute man ja nicht falsch: die ungeheure Werbekraft des Heldentums liegt überhaupt nicht in dem, worauf die stoisch-christliche Tradition den Hauptnachdruck legt: dem angeblichen Mehrwert der Pflicht-Handlung gegenüber gewolltem Tun, der objektiven Verdienstlichkeit des Verzichtes, des Selbstopfers usf.: sie beruht ganz und gar auf der unmittelbaren Freudigkeit, welche es weckt, und damit des inneren Glückes, welches es schafft.

Den Fall des schaffenden Künstlers brauchen wir kaum zu behandeln, denn der ist oft genug bedacht worden, und die erforderliche Korrektur an der üblichen Künstler-Verherrlichung haben wir schon vorgenommen. Gedenken wir hier nur dessen, dass die Ebene der Kunst und des Kunstwerks eine andere ist als die des unmittelbaren Lebens; sie besteht ganz und gar und ausschließlich vom schöpferischen Geiste her. Nun, grundsätzlich Gleiches gilt vom Helden und vom Heiligen. Im Falle beider erscheinen die Gegebenheiten des empirischen Lebens einem anderen Sinneszusammenhange eingefügt als dem, welchem sie ursprünglich zugehören. Held und Heiliger leben genau so aus dem Geiste heraus, wie der Künstler aus dem Geiste schafft. Nur leben sie eben also, sie stellen nicht bloß heraus. Ihre Kunst ist ihr Leben selbst. Deswegen stellen sie die Prototypen des Kunstschöpfers dar. Dessen Normalideal indes verkörpert der Weise, so wie ich diesen Typus so oft schon bestimmt habe, dass sich eine längere Auseinandersetzung hier erübrigen dürfte (RT, SE, W, NW), nämlich als Höchstausdruck von Vollmenschentum. Der Heilige und der Held sind beides einseitige Typen. Eben darum ist ihr Bild so unvergleichlich wirksam; eben darum stellten wir das ihre und nicht das des Weisen denn des Naturverfallenen unmittelbar gegenüber.

Doch wer sich exzentrisch zu diesem Leben einstellt, kann für dieses nicht die Norm schaffen. Der Heilige ist im Höchstfalle der Entweltete; er ist über alle Erdnorm hinaus und braucht sie deshalb nicht mehr anzuerkennen. Doch eben darum kann er in diesem Leben auch keine tätige Rolle mehr spielen. Dem Helden aber sind kämpferischer Selbsteinsatz und Selbstopfer die Mittel der Selbstverwirklichung, und so ist er zwar kein Entwelteter, wohl aber ein Entwelter: seine Aufgabe verlangt Zerstörung von Bestehendem als Weg zu als höher vorgestelltem Sein. Hier sieht man ganz klar, wie nahe Held und Heiliger verwandt sind und wie wunderbar tief der russische Pódwig-Begriff (S. 444) den Sachverhalt fasst. Gleichzeitig aber erkennen wir gerade hier, warum nur konzentrische im Gegensatz zu exzentrischer Vollendung, welch erstere den Weisen charakterisiert (SE, II, 3) als Normalideal gelten darf. Der Weise ist genau so Prototyp des Kunstschöpfers wie der Heilige und Held. Er ist recht eigentlich der Vollender und Meister der Lebens-Kunst, denn er schließt nichts aus, braucht nichts Gegebenes aus dem möglichen Macht-Bereiche seines Selbstes auszuschließen, um seines Geistes Souveränität der Erscheinung aufzuprägen. Aber wegen des Lebensreichtums, welchen er beherrscht, wirkt er nicht eindeutig, und seine Selbstherrlichkeit leuchtet nicht jedem ohne weiteres ein. Darum stellten wir hier sein Bild zuletzt heraus.

