Schule des Rades

Hermann Keyserling

Mensch und Erde

Der erdbeherrschende Geist

Strahlkraft

Der bewunderungswürdige Vortrag meines Vorredners klang aus in einem Hohen Lied der Machtlosigkeit des Geists. Stellt man die Frage so, wie Scheler es tat, so hatte er natürlich recht. Was wir ursprünglich unter Macht verstehen, ist zweifelsohne rein irdischer Qualität. Und insofern kann man allerdings sagen: je irdischer ein Wesen, je niedriger, desto mächtiger erscheint es. So läuft in der modernen Welt nahezu alle Macht auf Geld hinaus. Die Idee der Allmacht Gottes ist, vom irdischen Machtbegriffe aus beurteilt, welchen allein wir unwillkürlich verwenden, zweifelsohne falsch. Kann die Welt im argen liegen trotz Gottes absolut guten Willens, so beweist dies das Gegenteil von Macht; konnte Christus den Schächer am Kreuze nicht erlösen, dessen Seele sich ihm nicht freiwillig öffnete, so bedeutet dies Ohnmacht. Schon im Adyar-Kapitel meines Reisetagebuchs habe ich auf dieses Verhältnis hingewiesen. Das Reich des Geistes ist wesentlich das Reich der Freiheit. Je reiner er ist, desto weniger weiß er von Zwang, und auf Zwangsmöglichkeit, in welchem Sinn auch immer, beruht letztendlich alle irdische Macht. Aber von dieser Fragestellung her scheint mir die Ganzheit des Problems nicht erschöpft zu werden.

Die Dinge liegen doch so, dass, vorausgesetzt dass die Natur sich dem Einfluss des Geistes öffnet, was freilich von ihr abhängt, Wirkungen erfolgen, die unter Umständen allerdings die Vorstellung der Allmacht nahelegen. Denn dann geschehen Veränderungen, die auf natürliche Weise kaum mehr zu erklären sind. Dies allein beweist, wie mich bedünkt, dass die mögliche Machtwirkung des Geistes dadurch nicht vollständig zu erklären ist, dass sich die Triebe und Leidenschaften ihm unterstellen. Gleichsinnig erschöpft sich das Problem der Suggestion nicht in dem der Zwangswirkung von Seele auf Seele. So darf ich denn Schelers Darlegungen ergänzen. Scheler sprach als Erkenntnistheoretiker (das Wort im weitesten Sinne verstanden). Dieser kann, auf Grund seiner Einstellung, auch wo er Wesensschau zu treiben vermeint, nur von außen an den Geist heran. Er betrachtet ihn auf der Projektionsfläche der herausgestellten Vorstellung, und daraus ergeben sich zwangsläufig Einseitigkeiten in der Bestimmung, die aber andererseits notwendig sind und die betreffende Seite auch richtig bestimmen. So erschöpft sich für Scheler das Wesen des Geistes mit Recht in seiner selbständigen Gegenständlichkeit. Aber an sich ist er — das würde Scheler, wenn er das Problem nicht als Theoretiker, sondern von seinem eigenen lebendigen Sein her beurteilen wollte, von dieser wirklichen Wurzel seines Wesens her nicht zwar denkend, sondern ihr unmittelbar Ausdruck verleihend, als erster zugeben, — an sich ist der Geist mehr: er ist eine im Rahmen der Natur nicht zu begreifende Kraft, die nur insofern, als sie nicht von der Natur ist, der natürlichen Macht entbehrt.

Der Geist ist an sich, funktionell beurteilt, eine besondere Strahlkraft, die sich verschieden äußert, je nach dem Medium, durch das sie hindurchleuchtet. Beim Philosophen ist er die Strahlkraft des eigenen Verstehens. Genau wie Driesch seinerzeit die ganze Tagungshörerschaft als Logiker nicht deshalb überzeugte, weil alle seinen Darlegungen genau gefolgt wären, sondern weil er als Logiker echt war, weil sich sein Geist in Form logischen Denkens wahrhaftig äußerte, so fand Scheler nicht, weil wir alle seine Gedankengänge genau nachgedacht hätten — mir ist Scheler jedenfalls denkerisch zu überlegen, als dass ich dies in der kurzen Zeit vermocht hätte —, so gewaltigen Anklang, sondern weil sein persönlicher Geist unmittelbar auf die ihm angemessene Weise ausstrahlte und wir dank dem zeitweilig an einer Seins-Wirklichkeit teilhatten, die jedem für sich mit gleicher Deutlichkeit und Intensität nicht zugänglich war. Weil dem so ist, deswegen kam es absolut nicht darauf an, dass alles ausgeführt wurde: was wirkt, worauf es ankommt, ist auch beim Philosophen nicht der Beweis, sondern die geistige Wirklichkeit, welche man, so man will, zum besten wissenschaftlich Eingestellter überdies beweisen mag. Noch so richtige Gedankengänge ohne entsprechende dahinterstehende geistige Wirklichkeit, welche unmittelbar ausstrahlt, bleiben notwendig wirkungslos. Geist ist, funktionell beurteilt, eine besondere Strahlkraft. Beim großen Philosophen ist sie die unmittelbare Übertragungsgabe eigenen Wissens. Beim Heiler entspricht die fragliche Wirklichkeit dem Begriff einer Strahlkraft im buchstäblich verständlichen Sinn am besten, denn hier ist die Wirkung der von physischen Strahlen am ähnlichsten. Beim durchgeistigten Gesicht äußert sich der Geist als ausstrahlender Ausdruck, im Medium der reinen Körperlichkeit erscheint er als Schönheit. In seinem affektiven Aspekt ist er die Liebe, welche Christus meinte.

