Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

XII. Divina Commedia

Doppelnatur des Menschen

Wo immer dieser Grundton deutlich ins Bewusstsein hineinklang, da ergab sich daraus ein tief-religiöses Verhältnis zum Geist; daher der unübertroffene Tiefsinn aller frühesten Mythe. Und die älteste Beziehung zum Geist war überall das Gebet, weil Geist zuerst als ein außer sich erlebt ward. Bestand nun dabei die Ahnung, dass der Geist trotzdem das tiefste Selbst bedeutet, dann entsprach der Sinn alles Betens dem jenes Ur-Gebets der Inder, das da lautet:

Aus dem Unwirklichen führe mich zum Wirklichen
Aus Finsternis führe mich zum Licht
Aus Tod führe mich zur Unsterblichkeit.

Beim ersten tiefen Erleben des Geists von dessen Licht geblendet, musste den Menschen die Blindheit des Gana-Lebens Finsternis schlechthin und die vom Geist grundverschiedene Erd-Natur unwirklich dünken. Da der Geist die Ausschließlichkeit und Endlichkeit der Melodik alles Gana-Lebens für sich nicht kennt, musste er Unsterblichkeit als rechtmäßiges Erbe fordern. Da Geist Sinn ist, konnte er sich bei der Sinnlosigkeit nicht bescheiden. Da sein Wesen Unbindbarkeit ist, so konnte er in der Natur-Gebundenheit keine letzte Instanz anerkennen. Greifen wir hier auf unsere Betrachtungen über die Traurigkeit der Kreatur zurück. Der Mensch ist unselig, in den geschlossenen Kreisen der Hölle gefangen, bis dass er den Weg findet, der zum Lichte führt. Ist dieses über ihn gekommen, dann entwindet sich der Kreis zur Spirale. Der Mensch bangt, schmachtet, verzweifelt in den Banden der Gana, der Verfallenheit, des blinden Schicksals, denn wo er noch nicht weiß, da ahnt er doch, dass diese Bande ihn nicht unentrinnbar fesseln. Es drängt ihn hervor, heraus, herauf aus der Unfreiheit. Das vorgestellte ideale Ziel ist eine Welt des vollkommen Sinnvollen, des vollkommen Zusammenhängenden, in welcher auch das Böse und Unheilvolle seinen Platz fände. Dies ist der letzte Sinn alles religiösen Strebens: es hat letztendliche Bindung an das Licht allein zum Ziel, nach Überwindung aller Bindung durch die Finsternis. Doch jeder überhaupt denkbare sonstige Fortschritt bewegt sich in gleicher Richtung. Der ganze Fortschrittsbegriff hat nur den einen allgemeinen und zugleich gegenständlichen Sinn möglicher und erforderlicher Aufhellung; einen Sinn, den noch das deutsche 18. Jahrhundert, welches den Fortschritt Aufklärung hieß, sehr wohl verstand. Hier fassen wir die geistige Bedeutung des Verstehens. Die Freiheit des Geists bleibt selbst im allerhöchsten Fall ein winziges Rädchen im Welten-Uhrwerk. Solange dieses unerkannt abläuft, hat der Mensch gar keinen Einfluss darauf; dann ist auch für ihn selbst, in seinem persönlichen Leben, das, was ihm geschieht, das Schicksal, und nicht die Entscheidungs-Freiheit letzte Instanz. Versteht er hingegen jenes Uhrwerk, dann ist das in ihm, welchem jeden Augenblick mehrere Wege offen stehen und was der Initiative fähig ist, dem Geschehen mit völlig gebundener Marschroute überlegen; dann kann er diesem von sich aus die Richtung geben. Im Höchstfall sind ihm die Naturtatsachen nirgends letzte Instanzen mehr: sie sind ihm zu Ausdrucksmitteln geworden.

