Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

III. Wandel der Reiche

IV. Polverschiebungen - Ehevermittlung

Dieses Kapitel begann in besonders ernstem und tragischem Ton. Ich möchte die Reihe der bisherigen Exkurse aus musikalisch-kontrapunktischen Gründen mit einer Art Satyr-Spiel — also einem scheinbar besonders weitabführenden Exkurse — beschließen, bevor ich den Schlussakkord anschlage, einem Exkurse, an welchem besonders deutlich werden wird, wie vorläufig der in der ersten Hälfte der vierziger Jahre des XX. Jahrhunderts herrschende Zustand ist. Und zu letzterem Ende werde ich so tun, als nähme ich alles das, worüber ich innerlich lache, nach dem äußeren Ausdruck beurteilt, bitter ernst. Das über die zeitweilige Vertierung der jungen Generation Gesagte setze ich dabei als bekannt das heißt erinnert voraus und werde diesen Aspekt des Problems überhaupt nicht mehr berücksichtigen.

Bei meinem ersten Aufenthalt in den Vereinigten Staaten Nordamerikas, im Sommer 1912, kam mir auf der Eisenbahn der erste Prospekt eines Heiratsvermittlungsbureaus in die Hände, dessen Grundgedanke, in jene werbende Worte gefasst, darin amerikanische Reklametechniker Meister sind, dem Sinne nach der folgende war: Warum wollen Sie unglücklich verheiratet sein? Allzu viele sind es. Warum? Weil Ihr Bekanntenkreis zu klein ist. Nur unter Millionen lässt sich ein genau passender Ehepartner auslesen. Die Begegnung mit diesem herbeizuführen sollte nicht mehr dem dummen Zufall überlassen bleiben. Die bisherigen Methoden der Gattenwahl waren primitiv und plump. Wenden Sie sich an uns! Wir verfügen über das größte statistische Material der Welt, die präzisest arbeitende Maschinerie; unsere Vergleichs- und Werbemethoden entsprechen der vorgeschrittensten Psychologie. Wir sind darum in der Lage, Ihnen mit absoluter Sicherheit den einzig möglichen Gatten zuzuführen und vollkommenes persönliches Glück zu garantieren. Damals gab es in Europa noch nichts Ähnliches. Seither nun hat sich Europa überamerikanisiert oder genauer, es wird unaufhaltsam meta-amerikanisch und damit futuristisch, während Amerika konservativer wird. Darum sind drüben die Heiratsvermittlungsbureaus nicht zu solcher Bedeutung herangewachsen, wie ich es 1912 erwartete. Bei uns hingegen hat die amerikanische Erfindung zum Ausbau einer Großindustrie geführt, die im geheimen — denn zu den Geschäftsregeln gehört hier die Diskretion — das Schicksal der Menschen wahrscheinlich schon weit mehr beeinflusst, als es durch Fernsprecher und Kraftwagen beeinflusst worden ist. Fasziniert lese ich so oft ich nur kann die Selbstanzeigen Ehelustiger in den Zeitungen und daneben die so viel geschmackvolleren und vornehmeren Annoncen fachmännischer Beratungsstellen. Jedes Jahr stelle ich dabei eine etwas veränderte Einstellung fest. Doch die Bedeutung dieses neuen Wegs zum Eheglück scheint mir nicht einmal saisonmäßig zurückzugehen: sie wächst und schwillt vielmehr stetig an. Wahrscheinlich heiratet schon ein unverhältnismäßig großer Teil aller Deutschen, besonders unter reicheren und reiferen, auf diesem Wege. Und wahrscheinlich bildet sich an der gesteigerten Praxis im Typus der Vorsteherin eines erstklassigen Heiratsvermittlungsbureaus der raffinierteste Typ der Kupplerin heraus, welchen die Welt je gesehen hat.

