Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

XI. Das Leben als Kunst

Prolog im Himmel

Vergegenwärtigen wir uns jetzt noch einmal die ganze ursprüngliche Vielfältigkeit des Menschenwesens, wie es unsere langen Untersuchungen feststellten. Eigentlich, so dünkt uns nun, sollte a priori klar sein, dass vom eigentlichen Menschenleben erst von der Stufe an die Rede sein kann, wo das einsame Freie bestimmt. Und dass die Lebensgleichung im Fall des Menschen unmöglich aufgehen kann, bevor sie auf der Ebene des Lebens als Kunst angesetzt wird: so ungeheuerlich groß ist die widerspruchsvolle Kompliziertheit der Menschennatur.

Haben frühere Zeiten nun gar nicht gewusst, wie die Verhältnisse in Wahrheit liegen? Doch. Nur hat die Geschichte auch hier, wie in den meisten Fällen, wo es sich um Seele und Geist handelt, mit einem Prolog im Himmel angefangen. Die ersten einigermaßen exakten Bestimmungen des Menschenwesens im Rahmen unserer christlichen Tradition finden wir in Übertragung auf die göttliche Natur ausgedrückt. Die Verurteilung des Monophysiten bedeutete die erste Entscheidung im Sinn der Erkenntnisse dieses Buchs; das Dogma von der Doppelnatur Christi den ersten Ausdruck realen Sehens der Inkompatibilität des Geist- und Erdhaften im Menschen, die Lehre von der Dreieinigkeit, die implizite allen Monotheismus als Häresie brandmarkte, die erste Annäherung an eine exakte Lehre von des Menschen Vielfältigkeit. Dass dieser Prolog im Himmel stattfand, stattfinden musste, hat darin seinen Grund, dass sich der Mensch nur eines geringen Teiles seines Wesens bewusst ist und diesen nur zu einem sehr geringen Teil in sein Bewusstsein hineinbeziehen kann. Da diese Teile aber doch sehr lebendig da sind und sich ausleben wollen, so äußern sie sich in Form von Projektionen auf die Außenwelt. Der Primitive erlebt das meiste, wenn nicht alles Innerliche außer sich; nicht jedoch so, dass er nun alles personifizierte, sondern dass nichts eigentlich Person ist.

Auf dieser Stufe, sagt Jung, gibt es nur Ereignisse, aber keine handelnden Personen1;

zwischen dem, was er tut, und dem, was ihm widerfährt, vermag er nur ganz undeutlich zu unterscheiden. So weiß auch kein Kind ursprünglich von einem Ich: es ist sich selber dritte Person. Doch andererseits erlebt der Primitive an der für ihn bedeutsamen Außenwelt nur seine eigenen inneren Bilder, und hieraus ergibt sich der Primat des Mythos vor der exakten Auffassung der äußeren Wirklichkeit, so wie diese ist. Im Rahmen dieses Mythos gehört zunächst alles Vorgestellte einer Ebene an. Lernt der frühe Mensch nun, zwischen äußeren und inneren Gegebenheiten zu unterscheiden, wozu ihn Erfahrung früh zwingt, so führt ihn dies zunächst zu keiner Diskriminierung zwischen Objektivem und Subjektivem, zwischen Äußerlichem und Innerlichem, zwischen Tatsachen und Einbildungen, sondern zwischen verschiedengearteten Vor-Stellungen einer Außenwelt, welche auf gleicher Ebene neben Tieren, Pflanzen und Steinen auch Götter, Teufel und Geister beherbergt. Und da sein Erleben, im Gegensatz zum unseren, ihn lehrt, dass letztere Wesen sowohl der Zahl als der Macht nach überwiegen, und da überdies nie und nirgends gewiss ist, ob nicht auch erstere eigentlich verkleidete Geister sind, so sucht er folgerichtig alle Natur durch die Mittel zu beherrschen, welche sich in der Meisterung dessen, was wir Europäer Innenwelt heißen, bewähren. Daher der Primat der Magie vor aller Wissenschaft und Technik nicht allein, sondern auch vor aller Religion in unserem Sinn. Diese ist, genetisch betrachtet, ein Differentiationsprodukt des ursprünglichen Welterlebens. Daher der Primat himmlischen vor dem irdischen Geschehen, mit dessen Behauptung wir diese Betrachtung einleiteten.