Wir können jetzt eine Erkenntnis ganz verständlich formulieren, die ich nicht erst in diesem Buche wieder und wieder vertreten habe: dass der Geist sich in Spannung zur Natur entfaltet. Setzen wir anstatt des Wortes Spannung Distanz und denken dabei zunächst an die Beziehung des Künstlers zu seinem Stoff, dann gewinnen wir unschwer deutliche Einsicht in die wahre Beziehung, die zwischen Leben als Kunst und empirischem Leben besteht. Wenn man von jemand sagt, er stehe über gewissen Dingen oder sei ihnen überlegen, so fällt dem Deutschen in der Regel die Sonderart der Distanz ein, die den Ironiker kennzeichnet. Das ist eine der vielen üblen Nachwirkungen der Romantik und von deren Verhimmelung. Die Pathiker besonderer Artung, als welche die deutschen Romantiker waren und sind, Wunschbildern hingegeben, in Sehnsucht oder Melancholie verfließend, sind physiologisch selten fähig, sich Überlegenheit anders vorzustellen als in Form eines Außerhalb-Stehens, gleichviel ob dies sich nun in Ironie im üblichen Verstande äußert oder nicht, denn tiefstinnerlich sind sie dem Geschehen verhaftet; und im Außen-Stehen wiederum vermögen sie keine echte Überlegenheit zu sehen. Aber echte Überlegenheit bedeutet auch nie ein Außerhalb-, sondern eben ein innerlich-Darüberstehen. Man kann buchstäblich über seiner Empirie stehen und damit Distanz haben zu ihr in der Dimension der Innerlichkeit, insofern das Lebenszentrum des Menschen nach innen, dem substantiellen Geiste zu, verschoben sein kann. Ist dieses nun der Fall, dann liegt qualitativ anderes organisches Sein vor. Dann besteht reale Distanz zwischen Mittelpunkt und Oberfläche im selben rein positiven Verstand, wie eine Gleichung höherer Ordnung mehr ist als eine solche niederer. Das heißt, jene schließt diese von oben her ein, integriert diese in höherer Synthese, innerhalb welcher ansonst sich Ausschließendes zusammengehörend erscheint, wodurch die Konflikte der Oberfläche sich erledigen. Das Wort Distanz bezeichnet hier sonach, wenn wir an dieser Stelle, zum Zwecke der Verdeutlichung, unser altes oft gebrauchtes Bild (SE, I, 1; W, I, B, 1, 2) eines Geisteskosmos, der in der Dimension der reinen Innerlichkeit, senkrecht zur Ausbreitung des äußeren Kosmos innerhalb von Raum und Zeit, in diesen eingebaut sei, erneut herausstellen und mittels dieses oder auf dieses hin das Gemeinte formulieren, eine Beherrschung des Extensiven durch Intensives. Das ist natürlich nur möglich im Rahmen eines Spannungsfeldes. So schafft Distanz als solche die Spannung. Ja, so ist Distanz als solche die von innen her herrschende Macht. — Wenden wir uns jetzt schnell, um uns ja nicht in abstrakten Spekulationen zu verlieren, konkreten Bildern zu. Bekanntlich kann sich ein König als König nur auswirken, wenn er königliche Distanz einhält zwischen sich und Volk. In diesem Sinne distanziert die Etikette, der Instanzenweg, und oberhalb dieser, wo es sich um einen geborenen und legitimen Herrscher handelt, Bluts- und ein spezifisches Selbstbewusstsein, welch’ letzteres Zusammenhänge und Konflikte engerer Art überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt. Damit hätten wir denn schon den konkreten Beweis dessen in Händen, dass die Distanz als solche die Macht ist und schafft. Der innerlich Höherstehende steht eben damit über niedriger belegenen Gegebenheiten. In den anderen aber schafft die anzuerkennende Distanz die Anerkennung der Macht, so dass zwischen König und Volk, sofern die Gleichung stimmt, ein Kraftfeld polarer Spannung besteht, das sich in beiden Polen entsprechend positiv auswirkt. Das ist aber nur ein Beispiel. Bei jedem Darüberstehen liegen die Dinge grundsätzlich ebenso oder ähnlich. Auch zwischen dem schaffenden Künstler und seinem Stoff besteht ein Distanz-geborenes Spannungsverhältnis; als aktiver Gefolgsmann oder Gegner Wallensteins hätte Schiller seine Trilogie nicht schreiben können. Berühren den vollkommenen Weisen die meisten Geschehnisse nicht, welche das Gleichgewicht anderer zerstören, ja flieht im Höchstfall vor ihm das äußerliche Missgeschick (PK, XI), so dass Mörder ihn nicht töten, Diebe nicht bestehlen, Verräter nicht verraten, so liegt das nicht etwa an seiner Gleichgültigkeit — keiner ist weniger gleichgültig als er, denn zu allem und jedem steht er positiv —, sondern an der Übermacht des Spannungsfeldes, das seine innere Distanz schafft. Der Held aber, der aller Vernunfterwägung zum Trotz das Unmögliche wagt und gerade darum siegt, der Heilige endlich, welchem Schuld und Sünde, Tugend und Laster nichts mehr von dem bedeuten, was sie anderen sind, welcher gerade inmitten von Qualen die größte Freudigkeit ausstrahlt — sie beide stehen dank ihrer inneren Einstellung zu gewöhnlichen Sterblichen distanzierter, als je von einem König dank Zeremonie, Etikette und Machtvollkommenheit galt. Denken wir nun an das Ergebnis von Einsamkeit (S. 383) zurück, dass genügend mächtiger Geist die ihm entsprechenden empirischen Gegebenheiten buchstäblich beschwört. Er beschwört den Stoff, der ihm zu gestalten bestimmt ist, die Menschen, Freunde wie Feinde, das Schicksal im weitesten Verstand. Damit eignet er sich diese zu und an. Allemal aber geschieht dies im Kraftfelde extremster Spannung, die Polarisierung bedingt und damit Geist und Gegen-Stand gleichzeitig verwandelt. Hier sehen wir endgültig, inwiefern Kampf und Widerwärtigkeit notwendig zum großen Geist gehören. Schwierigkeit und Widerstand beschwören ihrerseits des Großen Identitäts-Gefühl, sie wecken und steigern seinen Nicht-Anpassungstrieb und von dort her sein Siegesstreben — nicht jedoch im Allgemeinen, sondern im richtigen Korrelations­verhältnis zu seinen Gegen-Ständen. So schafft innere Distanz, und zwar je größer sie ist, desto mehr, nicht zwar Annäherung im Sinn von Kompromiss, sondern Vermählung. Daher kommt es, dass Polarisierung allemal zu Geburt von Neuem führt (S. 238).