Bei allem diesem handelt es sich unzweifelhaft um wahre Kräfte, und nur insofern ist Scheler recht zu geben, dass der Geist an sich machtlos ist, als es nicht Kräfte irdischen Charakters sind, und dass sie ihrerseits unmittelbar allein auf Geist wirken. Doch dies kann der theoretische Philosoph von seinem Standort aus, wie gesagt, nicht vertreten. Darum trifft Scheler hier kein Vorwurf. Von seinem Standpunkt hatte er durchaus recht. So war es auch nicht seine Sache, auseinanderzusetzen, dass Suggestion nicht nur und nicht wesentlich das ist, als was er sie hinstellte. Deren tiefstes Wesen beruht darauf, dass ein geistiger Gegenstand, als Vorstellung festgehalten, sich von selbst verwirklicht. So kommt man denn der wahren Einwirkungsmöglichkeit des Geistes auf die Erde nicht von den Schelerschen Distinktionen her bei, sondern allein von der Voraussetzung des Korrespondenzgesetzes von Sinn und Ausdruck. Je durchgeistigter ein Wesen ist, was bedeutet, dass das Geistige für Geistiges in seiner Sphäre empfänglich ist, desto mehr werden dessen Eigengesetze auf allen Ebenen zu Verkörperungs- und Verwirklichungsmitteln eben des Geistes. So wird die Trägheit, das Grundgesetz der Erde, zum wichtigsten Verwirklichungsmittel der Freiheit, gleichwie es die Schwerkraft ist, die dem Vogel das Fliegen ermöglicht. Eigentlich und gegenständlich geredet, dürfen wir, so wir das Gebiet der Erfahrung nicht verlassen wollen, im Fall des Menschen zwischen Leib, Seele und Geist nicht gar zu scharf trennen. Der Mensch ist, wie Scheler richtig gezeigt hat, an sich wesentlich Geist, andrerseits aber, von der Erde her betrachtet, der altchristlichen Lehre genau gemäß, die unauflösliche Einheit von Körper, Seele und Geist. Physische Macht hat er nur als Physis, psychische allein als Psyche; wir wissen alle von suggestiv zwingenden Menschen. Aber auch der reine Geist wird zur Macht, sobald er sich so verkörpert, dass das Naturgesetz der Entsprechung in Kraft treten kann. Und der Drang dazu rührt jedesmal vom Geist des Menschen her. Gewiss muss er die Triebe für sich gewinnen, aber dies ist eben der Sinn alles dessen, was zum Gebiet des Yoga im weitesten Sinn gehört. Jede höhere Religion lehrt, dass man einerseits beten muss, dass sich aber Gott andererseits viel mehr noch nach der Seele sehnt, die zu ihm will, als sie zu ihm. Dies beweist gewiss seine Machtlosigkeit vom irdischen Standpunkt, aber andererseits, dass wenn der Menschengeist sich öffnet, höhere Mächte in ihn einfließen. Und jede Kraft wirkt nur unter bestimmten Bedingungen.

Auf dieser Notwendigkeit, dass das Wort Fleisch werde, beruht denn die supreme Bedeutung der Sprachbegabung. Die Sprache ist der eine ganz reine und ursprünglich verkörperte Ausdruck des Geists. Die Sprache ist primär nicht Laut, sondern Sinnesausdruck. Darum ist die Mythe, dass alle Schöpfung auf das Wort zurückgeht, tief wahr. Wer die Gesetze des Wortes ganz beherrscht, in dem wird der Geist tatsächlich unmittelbar irdisch mächtig. Daher der alte Glaube, dass Namengebung schon Zauberei sei. Dass das Wort zauberkräftig sei, hat die Geschichte nun völlig eindeutig erwiesen. In wem das Wort irgendwie Fleisch ward — christlich ausgedrückt — oder auf chinesisch: wer die richtigen Bezeichnungen findet, durch den beherrscht Geist tatsächlich das Erdenreich. Während die tiefste Wahrheit an sich, wo sie zu keinem rechten Ausdruck gelangt, ganz in Schelerschem Verstande ohne Macht bleibt. Insofern beruht Christi Erlöserbedeutung auf Erden absolut nicht auf seiner Gottessohnschaft an sich — ich nehme hier, ohne persönliche Entscheidung, die Hypothese des Christentums an; als Mensch ward er ja gekreuzigt; und nur auf die wenigen konnte er bei Lebzeiten wirken, die unmittelbar an ihn glaubten, und dies waren wahrscheinlich, die besten nicht. Seine Erlöserbedeutung beruht darauf, dass er die Worte fand und von innen her beseelte, die seinen rein geistigen Impuls dem Erdkörper einverleibten. Bewiesen hat er nichts. Darauf legte kein aus eigener Kraft ausstrahlender Geist je den geringsten Wert. Bewies ein solcher doch, so war das nur ad usum professorum. Ein von innen her beseeltes Wort sagt mehr, als das dickste gelehrte Buch. Christi Worte haben die Welt bewegt nicht wegen, sondern trotz aller späteren Theologie. In seinen Worten wurde eben überirdischer Geist zur irdischen Wirklichkeit. So konnte vom irdischen Intellekt, vom irdischen Gemüt verstanden werden, was er persönlich wusste. Und darauf, darauf allein beruht der Siegeszug des Christentums.

Hermann Keyserling
Mensch und Erde · 1927
Der Leuchter · Achtes Buch
© 1998- Schule des Rades
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