Dementsprechend ist die früheste Form eines Lebens als Kunst ein Leben der Observanz. Aller Nachdruck im Leben ruht auf Zeremonien und Riten, welche die projizierte Innenwelt mit der Außenwelt in Gleichgewicht zu halten erlauben. Und viele dieser frühen Formen, von denen bei uns unzählige in der katholischen Tradition fortleben, sind so weise weil wirklich erkenntnistief, dass sie nur auf sehr hoher Wachheitsstufe durch Besseres zu ersetzen sind. Doch das ideale Prototyp dessen, was wir heute als Vor-Form wahren Lebens als Kunst beurteilen müssen, stellt die indische Tantra dar. Ihrem tiefsten Sinne nach verstanden, verkörpert dieses für alle Zeit gültiges metaphysisches Wissen; darum kann wachstes Bewusstsein von ihr lernen. Doch ihr Besonderes ist, dass die Tantra ihr esoterisches Wissen in Form exoterischer Lehren und Praktiken materialisiert, deren mit ungeheurer Seelenkenntnis verfolgtes Ziel ist, den Unreifen und Nicht-Wissenden mählich, durch Rückwirkung herausgestellter Namen und Formen auf das Unbewusste, bewusstem Wissen zuzuführen. Dies aber tut sie von der gleichen Erkenntnis-Voraussetzung, von der wir auf anderer Ebene in diesem Buche ausgehen: dass es alle zu einem gehörige Wirklichkeit als solche anzuerkennen und zu behandeln gilt, dass es verfehlt ist, irgend etwas auszuschließen, dass das Leben für den Menschen letztlich eine Kunst ist, welche Tiefe und Oberfläche, Inneres und Äußeres, Heiliges und Profanes im Zusammenhang meistern können muss.

Aus dem Primat, welcher dem Psychischen in Indien zuerkannt wird, ergibt sich als logische Folge, dass alles Leben aller Hindus, welche nicht über Name und Form hinaus sind, eins der strengsten Observanz sein muss. Es gibt kaum eine Regung, kaum eine Möglichkeit, kaum eine Notwendigkeit, für welche die Weisheit der Geschlechterfolgen nicht ein sakrales Vorbild geschaffen hätte, in welches sich der Einzelne, unter Leitung des geistlichen Führers, in bewährtem Rhythmus versenkt. Zweck solchen lebendigen Übens ist, sämtlichen Trieben und Neigungen zur Auswirkung zu verhelfen, so dass sie keine Verdrängung erleiden, welche sie häßlich oder böse machen, für alles zu tragende Schicksal Bereitschaften zu schaffen, welche es tragbar machen; endlich die ursprünglich chaotische Vielfalt der Seele nicht nur in und für sich zu ordnen, so wie es im Westen die stoische und später die protestantisch-christliche Asketik lehrte, sondern sie in den Zusammenhang des Einzelnen mit der Gemeinschaft, mit dem Weltganzen und mit Gott sinnvoll einzuordnen.2 Es ist das gleiche Ziel, welches im Westen, wie schon gezeigt, die katholische Kirche verfolgt und in hohem Grade erreicht, nur verfolgt und erreicht es die Tantrik in unvergleichlich weiterem Rahmen, ohne den Geist beengende Dogmatik und mit einer Kenntnis aller Tiefen und Untiefen der Seele, wie solche jene auch nicht annähernd besitzt. Nun müssen wir dies bedenken: Allbewusstsein ist zunächst nicht Kennzeichen des Entwickelten, sondern gerade des Primitiven. Der Undifferenzierte, nicht der Differenzierte ist zuerst totalen Erlebens teilhaftig; erst auf der Stufe, wo Differentiation wiederum in Integration umschlägt, kann der Entwickelte totaler Offenbarung teilhaftig werden. Unter diesen Umständen dürfen wir sagen: die Tantra-Yoga ist der Höchstausdruck möglicher Lebenskunst bei primitiven Menschen.

Inwiefern ist nun das Primitive doch nicht Ideal? Es kann nicht Ideal sein, weil die Lösung des Lebensproblemes, die es ermöglicht, mit dem Initiativemangel des Einzelnen steht und fällt. Restlos passive Hingabe- und Hinnahmebereitschaft, unabhängig von persönlichem Verstehen, ist seine ursprüngliche Voraussetzung. Alle Problemlösung erfolgt vom Unbewussten her auf der Ebene des Unbewussten. Ebendeshalb kann der bloße Gedanke der Fortschrittlichkeit in ihr keinen Raum haben: hier muss die Tradition alles bedeuten, die individuelle Entscheidung nichts. Folgerichtig kennt die indische Weisheit nur eine mögliche Befreiung aus dieser Bindung: über Name und Form überhaupt hinauszugelangen, also gleichsam in der Tangente abzugehen aus dem Kreislauf alles Samsara. Aus diesem einen Gedankengange leuchtet ein, warum die indische Auffassung eines Lebens als Kunst, von der Bewusstseinsstufe der heutigen Vorhut des Menschengeschlechtes her beurteilt, als überholt gelten muss. Dieser ist gerade die Eigeninitiative des Geistes das Entscheidende. Das einsame rein-persönliche Freie im Menschen stellt heute den einzig möglichen Ansatzpunkt der Lebensgleichung dar. Und damit ist der Prolog im Himmel ausgespielt. Das eigentliche Menschendrama hat begonnen.

