Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

III. Wandel der Reiche

V. Um das Individuum - Menschenwürde

Hier nun offenbart sich eine der Grund- und Antinomie -Paradoxien des Lebens. Die Individualisierung, welche einerseits durch die Prädominanz des Geldes als Hauptexponenten des Sachlichen und Verstandesmäßigen überhaupt in ihrer Entwicklung gehemmt wurde, lief andererseits der Intellektualisierung eine lange Wegstrecke parallel, weswegen es nicht verwunderlich ist, dass in der Vorherrschaft des Verstandesmäßigen noch heute seitens der Mehrheit der Menschen das Heil gesehen wird. Die Intellektualisierung und damit die Anerkennung der Höherwertigkeit des sachlich Richtigen gegenüber dem überkommenen allein konnte es bei der Trägheit der Gana bewirken, dass sich der Mensch von überlebten Bindungen überhaupt löste. Auch der positive Aspekt dessen, wovon im Vorhergehenden hauptsächlich der negative beleuchtet wurde, lässt sich vom Wesen des Geldes her am leichtesten würdigen. Von der Beziehung an sich her, als welche das Geld bedeutet und auf sie hin gibt es wirklich Gleichheit und darum in-einander-Umsetzbarkeit des an sich völlig Unvergleichlichen und Unvereinbaren. Darum liegt es im Wesen der Geldwirtschaft, alle Werte zu mobilisieren, und darunter an erster Stelle das Individuum. Wo der Geld-Gedanke bei Besitz- und Eigentumsverhältnissen vorherrscht, ist damit alle vormals unauflösliche Bindung an bestimmt-Konkretes gelöst. Es ersteht auf höherer Stufe das wieder, was zuletzt die erobernden Nomaden, insbesondere die Reitervölker gegenüber den pflanzenhaften Ackerbauern kennzeichnete; bekanntlich ging alle Entwicklung in der Richtung höheren und darum freieren Menschentums auf Erden, auch wo die jeweils Besiegten die Begabteren waren, von diesen innerlich unabhängigen Herren aus (selbstverständlich sehe ich hier von den Fortschritts-unfähigen Nomadenrassen ab). Erst durch die Vorherrschaft überall gültigen Geldes wurde grundsätzliche Freizügigkeit ermöglicht; Freizügigkeit allein aber ermöglicht individuelle Entfaltung außerhalb von Familien und Schichten erlauchtester Stellung. Aus den gleichen Gründen bevorzugen die meisten dienenden Menschen eine Anstellung, die nur einen Teil ihrer Persönlichkeit in Anspruch nimmt: das ermöglicht ihnen größere Beweglichkeit. Nur ganz ausnahmsweise gab es je einen Propheten im eigenen Vaterland, denn jeder Außerordentliche ist eben darum ein aus der Art Geschlagener. So begann die deutsche Geistesfreiheit dann erst zur Dominante des Deutschtums zu werden, als die Landesherren die vormals als oberste Geistesinstanz allgemein anerkannte Kurie durch Landesuniversitäten ersetzten und jeder in einem Lande um seiner Ansicht willen beanstandete bedeutende Geistige eben deshalb Aussicht hatte, in einem anderen frei reden zu dürfen; als Professor wurde er gar verpflichtet, gegen anderen Ländern Zugehörige vom Leder zu ziehen, woraus sich die Tradition gegenseitiger Beschimpfung unter Gelehrten erklärt, die noch in meiner Jugend das Differentialkennzeichen deutschen Kampfs der Geister war. Im gleichen Sinne ist es kein Zufall, dass alle großen Geister der Vor- und Frühzeit als große Reisende geschildert werden; gewohnheitsmäßig seßhaft wurde der bedeutende Geist erst von dem Augenblicke an, wo er durch überall zugängliche Lektüre persönliche Bewegung ersetzen zu können glaubte. Und ganz freiwillig seßhaft ist bis zu der Zeit, wo jeder alternde Mensch aus physiologischen Gründen Bewegungs-abgeneigt wird, keiner von ihnen gewesen. Das Individuum kann sich eben nur voll entfalten, wenn es sich sehr vielen Eindrücken und Einflüssen aussetzt und sich mit sehr Vielen polarisiert; eben darum haben die begabten Rassen gerade ihre Eigenart erst dort entfaltet, wo sie mit andersartigen in nahe Dauerberührung kamen. Eben darum gehen die meisten Kulturgründungen alter Zeiten auf Eroberer und unter diesen besonders auf Seefahrer zurück, zu welchen in diesem Zusammenhang auch die andauernd von Seefahrern besuchten Land-Eingesessenen zu rechnen sind. Erst im Stadium vollendeter Kultur ist es ersprießlich, sich abgeschlossen zu erhalten, gleichwie die indischen Brahmanen nicht über das Wasser reisen dürfen oder wenigstens in meiner Jugend durften; das bedeutet das Gleiche, wie die Erwünschtheit der Inzucht zwecks Erhaltung eines konsolidierten spezifischen Typus’ und Seinsniveaus. Wo es nun die Verbreitung von Bildung gilt, da ist Freizügigkeit und Beweglichkeit vollends Grunderfordernis. Daher die ungeheure Kulturbedeutung des Händlerstandes, in bezug auf welchen ich bisher das Negative hervorhob. Wohl fehlen dem Kaufmann als Typus die Vorzüge des Grundbesitzers, und das Vorherrschen des Erwerbssinnes bei ihm erschwert die Entfaltung zu einem höheren Typus. Aber der Kaufmann ist andererseits der geborene Vermittler. Er wurde auch von jeher als solcher anerkannt, so sehr, dass er in frühen Zuständen geradezu sakrosankt war. So konnte er zuerst große Reisen wagen; verhältnismäßig sehr selten wurde er beraubt, ja in gewissen Gegenden und Zeiten übernahmen sogar professionelle Räuber (im altrömischen Reich zum Beispiel die Beduinen Syriens und Arabiens) deren Schutz. Niemand hinderte ihn sogar mit miteinander kriegführenden Völkern gleichzeitig Handel zu treiben. Diese Sakrosanktheit des Kaufmanns bedeutete ein viel Realeres als diejenige des Bauern und des Geistlichen, die immer mehr in der Theorie als in der Praxis bestand; unvermeidlicherweise verwüsteten kämpfende Heere des ersteren Land und die meisten rauhen Krieger dürften einen Heiligen nicht besser auf den ersten Blick erkannt und darum geschont haben, wie der römische Soldat, der den in seine Zirkel versenkten Archimedes erschlug. Zudem wurde der Kaufmann von aller Welt als zuverlässig, friedlich und neutral vorgestellt. So ist es denn gekommen, dass überall der heute sogenannte dritte Stand, der aus dem primär Erwerbenden hervorging, bei hoher Entwicklung zum gebildetsten geworden ist. Auch heute stellt der Kaufmanns- und Industriellenstand die relativ größte Anzahl von Mäzenen. Da nun Individualisierung und Höchstschätzung des Individuellen Selbstbestimmung und Freizügigkeit des Individuums voraussetzt, so leuchtet schon aus diesen kurzen Erwägungen, wie mir scheint, abschließend ein, dass der Geldwirtschaft eine ungeheuer positive Bedeutung bei der Emanzipierung des Individuums zukommt.