Leider hat mir bisher noch keiner gestanden, dass er seinen Ehepartner auf dem Wege der Publizität fand, mit der untypischen Ausnahme einer älteren und fetteren Köchin, die sich bei einem angeblich zufälligen Zusammentreffen auf dem Bahnhof in fünf Minuten verlobte; die gab mir später zu, dass hier eine durch ein Bureau vermittelte Verabredung vorlag. Und vor allem habe ich leider bisher kein vertrautes Gespräch mit einer hervorragenden Vertreterin der Ehevermittlungsbranche führen dürfen. Weniges könnte mich mehr interessieren. Denn das Zusammenwirken von Publizität, Beichte, Indiskretion, Ehrfurcht vor dem Geheimnis und Menschenkenntnis setzt ein Raffinement voraus, das sich in anderen Berufen nicht so leicht ausbildet, so sehr jede Frau geborene Kupplerin ist. Nun gab es von je professionelle Heiratsvermittlerinnen, zumal in Kulturen, wo gegenseitige Unbekanntheit von Bräutigam und Braut bis zum Augenblick der Hochzeit Konvention war. Diese verfügten auch immer über außerordentliche Urteilsfähigkeit. Aber nie noch konnte die Frau als Ehevermittlerin solche inneren Möglichkeiten verwirklichen, wie dies dieser Beruf heutzutage seinem Wesen nach fordert. Und hier handelt es sich um etwas, was genauester Beobachtung und schärfsten Bedenkens wert ist: das Vermittlertum in Liebessachen ist als einziger Frauenberuf ähnlicher Versachlichung fähig, wie beinahe jeder Männerberuf. In bezug auf intime Beziehungen urteilen weibliche Augen und Gedanken ebenso unbestechlich und richtig wie männliche beim Richten und Messen.

Von der meist unfehlbar von Berufs wegen das Einmalige einschätzenden Vermittlerin her habe ich für meine Person zum ersten Male ganz verstanden, was wohl jeden Mann bei einem Mädchen, welches ans Heiraten denkt, am meisten befremdet: wie nüchtern es bei aller Verliebtheit abwägt und erwägt. Hier liegen die Dinge beim Menschenweibchen nicht anders als bei der Löwin, die gemächlich zuschaut, wie die Löwen um sie kämpfen, und dann dem überlebenden, nicht allzu beschädigten Sieger als einzig möglichem Gatten folgt. Sie liegen nur komplizierter und noch nüchterner; wenige schätzen zum Beispiel ihre Möglichkeiten sozialer Art nicht richtig ein, so wie sich wenige im Spiegel über ihr Aussehen Illusionen hingeben. Die sachliche Begabung des Weibes geht eben auf die Behandlung des Persönlichen, welches dabei persönlich bleibt, wo alles ursprünglich nicht-Sachliche durch sachliche Behandlung beim Mann zur toten Sache wird. So ist es denn nur natürlich, dass auf dem Gebiet der Eheschließung persönlich gänzlich unbeteiligte Dritte weiblichen Geschlechts oft einen so sicheren Instinkt beweisen, wie jene Insekten, die mit einem an ihrem Hinterteil befestigten Stachel durch Baumrinden hindurch bestimmte Ganglien einer Larve treffen, um sie zur späteren Nahrung für ihre Brut zu lähmen. Dies erklärt, dass von jeher von wissenden dritten Frauen vermittelte Ehen im großen und ganzen besser gegangen sind, als durch persönliche Initiative der Beteiligten geschlossene. Immer weniger traue ich den Frauen, welche behaupten, der persönliche Instinkt junger Mädchen wähle richtig — die Überzahl unglücklicher Ehen in dieser Zeit beweist das Gegenteil. Häufiger glücklich als unglücklich erweisen sich vermittelte Ehen sogar dort, wo die Partner einander vor der Heirat gar nicht kennen dürfen, sodass die Vermittlerinnen den gegenseitigen Eindruck nicht mit in Rechnung stellen können — selbstverständlich nehme ich die Fälle aus, wo die Konvention dem Mann gestattet, seine Frau als Sklavin zu misshandeln, was aber anerkannten Ehefrauen gegenüber seltener geschieht, als allgemein behauptet wird. (Genau so gibt es eine Traîte des blanches, mit deren Abstellung sich so viele leidenschaftlich