Und doch liegen die Dinge nun nicht so, dass die Himmelswelt ihre endgültige Götterdämmerung erlebt hätte. Weder ist es wahr, dass die Initiative des geistbestimmten Menschen alles vermag, noch ist er fortan objektiv Maß und Mitte der Welt, obschon er es für sich in jedem Falle ist. Es ist auch nicht wahr, dass, wie Jung lehrt, durch Zurückbeziehung alles Projizierten auf das Innere und Erhebung aller möglichen Bewusstseinsinhalte auf die Subjektstufe eine totale Integration des Menschenwesens erreicht sei. Der Mensch ist, wir sahen es wieder und wieder, in keiner Hinsicht, eine Monade, er ist eine Beziehung zwischen Geist und Weltall, wobei der personale Geist seinerseits weitere Geisteshintergründe hat. Der Mensch ist nicht absolut souverän oder letzte Instanz, so wie die Söhne der europäischen Aufklärung wähnten und wähnen, er steht auch als geistige Existenz nicht allein da, so dass re-ligio an Höheres und Weiteres keine Notwendigkeit darstellte — dies ist der Irrglaube der jüngsten deutschen Philosophenschule: letzte Instanz ist er nur für sich und nur insofern, als es für sein persönliches Bewusstsein keine Voraussetzung jenseits seines einsamen Freien gibt. Und selbstherrlich betätigen kann sich dieses überhaupt nur so, wie sich der Künstler an seinem Stoff betätigt. So bleibt die Ebene des Lebens als Kunst die äußerste, auf welcher der Mensch überhaupt leben kann. Insofern können wir heute auch nichts grundsätzlich anderes behaupten, als die indische Tantra: wir können es nur von einem reiferen und wacheren Bewusstsein her tun. Und in einem bleibt die Tantra der exaktesten modernen Tiefenpsychologie als Wahrheitskünderin überlegen: darin, dass sie dem Geiste zu Höheres, als das Nur-Menschliche es ist, in ihre Ganzheitsschau hineinbezieht. Die Idee der religiösen Observanz bleibt ewig wahr. Von deren letztem Sinn und von den neuen Möglichkeiten, die sich aus seiner Erkenntnis für das vollkommen erwachte persönliche Erleben ergeben, wird das Schlusskapitel handeln.