Aber diese Bedeutung war eine hauptsächlich positive nur bis zu dem kritischen Punkt, wo das Geld in Form des Kapitals und des diesem dienstbaren (nicht dasselbe souverän beherrschenden) Kapitalisten sich zu einer selbständigen Macht herausdifferenzierte. Von dem Augenblicke an wurde es zu einem ebenso erbitterten Feinde jeder Selbständigkeit, wie der absolute Staat, ja zu einem ernsteren Feinde, als seiner unsichtbaren Macht von den überkommenen Rechtsbegriffen her überhaupt keine Grenzen gesetzt waren und überdies die Geldgier, die in beinahe jedem Menschen zuunterst lebt, der Allmacht-Forderung des Kapitals entgegenkam. Seither begann der Mensch typischerweise käuflich zu werden. Seither wurde eine Schranke nach der anderen abgebaut, welche früher der Macht des Goldes Grenzen setzte. Damit ging natürlich ein Abbau aller Sonderrechte zu paar. Noch vor wenigen Jahrhunderten konnte ein eigentlich rechtloser Jude mit einem offiziell unbeschränkten Herrscher auf bestimmter Ebene von gleich zu gleich verhandeln. Im alten Rom waren alle Rechte sogar so scharf gegeneinander abgegrenzt, dass im Grenzfall ein armer Freier einen Millionär zum Sklaven haben konnte; diesem gegenüber war jener zu allem berechtigt, nur nicht zum Vergreifen an dessen Eigentum. Von hier aus versteht man, nebenbei bemerkt, am besten den Wunsch einer immer größeren Anzahl von Menschen nach Sozialisierung: alles Sozialisierte ist dadurch allein aus der Sphäre des ôtes-toi que je m’y mette herausgehoben. Aus der Vorherrschaft des Geldes ergab sich dann — nicht zwar logisch, jedoch mit psychologischer Notwendigkeit — die Vorherrschaft des Sachlichen überhaupt. Damit aber war die persönliche Freiheit grundsätzlich erledigt. Unter persönlicher Freiheit ist nämlich unbedingte Freiheit des privaten Individuums als letzter Instanz zu verstehen, ein von jeder Erlaubnis und jedem Rechte Unabhängiges. Wenn England bis in die allerjüngste Zeit als das freieste Land der Welt galt, so war es wegen der Habeas Corpus Akte, der anerkannten Unverletzbarkeit des Heims und den scharfen und unverrückbaren Grenzen, welche dem Eingreifen der Behörden überhaupt gesetzt waren. Noch heute ist England jedenfalls das am wenigsten versachlichte Land, in welchem darum das durchschnittliche Individuum am leichtesten voll ausschlägt. Ist die Basis der intellektuellen Begabung und Bildung in Deutschland die breiteste, so ist es in England die der persönlichen Unabhängigkeit und darum der Zivilcourage. Daher das selbstverständliche Bekenntnis aller Stände zum Gentleman-Ideal.