beschäftigen, in größeren Umfange überhaupt nicht; die meisten Verführten verkaufen sich den Mädchenhändlern freiwillig, weil sie es als Geliebte unter allen Umständen besser zu haben hoffen, als in ihrem meistens schrecklichen Zuhause.) Dass Frauen oft die meiste Arbeit zu leisten haben, macht sie nämlich nicht unglücklich; sie sind der Teil der Menschheit, der beschäftigt werden muss, auf dass er sich wohl fühle. Haben Frauen nichts Nützliches zu tun, dann beschäftigen sie sich so intensiv mit ihren eigenen Sorgen, oder, wo diese nicht ausreichen, mit den Angelegenheiten anderer, dass dies psychologisch auf schlimmere drudgery herauskommt, als tägliches Großreinemachen. Oder schlimmer, sie erfinden sich gesellschaftliche Pflichten, die ihre Zeit mehr in Anspruch nehmen, als je eine hartarbeitende Bäuerin in Anspruch genommen wird. Auf diesem Gebiet liegen die Verhältnisse beinahe überall anders, als das Vorurteil der emanzipierten Frau es wahr haben will. So sind zum Beispiel die Ehen bei den Völkern, wo die Frauen ganz abgeschlossen leben, häufiger glücklich als unglücklich, und dies sogar im Fall erlaubten Konkubinats im gleichen Haus (dass alle Frauen im Harem die gleiche Stellung einnähmen, dass nicht eine von ihnen die eigentliche Ehefrau wäre, ist, wie schon gesagt, seltene Ausnahme, auch wo die Sitten keine solche Rangordnung anerkennen). Nach Berücksichtigung aller Aspekte dieses Problems bin ich denn zum paradoxalen Ergebnis gelangt, dass die unglückliche Ehe als Typus die ist, die durch die unberatene Initiative Liebender zustande kommt. Daher die ganze Eheproblematik, die es vor dem XIX. Jahrhundert auch in Europa als soziales Phänomen nicht gab (im nicht verwestlichten Osten gibt es sie heute noch nicht). So ist es denn auf dem Wege der groteskesten Enantiodromie aller Zeiten dahin gekommen, dass die Not der freien Wahl ihre Behebung in der völlig unpersönlichen Ehevermittlungsindustrie sucht, die als Industrie noch in ihren Anfängen steckt — viele suchen noch durch persönliche Annoncen in der Zeitung und durch die Vermittlung bekannter Dritter um die damit verbundenen Unkosten herumzukommen — doch je weiter die Zeit fortschreitet, desto mehr alles Handwerk durch höhere Leistung des Großbetriebes aushungern wird. Naturseide wird ewig Sache des einzelnen Züchters bleiben können. Kunstseide kann nur von Fabriken gewinnbringend hergestellt werden. Und die modernste Form der Eheschließung und der Ehe hat ihr Sinnbild an der Kunst- und nicht an der Naturseide.

Ich habe diesen Vergleich gewählt, weil ich persönlich ein begeisterter Anhänger kunstseidener Wäsche bin. Um wieviel anziehender sind dank ihr die meisten Mädchen geworden! Gleichsinnig werden wirklich viele junge Leute auf Grund der neuen Façon der Eheschließung, freilich auch auf neue, weniger dauerhafte Weise selig, als sie es bei den heutigen Ansprüchen und Gewohnheiten auf alte Weise werden könnten. Ein sehr Neues nun bedeutet die neue Façon allerdings — nicht anders wie die moderne Industrie gegenüber dem Handwerk, — und das ist es, was mich am Problem seit Jahrzehnten fasziniert. Eine Gutnachbarstochter antwortete mir vor vierzig Jahren auf meine ziemlich freche Frage, warum denn alle Bekannten innerhalb des gleichen Kirchspiels ihre Frauen beziehungsweise Männer kürten mit ihrem köstlichen estländischen Anapäst-artigen Tonfall: Ja wo nimmt man denn sonst? Die meisten der damaligen im engsten Kreis geschlossenen Ehen waren glücklich. Heute nun treibt, wo keine Organisation eingreift, der Zufall Menschenpaare von überall zusammen, und alle Fragestellungen erscheinen ähnlich umgekehrt, wie dieses damals geschah, als in Amerika zuerst die übliche Frage der Jugend Warum? ins Warum nicht? umschlug.