1 Siehe C. G. Jung, Die Wirklichkeit der Seele, Zürich 1934, S. 36.
2 Ich setze zur Erläuterung eine längere Ausführung Heinrich Zimmers über das Verhältnis von Tantra-Yoga und Tiefenpsychologie her (Eranos-Jahrbuch 1934, S. 50-54, Zürich, Rheinverlag), empfehle aber dringend das genaue Studium der ganzen Abhandlung und ferner Zimmers Buch Indische Sphären (München 1935):
Die Tiefenpsychologie zerstörte den primitiven Dualismus Leib-Seele, als wäre das eine einfache Zweiheit. Dabei war zweierlei verkannt: als wäre das Seelische eine Einheit und als wäre der Leib nicht ein Stück der Seele. Die dunkle Flut des Unbewussten, auf der das kleine Schiff des Bewusstseins schwimmt — eher ein Keim in seinem Fruchtwasser, von ihm gewiegt, von ihm genährt — ist leibhaft greifbar als die vielfältige Organ- und Zellenwelt unseres Leibes. Mit ihren Leistungen, spontanen Ja und Nein, die Befehl und Verbot des Ich überspringen und seiner Ansprüche spotten in der Betätigung von Fehlleistungen und Versagen, lebt sich nach indischem Empfinden etwas Ungeheures aus. Die Inder nennen es alle Götter. Denn nach indischer Auffassung sitzen an unserem Leibe alle Götter der Welt als die Kräfte, die sie im Makrokosmos sind … Alle Götter an unserem Leibe — das bedeutet: der Leib ist rings besetzt, erfüllt mit Kräften, kraftartigen Individualitäten, die uns nicht untertan sind, sondern die ein eigenwilliges Leben zu führen vermögen. Sonst würde es ja nicht des langen und schwierigen Trainings im Yoga, hoher Willensanspannung und Zähigkeit und ehrfürchtigen Umganges mit diesen Göttern in uns durch puja und nyasa bedürfen, um Herr im Hause unseres Leibes zu werden und ihn mählich zu den Betätigungen und Vorgängen zu erziehen, die der Yoga mit seinen Zielsetzungen von ihm fordert. Sie führen ihr Leben unabhängig von uns, werden krank und versagen, ohne uns zu fragen. Wir sind abhängig von ihnen in Furcht und Erwartung, abhängig von zwei Gebärden an ihnen, die in Indien wie in der ganzen Welt die wesentlichsten Gebärden aller Götter sind: die wunschverleihende, gabengewährende (varada) und die Gebärde fürchte dich nicht! (abhayada). Sie fehlen kaum an einem indischen Götterbild … Alle Götter in uns —: wir sind erfüllt von einem, das mächtiger, unheimlicher und größer ist als wir selbst. Man kann nur suchen, sich gut mit ihm zu stellen, indem man ihm tägliche Aufmerksamkeit entgegenbringt in kultisch verehrendem Umgange. Auf die Regelmäßigkeit des Umgangs kommt es an, sonst entschlüpft das Mächtige uns, vielgestaltig, dunkel, geschmeidig. Es entzieht sich, neckt, überrascht und plagt uns mit unerwünschter An- und Abwesenheit, Verlarvung und Drohung. Gegen unsere Bedürfnisse bleibt es aus, wird uns beziehungsfremd, feindlich und koboldhaft, lässt sich nicht mehr ansprechen und erbitten. Durch den täglichen und ehrfürchtigen Umgang mit ihm (dazu gehört sein Wecken in nyasa) versichert man sich seiner als nahe und geneigt.
Auf die richtige Form des Umgangs kommt es ebensoviel an, denn es ist das Mächtige und Vielgesichtige, Vielgliedrige. In seinem Wald von Händen hält es alles zugleich: alle Waffen des Schutzes und der Rache, unserer Erhaltung wie Vernichtung, Geräte, Schmuck und Blumen — Sinnbilder für alles. Und viele Gesichter zeigt es zugleich, nach allen Seiten blickt es zumal, wenn sein uns zugekehrtes Gesicht uns lächelt, trägt ein anderes, das es uns gnädig abgewendet vorenthält, die grauenvollen Züge, die uns versteinen. In allen Gebärden spielt es zugleich, in liebender Fürsorge, schreckender Gewalt und weltüberhobenem Gleichmut; das Weibliche und das Männliche, das Lockende und das Mütterliche, das strahlend Heldische und das Hohnlachen der Vernichtung blitzen an ihm auf, darüber die göttliche Ruhe des Jenseits. Alle Tiergestalt in ihrer sprechend sinnbildlichen Gewalt des Dumpfen und Weichen, des Grausamen und Warmen, Reißenden und Sanften sind seine spielenden Facetten.
Der richtige Umgang mit diesem Göttlichen und völlig Dämonischen in uns, mit Erscheinungsformen zahllos wie alles Leben — denn wir sind ja das Leben selbst mit unserem Leibe —, kann nur auf einer langen Tradition beruhen, die vielfältige, bedenkliche Erfahrungen wechselnder Geschlechter gesiebt hat und aus ihr das immer Bewährte zum Kanon formte. Solcher Umgang mit dem Göttlichen ist der Umgang mit unserer Totalität in ihren wesenhaften Facetten, mit dem Unbewussten, dem Leibe, der Welt, in der die Götter hausen wie überall in der Welt. Wer sie nicht mehr in Wind und Fels, in Quell und Sternen verehrt, auch nicht an einer himmlischen oder überhimmlischen Stätte, sondern da, wo er sie einzig unmittelbar erfährt, am eigenen Leibe, dem kann sein Leib zur Welt werden, dem wird wie dem Yogin die Wirklichkeit seines Leibes zur Wirklichkeit schlechthin. Er entdeckt, dass sie alles enthält und dass aller Gehalt außen nur Spiegelreflex der Ausstrahlung seines Wesens innen ist, Projektion der Kraft, die ihn innen immerwährend aufbaut —, dem wird, was ihm geschieht, zum Geschehenden schlechthin.
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
XI. Das Leben als Kunst
© 1998- Schule des Rades
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