Hier darf und muss ich, dem Stile dieses Buches gemäß, wieder einmal bei Persönlichem anknüpfen und das bisher theoretisch Auseinandergesetzte auf Erlebtes zurückbeziehen. Ich muss es vor allem, um zu zeigen, wie zeitlos wahr und wirklich und darum immer wiederkehrend — man denke an den deus occasionatus des Nikolaus von Cues — das ist, was meist als bestimmter historischer Zustand beurteilt wird. Mir lag als Ausbrecher aus der baltischen Großgrundbesitzertradition, gemäß welcher der Mensch für sein Gut da zu sein hatte, und aus einer wenig differenzierten und unbeweglichen Umwelt, in welcher Geld darum rar und teuer war, zur Befriedigung meines unbändigen Freiheitsstrebens vor allem an barem Geld. Ein Gutsnachbar von mir, welcher ganz in seiner angeborenen Stellung aufging, hatte das Gefühl, mehr als seine Bestimmung erfüllt zu haben, als er genau errechnete, wieviel die Produktion eines Pudes1 Kartoffeln kostete und diese Arbeit veröffentlichte. Wie er mir das erzählte, erwiderte ich ihm: ich stelle einzig und allein die Frage, wieviel Geld ich im Ausland verleben darf. Und auf seine Replik, dass bei solcher Gesinnung mein Gut herunterkommen müsse, antwortete ich: Selbstverständlich tue ich alles, um mein Gut heraufzubringen, erstens aus Liebe und Verantwortungsgefühl, dann aber auch, weil eben dies mir immer größere Freizügigkeit ermöglicht. Doch anstatt auf Reisen zu verzichten, schränke ich zu Hause meine Lebenskosten auf das Minimum ein. Wirklich dachte ich, solange ich Gutsbesitzer war, niemals daran, das verbrannte Könno wieder aufzubauen, das während der ersten russischen Revolution halbentmöbelte Rayküll neu einzurichten und einen größeren Haus- und Hofstaat zu halten, als unvermeidlich war. Ich kaufte überhaupt nichts. Dank dem konnte ich wirklich jedes Jahr mehrere Monate lang mit gutem Gewissen reisen, was sich viel Reichere als ich nicht leisten konnten. Mein Großgrundbesitzertum war mein Selbstverständliches, das darum mein Bewusstsein kaum beschäftigte außer in dem Sinn, dass es für den freien Geist in mir eine glebae adscriptio bedeutete, aus welcher ich hinausstrebte. Insofern fühlte ich mich als Teilhaber der Emanzipationsbestrebungen der Bauern in Russland und galt darum in weiten Kreisen meiner Standesgenossen als rot. Ja dank der Grenzenlosigkeit meines Freiheitsstrebens, welches darum nie befriedigt werden konnte, fühlte ich mich durch die mir gesetzten immerhin weiten Grenzen mehr gehemmt, als sich die meisten unterdrückten und daraufhin rebellierenden Unterschichten gefühlt haben, als welche ja ob ihres angeborenen Kollektivismus nie ein dem meinen auch nur annähernd vergleichbares Freiheitsbedürfnis gekannt haben und kennen. Hierzu trat als diesen Leidenszustand steigerndes Motiv ein so extrem ausgebildetes Einzigkeitsbewusstsein, dass ich eine mir von außen her auferlegte allgemeine Norm, die ich nicht zugleich freiwillig anerkannte, ursprünglich überhaupt nicht als für mich gültig hinnehmen konnte. Gern schenkte ich freiwillig mehr, als mir abverlangt wurde, gern brachte ich Opfer, aber jede Verordnung von oben her wirkte auf mich automatisch als Erpressungsversuch. Und hierbei erging es mir wie jedem, welcher es relativ gut hat: die geringste Hemmung empfand ich als bedrückender als der, welchem es objektiv sehr schlecht geht, wirkliche Unterdrückung empfindet; so fühlen sich sehr viele Eingekerkerte nicht unglücklich, weil ihnen das Gefängnis zur Selbstverständlichkeit geworden ist, und erleben an kleinen Vergünstigungen mehr Freude, als Freie an großen Glückszufällen. So litt ich bitter unter dem bloßen Paßwesen, das es innerhalb Europas vor dem ersten Weltkriege allein in Russland gab: ich empfand es als herabwürdigend, dass ich zum Reisen einen Paß beantragen musste, der mir eventuell abgeschlagen werden könnte, und dass ich an der Grenze überhaupt kontrolliert wurde; darum fühlte ich mich, so privilegiert ich in Russland tatsächlich war, jedes Mal erleichtert, wenn ich die Grenze nach Westen zu passiert hatte oder der Dampfer aus Reval ausgelaufen war. (Wie schwer ich später unter realer Armut und wirklicher Freiheitsbeschränkung und Unterdrückung litt, mag sich jeder selber ausmalen.) Wenn ich dann aber nach dem Westen, besonders nach Deutschland kam, dann fühlte ich mich in anderen Hinsichten gehemmter, als je in Russland. Erstens brauchte ich dort viel mehr Geld als zu Hause, — mit fünftausend Rubel im Jahr konnte man bei der Teuerkeit des Geldes und der Billigkeit der Bedienung und der Lebensmittel sogar in Petersburg besser und größer leben, als in irgendeiner europäischen Großstadt — ich gehörte dort also innerhalb der Kreise, in welchen ich selbstverständlich verkehrte, zu den Ärmeren, denn so viel Geld wie sie konnte ich in meinen wohlhabendsten Zeiten nicht ausgeben. Insofern fühlte ich mich auch unwillkürlich solidarisch mit jedem begabten Armen, der in der Gesellschaft aufzusteigen strebt. Zweitens verstand ich von Finanzen nichts, weswegen geringfügige Schwierigkeiten auf diesem Gebiet für mein Bewusstsein ins Riesengroße anwuchsen und mich leicht innerlich lähmten. So wagte ich nie Schulden zu machen oder Geld aufzunehmen, ich gab mir selber sozusagen keinen materiellen Kredit, obgleich mir solcher von anderen in hohem Maße zuerkannt wurde; auch hierin empfand ich ohne Grund dazu mit Armen gleich. In meiner Jugend träumte ich immer wieder von einer von allen Kursschwankungen unabhängigen Rente von einem anderen Gestirne her, die mich aller finanziellen Schwierigkeiten auf Erden ein für alle Mal enthöbe. Und später bejahte ich die Ziele des Sozialismus insofern, als sozialisiertes Leben jedem Menschen endlich die elementare Sicherung gewährleisten könnte, die jedem Tier von der Natur geschenkt wird, so dass die Sorge aufhören würde, Grundmotiv zu sein. Um des letzteren willen bejahte ich mit einem Teil meines Wesens auch die Umstürze, die mich selber ruinierten: so hatte meine immer lebendige Sorge um Materielles