Schule des Rades

Hermann Keyserling

Gedächtnisbuch · Letzte Aufsätze

Vom spirituellen Wiederaufbau Europas und der
Begründung eines neuen europäischen Humanismus · 1

Mein Freund Gilbert Gadoffre übermittelte mir in französischer Sprache als Anregung den obigen Titel für meinen Einführungsartikel für eine neuzugründende europäische Zeitschrift. Da aus ihm vollkommenes Verständnis für mein Streben sprach, habe ich sie wortwörtlich akzeptiert, zumal gerade die Fremdworte die erforderliche Richtigstellung der Bezeichnungen wegweiserartig abgrenzen. Ich erinnere daran, was ich so oft über die Richtigstellung der Bezeichnungen geschrieben habe. Hier handelt es sich nicht um mir allein oder zuerst Eingefallenes, sondern um ältestes und bestes chinesisches Geisteserbe. Das erste, was nach altchinesischer Auffassung ein Fürst zu unternehmen hätte, um aus der Unordnung, die aus der Zersetzung alter Ordnung hervorging, neue bessere Ordnung zu schaffen, sei: Richtigstellung der Bezeichnungen. Hier komme es auf mathematische Genauigkeit an. Jede Nuance im Ausdruck, jede Wahl eines bestimmten Gesichtswinkels, jede Begrenzung des Radius vom Schnittpunkte her wirke sich automatisch in allen Gestaltungen aus. In der Tat, hätte Gott auch nur ein ganz klein wenig anders gesprochen, als er es laut dem biblischen Mythos tat, da es ihm einfiel, die Welt zu erschaffen, diese sähe in allen Hinsichten anders aus. Man kann die Dinge, wo es um Wesentliches geht, nie und nimmer auch anders sagen. Daher die Bedeutung des Worts, des Rhythmus im weitesten Sinn, wozu die Art der Interpunktion das einfachste Sinnbild gibt, und des Stils in seinem integralen Konkretismus. Hier bedeutet Abstrahieren- und Verallgemeinern- oder Subsumieren-Wollen radikales Missverstehen. Wozu sind schöpferische Geister da und gut? In erster Linie nicht zum Einbilden von Niedagewesenem in die Erscheinungswelt — wäre es völlig neu, es wäre eine bloße Exzentrizität und ginge nur Neugierige an — sondern zum Bewusstmachen dessen, was latent in vielen, wenn nicht allen lebt. Aus dem Bewusstwerden entsteht dann unvermeidlich neue, dem Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck entsprechende Wirklichkeit. Insofern und nur insofern war, laut Johannes, dem Evangelisten, im Anfang tatsächlich das Wort. Näheres hierüber wird man an vielen Stellen meiner Werke finden, zumal in meinem vorletzten in französischer Sprache verfassten Buch Sur l’art de la Vie, das als einziges meine eigene, für mich gültige Erkenntnistheorie und Ästhetik bringt. Ich erinnere besonders an die in deutscher Sprache überhaupt noch nicht vorliegenden Essays: De la juste de signation, De la concentration, De la polyphonie, De Part oratoire, welch letzterer unter anderem eine Sinndeutung der Tugend des Schweigens und Verschweigens bringt. Worauf ich hier hinaus will, ist dies: aus dem Geist des oben Gesagten heraus sprach ich vom spirituellen und nicht vom geistigen Wiederaufbau Europas und von der Begründung eines neuen Humanismus. Der Erläuterung des hier programmatisch Angedeuteten sollen die folgenden Abschnitte gewidmet sein. Hier aber werde ich mich sehr kurz fassen und dies zwar wieder aus dem Geist des bisher Verlautbarten heraus: sapienti sat. Konfuzius sagte einmal:

Wer nicht von selber strebt, dem helfe ich nicht voran, wer nicht selber um den Ausdruck ringt, dem eröffne ich ihn nicht. Wem ich einen Winkel eines Dreiecks zeige und wer da nicht die übrigen zwei von selber zu bestimmen weiß, von dem wende ich mich als von einem Unbelehrbaren ab.

Nicht an letzter Stelle an zu weit gediehener Explikation, welche Konzentration überflüssig zu machen scheint — für viele ersetzt Statistik ganz und gar die zusammenfassende und einzig geistgemäße, alle Einzelfälle vom Sinn her nicht nur einschließende sondern antizipierende Formel — nicht zuletzt an übertriebener Explikation ist die abendländische Kultur in die heutige toddrohende Krisis geraten. Nicht konzentrierter Geist ist überhaupt kein Geist. Seine Daseinsdimension ist diejenige der Intensität und nicht der Extension.

Abgeschlossen 9. November 1945

Hermann Keyserling
Gedächtnisbuch · Letzte Aufsätze · 1948
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