Wie kam es zu dieser Erschütterung aller Überlieferung? — An dieser Stelle muss ich ein schon behandeltes Thema neu variieren. Die industrielle Revolution hat natürlich wesentlich dazu beigetragen, indem sie viele in fester Sitte verankerte Lebensrahmen ganz zerstörte und den Arbeiterstand atomisierte, dessen Seelenzustand lange schon vom Unbewussten her alle Seelen zu beeinflussen begonnen hatte; seit Jahrzehnten schon will jeder Arbeiter in irgend einem Sinn geheißen sein, wie ehemals Freier oder Herr. Auch dieser Zustand ging zuerst in Amerika vom Latenten ins Manifeste über. Corrado Gini hat in seinem scharfsinnigen Buch Una Società lavorista, auf das ich in irgend einem Kapitel bereits kurz hinwies, nachgewiesen, dass alle Grundzüge der amerikanischen Psychologie ihren Ursprung darin haben, dass diese Gesellschaft als erste der Geschichte vom Arbeiter ihre Signatur erhalten hat. Daher die dortige Arbeitsfrenesie — Gini meint, in Amerika sollten die Gerichte logischerweise nicht zur Zwangsarbeit, sondern zur Zwangsmuße verurteilen — das mangelnde Verständnis für Intimität, der große Gemeinschaftssinn und überdies viele Einzelheiten, die bisher bei keiner kultivierten Schicht, dafür aber beim Arbeiter aller Länder anzutreffen waren, zum Beispiel die Gewohnheit die Gabel in der rechten Hand zu halten, alle Speisen auf einmal bei Tisch aufzutragen und die Hosen mit einem Gürtel anstatt mit Hosenträgern festzuhalten. Jeder Arbeiter fühlt sich ungebunden im Raum, ist von Natur freizügig und schwer verwurzelbar, in Korrelation dazu im Augenblicke lebend, das heißt, ohne Sinn für Dauer und Stetigkeit. Doch der versteht die Revolution der Ehesitten nur halb, der nicht unter das Soziologische hinabdringt. Die Zersetzung der Ehe hat romanische, überhaupt südliche Völker kaum ergriffen. Hier ist wirklich die nordische Rasse mit ihrem extremen Individualismus bahnbrechend und wegweisend gewesen — wegweisend insofern als Amerikanisierung in dieser Hinsicht auch psychische Aufnordung bedeutet. Die geistig-seelische Problematik der emanzipierten Frau (der Mann war einerseits immer emanzipiert, andererseits wird er es nie) wurde, wie schon erzählt, in Skandinavien geboren, woselbst der Wikingergeist schon lange kaum einen Mann mehr, um die Jahrhundertwende jedoch noch den größeren Teil der Frauenwelt beseelte. (In Norwegen tut er es anscheinend heute noch: man denke an Marika Nordens The gentle Men und die köstliche Evokation einer Norwegerin in Benraths Erinnerungen an Frauen). Linie bekam die Frauenemanzipationsbewegung erst, als Angelsächsinnen sich bewusst zu ihr zu bekennen begannen. De facto war die Engländerin von jeher freier als irgend eine Frau Europas und entsprechend selbstbewusst; aber als geborene Herrscherin und Regentin hielt sie nach außen zu streng die Formen und Normen ein, in die sie hineingeboren war und die ihr letztlich gerade ihr freies Herrinnentum gewährleisteten. Wegen dieses Herrinnentums hat es keine englische Periode der Revolution innerhalb der Beziehungen zwischen den Geschlechtern gegeben. Auf die skandinavische folgte unmittelbar die nordamerikanische — die deutsche Frauenbewegung blieb bis nach dem ersten Weltkrieg eine Variante der skandinavischen. In Amerika dominiert nun heute noch die Engländerin als soziale Urform und individueller Anspruch. Doch hat die Form drüben einen neuen Sinn bekommen. Die Amerikanerin ist nicht geborene Herrscherin, sie nimmt im Lande nur die Stellung einer höheren Kaste ohne entsprechende Verantwortung ein. So führte der nordische Individualismus in der Phase des weiblichen Emanzipationskampfes, als die puritanischen Bindungen sich zersetzten, zu einem Aufhören jeglicher Ordnung. Zur Zeit meiner zweiten Reise nach Amerika, 1928, bedeutete Eheschließung die Vorstufe vorbedachter Scheidung, band nur oberflächlichste Kompatibilität die Frauen an ihre Männer, war die Ehe im ganzen weniger als eine liaison in kultivierten Kreisen Europas, woselbst diese eine Form besonders naher persönlicher Bindung darstellt. Damals kam sogar ein phantastisch hoher Prozentsatz Ehen auf Grund der breachof-promise-Gesetze durch Erpressung zustande, schlugen unglaublich viele junge Mädchen, die man die marrying sort of girls hieß, die Karriere des häufig-Heiratens ein, um sich auf diese Weise schnell ein Vermögen zu machen.