endlich einen realen Gegenstand, wodurch sie als Sorge aufgehoben wurde, und die Gleichheit des Schicksals vieler — man gedenke des lateinischen Verses solamen miseris socios habuisse malorum; es ist bedeutsam, dass dieser Vers, den ich mit acht oder neun Jahren zum ersten Male las, als einer unter wenigen sofort in meinem Gedächtnis haften blieb — wirkte ihrerseits erleichternd, indem sie eine neue, den neuen Verhältnissen angemessene Selbstverständlichkeit schuf. Von hier aus ist, nebenbei bemerkt, die relative Befriedigtheit und darum das seltene Rebellieren unterdrückter Massen am besten zu verstehen sowie die selbstverständliche Hilfsbereitschaft, welche bei den meisten von großen Katastrophen Überraschten spontan erwacht; — gleiche Gefährdung weckt unwillkürlich Solidaritätsgefühl, ebenso freilich der Mangel an Herzenstakt und -phantasie so vieler, welchen Privilegiertsein selbstverständlich ist. Nie im Leben fühlte ich mich dermaßen unglücklich, wie 1925 als Gast eines reichen Hauses in Rom, weil die zu aller Zeit trockenen und phantasiearmen Italiener höherer sozialer Stellung bei aller Freundlichkeit überhaupt kein Verständnis für meine Enterbten-Lage aufbrachten und dieses offen zeigten; während des zweiten Weltkrieges dürfte es auch dort besser geworden sein. — Doch zurück zu meinem sonderlichen Freiheitsstreben. Abgesehen von meiner relativen Armut bedrückte mich in Deutschland von vornherein die Vorherrschaft des Sachlichen über dem Persönlichen, das schon um die Jahrhundertwende das Differentialkennzeichen Deutschlands innerhalb Europas war. So sachlich gesinnt war Deutschland damals schon, dass es Persönlichkeit als solche überhaupt nicht anerkannte — eben darum verherrlichte es sie wie kein zweites Volk in der Theorie; anerkannt wurde ein Mensch nur als Vertreter einer sachlich zu begreifenden Stellung, von derjenigen des Alters angefangen über die Rangklassen der Beamten-Hierarchie bis zum Ordens- und Titelträgertum; von jedem Vorgesetzten ließ sich der Deutsche bereitwillig anschnauzen, während er auf den geringsten mehr-Anspruch einer Persönlichkeit um ihres inneren Ranges willen sauer reagierte, es sei denn, der Ruhm hätte eine Sonderart amtlicher Anerkennung geschaffen; es ist bezeichnend, dass von Berühmtheiten hauptsächlich in Deutschland Anekdoten, die deren Grobheit illustrieren, immer wieder erinnert und dass gerade diese von weitesten Kreisen goutiert werden. Beinahe könnte man behaupten: Wilhelm II. musste Bismarck entlassen, weil im Wilhelminischen Zeitalter für eine so freie Persönlichkeit wie ihn kein Raum mehr war.

Doch wie es bei mir immer der Fall gewesen ist: der Widerstand reizte mich — nicht etwa zur Opposition und zum direkten Kampf (früh schon wusste ich von mir aus, was Lao Tse am explizitesten gelehrt hat, dass nur Wirken ohne zu streiten tiefe Erfolge zeitigt, weil es keine Gegenbewegungen weckt, und dass, wenn einmal eine unerwünschte Bewegung zur Macht gelangt ist, nichts übrig bleibt, als sie sich totlaufen zu lassen), sondern zu Initiativen, deren Erfolg das von mir Abgelehnte von selbst erledigen musste. Ich verzichtete auf jeden Rechtsanspruch überhaupt, behauptete dafür aber völlig unbefangen mein Sein und meinen inneren Rang, für welchen die anderen, die ich hier meine, kein Aufnahme- und darum aber auch kein Abwehrorgan besaßen, und im Sinne dessen, was Goethe einmal also ausdrückte:

Der Mensch wird von vornherein immer so genommen, wie er sich gibt; er muss sich aber auch für etwas geben,

habe ich mich eigentlich von meinem zwanzigsten Lebensjahre an als der durchgesetzt, als der ich wirken wollte, was freilich vor meiner Enterbung durch die russisch-estnische Revolution dadurch erleichtert wurde, dass ich von niemandem abhing, niemandem im Wege stand und niemals lange genug an einem Orte (außer in meinem zu Hause, in dessen Sanktum ich sehr selten jemand hineinließ, ich verkehrte in Rayküll mit niemandem) weilte, um eine konsolidierte Daueropposition zu schaffen. Wie nun der Kampf gegen das Individuum als solches im Verlauf des Sieges des sozialen Gedankens immer akuter wurde, da erwachte in mir korrelativ dazu das Gefühl der Mission, innerhalb einer neuen Gesamtlage dasjenige desto mehr und in desto schärferer Herausarbeitung zur Geltung zu bringen, worin ich den ganzen Sinn und Wert des Menschenlebens sehe. Auf der Darmstädter Weisheitstagung mit dem Gesamttitel Weltanschauung und Lebensgestaltung des Jahres 1923 gab ich das letzte Wort vor meinem Schlussvortrag einem Arbeiter als dem fortan bestimmenden Standesvertreter. (Leider hat dieser, es war Artur Zickler, seine Verpflichtung, seinen Vortrag Die Welt des Arbeiters für den Leuchter auszuarbeiten, nicht eingehalten, so dass er gedruckt überhaupt nicht vorliegt. Alle meine Briefe jedoch, welche die Einstellung dieses, wie jedes orchestrierten Tagungs-Vortrags innerhalb des Gesamtthemas schufen, sind, soweit Abschriften davon in Darmstadt lagen, verbrannt.) In meinem in Wiedergeburt abgedruckten Schlussvortrag zeigte ich alsdann, wie die ewigen Menschheitswerte auch in eine vom Geist des Arbeiters äußerlich bestimmte Welt hinüberzuretten seien. Wie ich dann ab 1926 wieder frei überall in der Welt herumreisen konnte, kam ich mit an der Demokratisierung und Sozialisierung Beteiligten verschiedenster Art und Abart zusammen, lernte viel dabei und dabei präzisierte sich das immer mehr, was ich als praktisches Ziel herauszustellen gedachte, wenn die Zeit einmal reif dafür sein würde. Nun, bisher ist sie das nicht gewesen; so bin ich in bezug auf diese Fragen immer mehr verstummt. Aber gerade die Klausur hat andererseits das Reifen dessen so beschleunigt, was einmal auszusprechen bitter not tun wird, dass mir die erforderlichen Worte ganz sicher augenblicklich einfallen werden, sobald ich die Gelegenheit gekommen sehe, dass sie spermatisch wirken könnten. Vorher freilich kaum: ich bin und bleibe im Sinne Goethes Gelegenheitsdichter, wo immer es Praktisches gilt.