So erfolgt aus Distanz und Spannung als solchen eben die Neugeburt, die man ein Kunstwerk im Gegensatz zum empirisch Gegebenen heißt. Nun sehen wir, wie wenig echtes Darüberstehen ein ironisches Verhältnis, ein Außerhalb-Stehen, bedeutet. Echte Überlegenheit schafft, im Gegenteil, die intensivste Annäherung, welche dem Geist in bezug auf Materie überhaupt erreichbar ist. Wer als Geist nicht über den Dingen steht, kommt ihnen nie so nahe, dass er sie meistern kann. Nur aus innerer Distanz heraus entstand jemals ein Kunstwerk, handele es sich um ein Liebesgedicht im Unterschied von einem Abenteuer, eine Staatsordnung, welche sämtliche Volkskräfte sinngemäß balanciert, im Unterschied von blindem Einzelkämpfertum, oder allgemein um geistbestimmtes Leben im Unterschied von trägem sich-gehen-Lassen. Die meisten als solche anerkannten Kunstwerke stellen spezialisierte Sonderprodukte des Geistes dar: Wort- und Tondichtungen, Staaten, Bildwerke, Philosophien (PK, I). Die höchsten aber bestehen in vom Geiste umgeschaffenem Leben selbst, im Kunstwerk des gelebten und erlebten Lebens, im Leben als Kunstschöpfung, dessen prototypische Urheber der Heilige, der Weise und der Held sind.

Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
XI. Das Leben als Kunst
© 1998- Schule des Rades
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