Doch zunächst gehorchen sie dem Geiste schlecht. Deshalb war erste Neigung jedes seiner Geistbestimmtheit bewusst gewordenen Menschentums, in voller Unbefangenheit Gebote auf- und herauszustellen, die dem Naturgefälle widerstreiten. Der Mensch sollte anders sein als er ist. Und da er nun einmal nicht anders war, und da er die Wirklichkeit nicht wunschgemäß ändern konnte, so erwuchs daraus nicht allein die Forderung: werde, der du bist! sondern die Neigung, ein fälschendes Bild seiner selbst vor sich hinzustellen, das ihn über seine Unzulänglichkeit hinwegtäuschte. Und erst recht stellte der Mensch die Außenwelt anders vor, als sie ist. Hieraus ergibt sich, dass zugleich mit dem Wahrheitsstreben das Bekenntnis zur Lüge geboren ward, ja dass die Lüge der Urausdruck der Geist-Mitbestimmung sein musste. Denn die Vorstellung war früh beliebig wandlungsfähig. So begann der Mensch zu dichten, lang bevor er beobachtete. Daher das Primat des Mythos. An für wissenschaftliche Begriffe unsinnigstem Tabu, an wirklichkeitsfremdestem Aberglauben hält der frühe Mensch fanatischer fest, als je ein späterer an erwiesener Wahrheit. Und auch da er langsam zu beobachten lernte, blieb die Sehnsucht des Menschen die alte, die Tatsachen einem selbstgeschaffenen Weltbild einzubilden. Daher das Primat der Hypothese in der Wissenschaft. Ich kenne wenig Sinnwidrigeres als den Glauben, dass der Mensch ursprünglich darnach strebe, die Dinge so zu erkennen, wie sie sind: er kämpft um seine eigene Welt. Will er den objektiven Sinn finden, so ist es ursprünglich nur, um seinen subjektiven Sinn zu retten in einem sinnlos erscheinenden All.

Dass der Weg zum Geist mit Wahrheitsstreben und Lüge zugleich begann, ist die Folge der Doppelnatur des Menschen, die ihre Wurzeln in zwei Reichen hat, dem irdischen und einem nicht-irdischen. In unserer Betrachtung über die Ur-Angst schrieben wir: zuerst wusste das Leben vom Schicksal und nicht vom Willen. Die erste Möglichkeit, die sich dank erwachter erster schwacher Initiative bot, dem Schicksal zu entrinnen, bestand im sich-Ver-Stellen, im ganzen Doppelsinn des deutschen Worts. Daher die Ur-Lüge. Zuerst trat das Geistige auf Erden in Gestalt des Schauspielers auf. Der Lurch spielte den Schlamm, die Larve das Laub oder den Ast, der Schmetterling die Hornisse. Der erste Impuls des Wilden ist überall, die Wahrheit zu verhehlen. So darf man, verallgemeinernd, behaupten: im Anfang war nicht der Mann, sondern das Weib, nicht die Wahrhaftigkeit, sondern die Lüge. Damals hatten wir keine Veranlassung, zwischen Erd- und Geist-Prinzipien so scharf zu unterscheiden, wie seither geschah. Aber ganz abgesehen davon ist es gar nicht möglich, auf frühen Stufen scharf zu unterscheiden. Wer das Geist-Problem vom Menschen-Embryo, ja noch vom kleinen Kind her stellte, würde wenig erfahren: nur vollendete Daseinsformen sind klar umrissen. Überdies berechtigt nichts zur Annahme, nur der Mensch könne am Geiste teilhaben. Im Gegenteil, schauen wir vorurteilslos die Wirklichkeit an, so wie sie ist, und benutzen wir Begriffe nur ihrem evidenten ursprünglichen Sinn gemäß, dann müssen wir sagen: schon auf frühester Lebensstufe wirkt Geist irgendwie mit. Im zusammenhängenden Werden der Wesen und Dinge ergeben sich alle entscheidenden Unterschiede aus Akzentverschiebung. So kann im Menschen der Akzent auf der Mineralität, der Reptilität, auf der Gana, der Delicadeza, der emotionalen Ordnung ruhen. Nie darf man ohne Vorurteil behaupten, dass das nicht Betonte und nicht Wirkende darum nicht da sei. So spielt schon bei zum Erlebnis werdender Ur-Angst eine noch so rudimentäre und schwache geistige Komponente mit. Mit der Ur-Lüge als Ur-Verstellung wird sie zum ersten Male deutlich. Da handelt es sich unzweifelhaft um noch so unbewusste Imagination, denn das Lebendige stellt hier ein Anderes dar, als es von Natur aus ist. Hieraus aber ergibt sich allgemein, dass der Erstausdruck der Geist-Mitbestimmtheit die Schauspielerei ist.