Was in zehn oder zwanzig oder hundert Jahren zu leisten sein wird, um das geistig-seelisch Bessere, worum allein es mir zu tun ist, durch entsprechende Sinn-Formung dem Leben einzubilden, wird sich aus der dann vorhandenen Weltlage ergeben. Nur Utopisten planen unabhängig von Raum und Zeit, und noch nie wurde Wesentliches erreicht, wo nicht Sinneserfassung und Realpolitik zusammengingen.2 So denke ich gar nicht daran, mich auf irgendein Programm festzulegen. Aber in den bisher verstrichenen vierundsechzig Jahren habe ich sehr viel erlebt, alles Erlebte so tief als möglich zu verstehen getrachtet, kein Ereignis je für irrelevant gehalten, nie mich durch Tatsachen beirren lassen, allezeit das unbewusste Streben und das sous-entendu höher eingeschätzt als das bewusst Vertretene und das Explizite. So kann ich jetzt schon einiges zum Ausgang, welchen die Kämpfe, die ich erlebt habe und erlebe, bestenfalls nehmen werden, schriftlich niederlegen; nicht etwa, weil es zu diesem Besseren kommen muss, sondern damit es komme. Die bestimmten Streitigkeiten und Ziele dieser Jahrzehnte gehen mich, der seiner Anlage nach nur in Kontinenten und Jahrhunderten denken und sogar das Persönlichste nur von Überpersönlichem her erleben kann3, ebensowenig an, wie mich die Problematik des ersten Weltkriegs anging; man gedenke des letzten Abschnitts des Reisetagebuchs. Es geht heute durchweg um anderes als das, was offiziell und bewusst gewollt wird. Genau wie die soziale Bewegung, wie dieses Kapitel meiner Ansicht nach erwiesen hat, bei allem ihrem Positiven zutiefst einen Kampf gegen das Individuum bedeutet, so sind alle die noch so verschieden gearteten grauenvollen Kämpfe, in welche das Fortschrittszeitalter ausklingt, zutiefst (in ihrer Sonderheit durch jeweils bestimmte Anlässe ausgelöste) Ausdrucksformen jener den ganzen Planeten ergreifenden Revolte der Erdkräfte gegen den Geist, die ich in der Révolution Mondiale genau behandelt habe. Wobei ich, wie im gleichen Buch genauer ausgeführt, gerade auch deren Positives im Auge habe, das in richtiger Einordnung des Tellurischen in das menschliche Gesamtleben besteht; im christlichen Zeitalter war es vielfach falsch eingeordnet. Darum werden diese Kämpfe, im Zeichen jeweils verschiedener bewusst vorgestellter Ziele, mit kurzen eingeschalteten Atempausen, noch sehr lange andauern und schließlich ganz anders ausklingen und zu ganz anderen Ergebnissen führen, als von den Kämpfenden von Etappe zu Etappe erwartet wird. Dem war in allen vergleichbaren Fällen so. Die greulichen Bürgerkriege der von Marius und Sulla in Italien eingeleiteten Periode mündeten ein in eine so nie dagewesene Friedensära und deren Brennpunkt und Sinnbild wurde derselbe Caesar Augustus, der sich in seiner revolutionären Jugend nie hätte träumen lassen, dass er einmal als allverehrter Heiland enden würde. Die Religionskriege, deren Anstoß Luther gab, endeten nicht mit dem Siege der einen oder anderen Konfession, sondern dank dem, dass die konfessionelle Problematik gegenüber anderen uninteressant wurde; die Menschen wurden skeptisch und tolerant und so folgte schließlich eine ziemlich sinngerechte Machtverteilung zwischen Katholiken und Protestanten von Land zu Land. Die klassischen Sinnbilder der Stimmung, aus der die Endergebnisse zustandekamen, sind mir jenes Tal im Engadin, wo in jedem Dorf friedlich darüber abgestimmt wurde, welches katholisch und welches protestantisch werden sollte, und der Dom zu Wetzlar, in bezug auf welchen das Reichskammergericht entschied, dass er zu gewissen Stunden dem katholischen, zu anderen dem protestantischen Gottesdienst zu dienen habe. Analog dem wird die Revolte der Erdkräfte, das Grundgeschehen dieser Zeit, ohne jeden Zweifel in ein Reich so nie dagewesener Vorherrschaft des Geistes einmünden; und dies gerade dank dem, dass sich der Materialismus in allen seinen möglichen Abarten vollkommen auszuwirken und damit zu erschöpfen Gelegenheit hat. Gleichsinsinnig werden die Nationalitätenkämpfe dieser Zeit zwangsläufig zum Siege einer Welt der Großräume führen, wie sie allein dem Zeitalter des Ikaros (eine gute Bezeichnung Giselher Wirsings) entsprechen, wird