Dass auf der geschilderten Grundlage echte Ehe und tiefes Eheglück — in so vielen Fällen sie praktisch vorkommen mögen — grundsätzlich unmöglich sind, liegt auf der Hand. Dass es in England trotz allem noch sehr viele sehr gute Ehen gibt, beruht auf zweierlei. Erstens auf der allgemeinen Menschennatur, welche die Ehe fordert und sich darum immer wieder als stärker erweist als Rasse und Tradition. Zweitens aber auf der ungeheuren Distanz, von der her alle Engländer miteinander verkehren und ihrem tiefen Formensinn. Bei solcher Selbstbeherrschung und so viel von der Konvention geforderten, in allgemeingültigen Formen verkörperten Rücksicht auf andere kann man auch mit einem sonst völlig unkompatiblen Gatten in einem Bette schlafen. Mir Einsamen war es eines der merkwürdigsten Erlebnisse, als ich 1903 einige Monate lang mit Archibald Russel, dem späteren Chef des Heroldamtes, und Eric Maclagan, dem späteren Direktor des South Kensington Museum, die Wohnung teilte. Beide waren mir völlig fremd, nahe Beziehung war ausgeschlossen, aber so reibungslos habe ich mit keinem, der mich verstand und der mich gern hatte, je zusammengewohnt. Es ist schon ein Wunderbares um grundsätzlich eingehaltene Distanz. Ich duze mich äußerst ungern und wie ich in meiner Jugend nach dem Grund gefragt wurde, erwiderte ich: Man sagt viel schwerer Sie Schwein als Du Schwein! Die Harmonie des Zusammenlebens der von Natur so explosiven Japaner beruht auf Gleichsinnigem, und auf Gleichsinnigem beruht auch die wunderbare chinesische Gemeinschaftskultur, wo die Konvention fordert, dass Unangenehmes neutralisiert werde. So gibt es innerhalb traditioneller chinesischer Großfamilien keine Ehekonflikte, weil jeder sofort laut auflacht, wenn er von einer so grotesken Möglichkeit hört. Auf dem unerhörten englischen Distanzgefühl beruht es zumal, dass Frauen vom Laster, welchem sie manchmal überbabylonisch fröhnen, so oft kaum überhaupt berührt werden. Dies fällt zumal auf im Vergleich zu jenem seit den römischen Kaiserinnen immer wiedergeborenen Typus von Italienerinnen, die kontrapunktisch zum idealen Hausfrauentum (la donna casalinga) der Mehrheit trotz hoher Stellung und Reichtums buchstäblich ein Hurenleben führen: der sieht man es immer an. Die Engländerin bleibt immer die unantastbare Herrin. Ich weiß von einem Fall, wo eine große Dame einem Mann, den sie für eine Nacht zu sich genommen hatte und der sie am nächsten Tag zu grüßen wagte, eine Ohrfeige herunterhieb. Das alles hat natürlich sehr großen Stil. Sittenlockerung in Amerika zersetzt demgegenüber jede Form. Da wird die Ehe als ein Geistgeborenes zur Unmöglichkeit. Darum wird drüben aus purem Selbst-Erhaltungstrieb auf alles Innenleben mehr und mehr Verzicht geleistet. In Sonderheit gibt es keine anerkannten Gemütsbindungen mehr. In Deutschland kann es nie zu dieser Entwicklung kommen, denn der Deutsche ist und bleibt vorwiegend Gemütswesen. Zum Allerunlebendigsten, zum Allersachlichsten gewinnt er in kürzester Zeit der Hingabe ein inniges persönliches Verhältnis, als handle es sich um eine Frage heimlichster Intimität. Welches andere Volk hätte je den Begriff der Liebe zur Sache erfunden? Neulich führte mir ein älterer Reisender für Feuerlöschapparate eine neue Form von Minimax vor: unwillkürlich dachte ich, wie er diesen hätschelte, daran, wie alte Damen manchmal Möpse lieben. Und so sorgte sich ein mir nah bekannter Buchhalter um das genaue Stimmen seiner Rechnungen nicht dem Sinn der Sache entsprechend, sondern wie sich eine