Daher das wesentliche Komödiantentum des Urtypus des Menschen, des Weibes. Das Element des Ur-Weibes ist zunächst die unwillkürliche Verstellung, wie solche die meisten Tiere in irgend einer Form zu ihrer Sicherung üben. Auf höherer Intellektualitätsstufe ist es die bewusste Lüge. Doch vollendet tritt das Ur-Weib erst in Erscheinung, wo sich in ihm die selbständige Seinsart des Schauspielers darstellt. Bei diesem primordialen Schauspielertum handelt es sich um ein anderes, als was wir unter Komödiantentum verstehen. Der echte Schauspieler im üblichen Verstand ist am meisten er selbst nicht in seinem Privatleben, sondern auf der Bühne, obgleich er auf dieser nie das ist, was er scheint. Nur für seine Rolle fühlt er sich so verantwortlich, wie andere für ihre persönliche Lebensführung. So führt sein Geistiges ein selbständiges Dasein. Doch er hat grundsätzlich zwei Leben, wie gleiches in anderem Sinn auch vom Dichter und Beamteten gilt, und nur das des Menschen empfindet er als sein persönlich eigenes. Beim Ur-Weibe ist solche Scheidung undurchführbar; bei der urweiblichen Frau gilt wörtlich die Gleichung: sie ist Schauspielerin. Vollkommen aufrichtig und durchaus real verwandelt sie sich von Mann zu Mann, entsprechend dem, was er von ihr verlangt oder an ihr liebt. Vor allem aber muss sie eine Rolle überhaupt spielen, um ganz sie selbst zu sein. Die Frau ist Priesterin, Hetäre, Amazone, Kleinbürgerin; prüde, zynisch, geistig gleichgültig oder geistig interessiert, ausschließlich Mutter oder ausschließlich Geliebte, je nach der Rolle, die sie die Situation, in der sie sich befindet, spielen heißt. Daher die tiefe Bedeutung der Mode. Andererseits aber entformt sie sich oder verdirbt sie, wo ihr keine Rolle aufgegeben wird. Das ist echte Schauspielerei auf der Ebene realen Lebens. Es ist nicht Mimikry, Verstellung im tierischen Verstand, es ist auch nicht Verstellung im Sinn bewusster Ränke; es ist auch kein reales Leben aus dem Geist heraus, wie bei dem Dichter, welcher sich selbst in erfundenen Gestalten auslebt, oder Darstellung selbständigen vom persönlichen Leben unabhängigen Geistes, wie beim professionellen Komödianten: es ist ursprüngliches Leben als Komödie.1

Dies nun ist die Urform geistbestimmten Lebens überhaupt. Ein anderer Sinn als der des physischen und psychischen Organismus als solchen, nutzt dessen Organe, Funktionen und Ausdrucksmittel.

1 In diesem Zusammenhang empfehle ich die beste Studie über die Frau als Schauspielerin, welche ich kenne: Sylvia, in Richard Müller-Freienfels’ Tagebuch eines Psychologen (Leipzig 1931, Seemann).
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
XII. Divina Commedia
© 1998- Schule des Rades
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