der enge Parteimann4 oder Nationalist dem imperialen und später dem ökumenischen Menschen das Supremat abtreten, wird sich der Siegeszug des persönlichkeitsfeindlichen Kollektivismus als wahrscheinlich unvermeidliche Vorstufe einer Form des Zusammenlebens der Menschen erweisen, die gerade der Persönlichkeit früher nie dagewesene Auswirkungsmöglichkeit gewährleisten wird. Auf Bestimmtes will ich in diesen Schlussbetrachtungen nur so weit eingehen, als sich aus den Einsichten dieses Kapitels heraus bei genügender Staats- und Menschenbehandlungskunst ohne Zweifel anbahnen lässt, auf der Basis unvermeidlich gewordener neuer Ordnungen und Lebensformen. Der Sozialismus wird vorläufig siegen und er soll es auch — in welcher Sonderform dies geschehen wird, hängt von unvoraussehbaren konkreten Machtverhältnissen ab. Der Blickrichtung dieses Kapitels entsprechend legte ich bisher den meisten Nachdruck auf die negativen Aspekte der Sozialisierung, insonderheit auf deren Einstellung auf Äußerliches und darum letztlich Irrelevantes. Sie entspringt aber andererseits auch einer Forderung der Seele. Im Zeitalter des extremen Individualismus waren die sozialen Triebe und Strebungen, welche in jedem Menschen genau so primär vorhanden sind, wie die individuellen, verkümmert. Und daraus ergaben sich zwangsläufig alle die Missstände, um derentwillen Individualismus überhaupt seither bekämpft wird. Das Gleichgewicht in den Seelen kann nur mehr so wiederhergestellt werden, dass dort, wo dies notwendig geworden ist, die sozialen Strebungen ebenso überbetont werden, wie vorher die individuellen. Von hier aus versteht man, dass innerhalb von Völkern, in deren Seelen sich das Individuelle und das Kollektive ursprünglich oder jeweils in einem gesunden Gleichgewichtsverhältnis befinden, viele der Kämpfe nicht notwendig sind und darum auch kaum verstanden werden, welche in Russland und Deutschland unvermeidlich wurden. Die Internationale wird innerhalb bestimmter Grenzen siegen, weil in der kommenden Großraumwelt exklusive Nationen als letzte Instanzen für die Dauer nicht werden bestehen können. Nur wird die Internationale von unten günstigenfalls in eine neue Internationale von oben umschlagen; ich sage eine neue, weil solche in allen als geglückt anzuerkennenden großen Zusammenfassungen letztendlich bestimmt haben, handle es sich um die Glaubenseinheit, die Solidarität der Edel-Freien im Sinn der antiken Vollbürger, der Ritter, des europäischen Adels oder irgendeine andere materialisierbare Gesinnungseinheit, innerhalb welcher das Spirituelle über dem Materiellen den Primat hatte. Aber andererseits wird auch der Nationalismus siegen, insofern sich bis dahin erwiesen haben wird, dass Entindividualisierung der Völker zu ebenso geistfeindlichen Zuständen führt, wie Entindividualisierung der Einzelmenschen. Alle bisherigen Großreiche standen kulturell unter den kleineren, aus deren Zusammenfassung sie hervorgingen, insofern sie nämlich Spannungen endgültig ausglichen; in den wenigen Fällen, wo diese Tatsache nicht in die Augen springt, liegt dies daran, dass das zusammengelegte Kapital von Spannungen so groß war, dass letztere sich sehr lange weiter wohltätig auswirken konnten. Zur Fortbetonung der Nationalitäten wird auch beitragen, dass bis zum Austragen der gegenwärtigen Kämpfe erwiesen sein wird, was Rasse und Volkstum unabhängig von allen Parteiprogrammen bedeuten und dass Nivellierung unter allen Umständen schadet. Damit aber wird sich auch der Sachlichkeitskult dieser Geschichtsperiode erledigen. Nur so viel wird von ihm bestehen bleiben, als Ordnung im Zeichen der Sachlichkeit der individuellen Entfaltung, zu welcher auch rechter Sinn für Gemeinschaftsbelange gehört, förderlich ist; und da dies, wie wir am Beispiel des Geldes sahen, bis zu einer bestimmten Grenze in hohem Grad der Fall ist, kann gerade Versachlichung des Versachlichbaren, ebenso wie Sozialisierung des Sozialisierbaren eine neue höhere allgemeine Lebensbasis schaffen. So könnte auf erhöhter Intellektualisierungsstufe der altbewährte Zustand wieder erstehen, wo das Sein ganz selbstverständlich als über dem Können stehend anerkannt würde.