Mutter um ein krankes Kind sorgt oder es möglichst sauber Gästen vorführt. Ich könnte mir denken, dass sogar Scharfrichter ähnlich empfänden. Man male sich nun das Idealbild der Vorsteherin eines den ganzen großdeutschen Raum umfassenden Heiratsbureaus aus. Wie es heute schon eine so vollkommen eingerichtete Sippenkartothek geben soll, dass sich auf Grund ihrer innerhalb von zwei Minuten jeder (wie immer buchstabierte) Meier herausfinden lässt, so ließe sich denken, dass eine kupplerisch begnadete Frau von Grabwespen-artiger Feinfühligkeit für unbekannte Intimität auf Grund der Statistik ausgewerteter Präzedenzfälle für jeden den einzig richtigen Gatten über alle Raum- und Zeitgrenzen hinaus sofort herausfände, gleichwie das männliche Nachtpfauenauge das mannbare Weibchen durch alle Häuserblocks Groß-Berlins hindurchspürt und ihm in gerader Linie zufliegt. Solche Vermittlerin könnte alles überhaupt Berechenbare fehlerfrei vorausberechnen, und dazu gehört gerade das, worin die meisten ihr Tiefstes sehen: die Kompatibilität der Gemüter, Sentimente und Sentimentalitäten. Das wahrhaft Einzige entgeht freilich jeder Statistik — aber für dieses ist ja den neuen Generationen jeder Sinn verloren gegangen. Sie identifizieren sich einerseits mit der Gemeinschaft, welcher sie eingeordnet werden, andererseits, in Kompensation dazu, mit der privaten Idiosynkrasie, wenn nicht ihrem primitivsten Egoismus. Das wahre Selbst, das Naturüberwindende vom rein persönlich Freien her ist ihnen unzugänglich geworden. Es ist dies eine der merkwürdigsten Seelenverschiebungen der Geschichte. Die Gemeinschaft soll immer recht haben, sogar über das eine, was noch keine frühere Kultur anders als rein persönlich auffasste, die Ehre, letztinstanzlich urteilen dürfen, an die Stelle der Stimme des Schicksals und der Berufung ist das Ergebnis einer Leistungsprüfung getreten: unter diesen Umständen kann als Gegenpol zur Entäußerung tatsächlich nur krasser Egoismus konstelliert werden. Dieser charakterisiert nun die neuen, angeblich nur von Gemeinschaftssinn beseelten Generationen, wie keine frühere. Nur tarnt er sich meist auf gefällige Weise. Die Urbilder dieses Zustandes sind wie die meisten dieses unseres nordamerikanischen Zeitalters in den Vereinigten Staaten zu finden: es sind die liebenswürdige Hilflosigkeit mimenden Filmhelden Charlie Chaplin und Harold Lloyd. Nichts erscheint mir symptomatischer für die Gesamtlage der Westwelt als der von keinem echten Helden je erreichte Welterfolg dieser an sich minderwertigen Vertreter. Wo der größte Teil des Lebens von äußerer Organisation aufgefangen wird, da behauptet sich das Individuelle und Intime scheinbar harmlos durch passiven Widerstand, sich-gehen-Lassen, Langsamkeit, Unpünktlichkeit, Verantwortungslosigkeit, persönliche Bevorzugung, die unmerklich zur Korruption wird und sentimentale Liebesforderungen. Wie ein junger Mitarbeiter von mir unerträgliche Trägheit bewies und nicht einmal das pünktlich leistete, was ich als Mindestmaß an Leistung von ihm fordern durfte, besserte er sich nicht etwa, sondern er lief überall in Darmstadt herum und klagte männiglich, er fände bei mir nicht genügend Liebe. Auf dem Gebiet der Geschlechtsliebe und der Gattenwahl herrscht genau die gleiche Polarität. Die Erfüllung der Sehnsucht wird in dem Oberflächlichen gesucht, was äußerer Organisiertheit als innerer Gegenpol entspricht. Männlein und Weiblein finden sich fürs Leben aus Motiven, die sie in tieferen Zeiten nur auf Stunden zusammengeführt hätten.