Aber wenn die neue bessere Ordnung einerseits eine Restauration früherer Zuständlichkeiten bedeuten würde, so würde sie andererseits auf allen positiven Errungenschaften des Fortschrittszeitalters fußen. Hierbei kommt an erster Stelle in Frage, dass keine Ordnung mehr so starr sein dürfte, dass sie nicht dem steten Wandel des Lebendigen Rechnung trüge; kein Besitz, keine Stellung dürfte vererbbar sein über natur- und geistgemäße Grenzen hinaus. Damit vor allem würde das Menschliche den Supremat über allem Sachlichen gewinnen. In Fürsten und Staatsmänner wurde gezeigt, dass und inwiefern das immer erforderliche Sachliche letzte Instanz nur dem Subalternbeamten sein darf; jede nächsthöhere Stellung müsste höhere Menschlichkeit zur Voraussetzung haben und die höchsten Stellen dürften nur von höchststehenden Menschen besetzt werden. Damit würde das bisher nur durch mögliche Gnade mitigierte formale Recht auf allen Gebieten seine Letztinstanzlichkeit verlieren: über dem Rechte würde das Vor-Recht stehen und dieses müsste (in sinngemäßer Abstufung) grundsätzlich innerem Rang, einem juristisch überhaupt nicht zu Fundierenden, allein verliehen werden. Damit allein würde zwangsläufig über der sachlichen Ordnung die Rang-Ordnung stehen, das heißt eine solche nach dem inneren Wert, keinem äußerlich Beweisbaren. (Eben dies bezweckte die alte Rangordnung auf der Basis des Erbprinzips, aber diese hat sich als überlebt erwiesen.) Aus der bloßen Rezipierung der hier vorgetragenen Idee würde sich die Notwendigkeit ergeben, einen neuen Adel als höchsten Stand zu schaffen. Dieser würde mehr Vorrechte genießen, als irgend ein früherer. Deren Besitz aber würde grundsätzlich von demjenigen bestimmter höchster Charakter-, Seelen- und Geisteseigenschaften abhängen, wie sie dem Durchschnittsmenschen billigerweise nicht zugemutet werden können. Deren vornehmste würde die innere Unabhängigkeit sein und Letzt-Bestimmtheit durch geistige Werte; dies ergäbe als Mindestnorm überzeugungstreue und moralischen Mut; wer da als Mensch nicht mehr ist als ein normaler Sterblicher, darf das Prädikat des Adels weder erwerben noch behalten. Und doch würde die Einführung dieser neuen Form von Adel das Erblichkeitsprinzip innerhalb sinngerechter Grenzen nicht beeinträchtigen, denn gute Anlagen können in entsprechender Umgebung zu einem Höheren herangezüchtet werden, als sie sich ungezüchtet auswirken würden; dies erhellt, von aller jedermann zugänglichen historischen Erfahrung an privilegierten Geschlechtern abgesehen, aus der Tatsache, welche ich selber wieder und wieder festgestellt habe, dass an sich hochgeborene Menschen guter Anlagen, in soziale Niederungen hinabgeschleudert, ihre edelsten Eigenschaften verloren. Aber freilich müsste das bisher in Europa alleingültige Erb-Prinzip durch das chinesische ergänzt werden, gemäß welchem der Nachfahr den Ahnen adelt; in dessen Sinne hätte jeder einzelne ein examen rigorosum zu bestehen, bevor er das Erbe seiner Väter antreten dürfte; damit erlebte die mittelalterliche Idee des Ritterschlags, welcher allein Ritterwürde verlieh, seine zeitgemäße Wiedergeburt. Jedem Menschen von entsprechender Qualifiziertheit stände der Weg zum Adel offen, während ihn andererseits jeder ohne weiteres verlieren könnte. Dem heutigen Menschheitszustand gemäß würde der Adel kein Schwert-Adel mehr sein, er würde dem brahmanischen der Inder entsprechen; Zivilcourage würde sehr viel höher bewertet werden, als physischer Mut, Sturheit würde keinesfalls als Charakterstärke gelten und Kulturfähigkeit die gleiche Rolle spielen wie zum Beispiel im nationalsozialistischen Deutschland Bauernfähigkeit. Das Fideikommisswesen würde in höherer Form neu auferstehen als Zuchtstätte für adelige Gesinnung; kein Fideikommissherr würde Privatbesitzer im Sinn des XIX. Jahrhunderts sein, dafür als Lehnsherr mit sehr hohen Verpflichtungen entsprechend hohe Vorrechte genießen. Aus diesem neuen Adel würden Gremien rekrutiert werden, welche oberhalb aller Gerichte und sonstigen Behörden ständen und, von völlig anderen Begriffen ausgehend, als sie im bisherigen Staatsleben zur Geltung kamen, letztinstanzlich entschieden. Das Leitmotiv dieser Ehrengerichten vergleichbaren Gremien würde das Prinzip der Menschenwürde sein. Von diesem her gäbe es keinerlei Menschenrechte im bisherigen Verstand und erst recht keine Gemeinschaftsrechte, welche das Individuum zu einer bloßen Sache herabwürdigen könnten. Aber es würde ein Wertmaßstab geschaffen sein, an welchem jedes Tun und Lassen letztinstanzlich nach seiner spirituellen Bedeutung gemessen würde. Wer sich bei noch so (nach bisherigen Begriffen) einwandfreier und nützlicher Betätigung gegen die Menschenwürde verginge, im Tun wie im Erleiden und Geschehen-Lassen im Zeichen des fluchwürdigen Das geht mich nichts an, dem könnte diese abgesprochen werden mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen, für eine halbe Stunde oder für immer.

Erschiene das Leben einmal wirklich so wie hier skizziert geordnet, dann würde alle Subalternität bei Trägern hoher Verantwortung nicht allein theoretisch, sondern auch praktisch ausgeschlossen sein und edle Gesinnung zur letztgültigen höchsten Norm werden. Ich wiederhole hier nochmals, dass es ganz selbstverständlich jedem grundsätzlich möglich sein wird, in den höchsten Reichsstand aufzusteigen, was allein schon jeden nicht Entarteten in seinen persönlichen Zielsetzungen auf höchste Werte ausrichten wird; man gedenke hier der ungeheuren Bedeutung, welche dem Gentleman-Ideal bei der individuellen Entwicklung jedes Engländers zukam, solange es allgemeingültig war. Wo Ehrenhöfe in letzter Instanz entscheiden, werden häßliche Eigenschaften für die Dauer keine Nahrung finden; nicht nur Ausbeuter- und Erpressertum, in welcher Form auch immer, könnte nicht mehr gedeihen, sogar schon sofortiges zum-Kadi-Rennen, Querulanten- und gar Denunziantentum würden als menschenunwürdig und darum bald als unvorteilhaft gelten; nur schwere Verbrecher in einem neuen Sinn würden sich leicht darüber hinwegsetzen. Andererseits würde dem Neid durch die Unüberbrückbarkeit gewisser Schranken gemäß der Wahrheit, welche der Dichter in dem Vers Die Sterne, die begehrt man nicht fasste, der Nährboden entzogen werden; Neid erwächst dort allein zur Macht, wo jeder es sich zutraut, beliebig hoch hinaufzugelangen, welcher Aberglaube nur in einer materialistischen Lebensordnung existenzfähig ist; jeder weiß ganz genau, was er innerlich wert ist, jeder bejaht sich letztlich in seinem Sosein und so wird bei der Vorherrschaft innerer Werte Rangordnung für alle akzeptabel. Beurteilt die höchste Reichsinstanz jeden Bevorrechteten überdies letztinstanzlich nach dem Grundsatz noblesse oblige, dann werden Vorrechte auch allerseits als gerecht empfunden. Auf diese Ausführungen hin wird die heutige intellektualisierte und versachlichte Menschheit wahrscheinlich die Frage stellen, wie denn höheres Sein zu erkennen und woran höherer Rang zu messen sei. Auf diese Fragen gibt es im erwarteten Sinne keine Antwort; dem Blindgeborenen sind Farben nicht zu erklären. Jeder Mensch, welcher überhaupt primären Sinn für geistig-seelische Werte hat, hat auch das Organ für Sein, Niveauunterschiede und Rang, und alle großen Zeiten beweisen, dass es bei sehr vielen latent vorhanden ist und darum leicht entwickelt werden kann.