Hier nun könnte und sollte die geniale Groß-Kupplerin eingreifen. Bei der heutigen Vermassung und dem heutigen Glauben an Organisation und Fachmanntum kann wahrscheinlich nur noch ein Bureau dauerndem Unglück im Alkoven vorbeugen. Vielleicht kommt es noch dahin, dass nur noch Heiratsbureaus glückliche Ehen zustandebringen werden, ja dass nur noch auf solchem Wege geschlossene Ehen in Ansehen stehen werden. Der direkte Weg persönlicher Bekanntschaft führt in den Kreisen Deutschlands, in denen nicht noch alte und weise Überlieferung bestimmend fortlebt, sehr schwer mehr zur richtigen Gattenwahl. Seit dem Weltkriege lernen sich die jungen Leute zuerst im Schwimmbad kennen, oder tun sie das nicht, so gehen sie zur Nachprüfung möglichst bald zusammen hinein. Sie sagen einander von vornherein Du, gehen allein miteinander aus, und oft beginnt die Bekanntschaft mit Geschlechtsverkehr. Wie sollen unerfahrene junge Leute, wenn sie vom verkehrten Ende anfangen, einen Gefährten fürs Leben richtig diagnostizieren? Zumal die Nähe des Kontaktes die erste Liebe besonders blind macht. Nichts korrigiert hier die Mechanik des Spiels der Triebe. Vielleicht kommt noch einmal die Zeit, wo die fachmännisch geschulte Heiratsvermittlerin die geheiligte Rolle des Priesters übernimmt, wo sie allein noch dafür sorgt, dass Ehen im Himmel geschlossen werden. Damit gelangte Deutschland auf einem wunderlichen Wege zur uralten Form der Eheschließung durch professionelle Vermittlerinnen zurück. Dann gälte wirklich nur noch die vermittelte Ehe als standesgemäß. Ja, auf die Norm der ersten Bekanntschaft im Bade könnte als Kontrapunkt folgen, dass sich die künftigen Eheleute vor der Heirat überhaupt nicht mehr sehen dürfen, auf dass unsachliche Behandlung dieses volkswichtigen Problems ausgeschlossen würde. Sind Gottes Wege nicht wunderbar? Zwischen 1920 und 1940 versuchte die fortgeschrittenste Jugend das dunkel empfundene Negative ihrer Situation vielfach damit zum Positiven zu wenden, dass sie jedes Nachgeben dem Gefühle verurteilte. Es sollte einerseits nüchternster Verstand, andererseits ungehemmte Sinnlichkeit herrschen und im übrigen hätten Motive sozialer Zweckmäßigkeit zu bestimmen. Angelsachsen, besonders Angelsächsinnen, ist dies wirklich geglückt. Aber wie sollten Deutsche lange ohne bestimmendes Gemüt leben können? Die häufigste Wirkung des Vorurteils war von vornherein die, dass sich die verdrängten Wünsche des Gemüts an das wenigst Passende hefteten. Alles dieses kann schließlich zu dem Ergebnis führen, dass sich die Richtigen überhaupt nicht mehr finden und dass nur mehr auf Neigung und Einklang spezialisierende Institute das bewirken können, was eigentlich Sache des persönlichsten Willens sein sollte. Damit wäre denn wohl das Höchstmaß an Versachlichung erreicht, das menschenmöglich ist. Damit hätte die Welt der Künstlichkeit den Endsieg über das ursprüngliche Leben davongetragen.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
III. Wandel der Reiche
© 1998- Schule des Rades
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