Ich weiß freilich genau, wie langer Zeiträume es in der Regel bedarf, um Änderungen des inneren Zustandes herbeizuführen. Zumal in den Fällen, wo solche nur dank dem Beispiel hervorragender Persönlichkeiten und Polarisierung mit diesen, keinesfalls durch Theorien und Programme und deren Verwirklichung durch Gewalt zustande kommen können. Werden in kritischen Stunden keine diesen entsprechenden Persönlichkeiten geboren oder können sie sich nicht entfalten und sich zu bestimmenden Mächten hinaufarbeiten, dann ist, wie man sagt, für dieses Mal nichts zu wollen. Nichtsdestoweniger zögere ich nicht, das, was ich für mein besseres Wissen halte, schlagzeilenartig herauszustellen. Es bleibt ewig wahr, was Johannes von Patmos lehrte: Im Anfang war das Wort. Das Wort wirkt einerseits zeugend im Unbewussten der empfänglichen Seele, andererseits macht es das bewusst, was unerkannt in einem Geiste schon der Manifestation zustrebt und nach Ausdruck ringt. Jede Ernte setzt eine Saat voraus und jeder Erfüller war der Nachfahr eines Gründers, welcher selber nur ganz wenige Male in der gesamten Menschheitsgeschichte das vollenden durfte, was er angebahnt hatte. Darum stelle ich für meine Person die Frage des Erfolges überhaupt nicht. Selber habe ich nie anderes als Sämann sein gewollt. Will es das Schicksal, dass in absehbarer Zeit und gar unter den heutigen Völkern keine großen Persönlichkeiten der Art, wie sie dieses Mal erforderlich sind, hochkommen, so kann ich nichts dafür. Im übrigen bin ich weniger pessimistisch schon in bezug auf die nähere Zukunft, als es die meisten sind. Zweifellos liegt das niedere Seins-Niveau der überwältigenden Mehrheit der heutigen weißen Menschen zu einem erheblichen Teil am Zeitgeist; ebenso zweifellos die geringe Entwicklung des substantiellen Geists daran, dass er es, in seinem intellektuellen Aspekt zum mindesten, die letzten Jahrhunderte über zu leicht hatte. Zu leicht hatten es auch die Seelen, so dass deren Tragfähigkeit nicht den Ausbildungsgrad erreichte, den sie von Natur hätte erreichen können. In harten und grausamen Zeiten war diese allemal größer. Nun, die sind wiedergekommen. Das ungeheuerliche Zerstörungswerk der letzten Jahrzehnte hat überdies das Bedürfnis nach unzerstörbaren Werten ungeheuer gesteigert. Auch der neu erwachte oder erwachende Konkretismus als kompensatorische Gegenbewegung gegen den im XVIII. Jahrhundert geborenen Abstraktismus kommt der Vertiefung und Verwesentlichung zugute. Der substantielle Geist ist ein ebenso Konkretes wie das Fleisch; er wurde aber seit mehreren Jahrhunderten als solcher von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weniger bemerkt. Wird er wieder bemerkt, dann wird er auch wieder wirken können — auch Gott vermag dort ja nichts, wo man an Ihn nicht glaubt. So sind im Ganzen die meisten Vorbedingungen für das Eintreten dessen, was ich erhoffe, da.

Indem ich das, was ich in der Einführung zu diesem Buche meinen Mythos hieß, durch alle Stadien und Einflüsse hindurch unbefangen und unbeirrt auslebte und zugleich immer ein weltoffenes Kind meiner Zeit blieb, habe ich alle in diesem Kapitel beleuchteten Etappen persönlich durchlebt. In meinem Falle hat die Ontologie wirklich die Phylogenie repetiert. Bis zu irgendeinem Grade habe ich auch an allen Irrtümern und Irrwegen meiner Zeit teil gehabt. Darum habe ich auch in diesem Kapitel durchweg aus der Vollmacht persönlichen Erlebens heraus geredet, auch wo ich mich ganz abstrakt ausdrückte und gar Unrichtiges behauptete. Aber wie zu Anfang desselben gesagt: auf Richtigkeit kommt es beim Aufstieg der Menschheit sehr wenig an; desto mehr auf innere Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Hoffentlich verhindern nun Fanatiker des Richtigen nicht wieder einmal die schöpferische Auswirkung des Wahren. Mit den letzten Sätzen knüpfe ich am ersten Abschnitt dieses Kapitels wieder an. Der Kreis dessen, was ich hier sagen und zeigen wollte, ist geschlossen.5

1 Russisches Maß, entsprechend ungefähr 40 Pfunden.
2 Vgl. den Vortrag Politik und Weisheit in Schöpferische Erkenntnis.
3 Vgl. das Kapitel Kosmopathische Seelen dieses Buches.
4 Sehr charakteristischer Weise bezeichnet das Wort partisan (in dessen Urbegriff der einsame Parteigänger und der Heckenschütze zusammenfallen) zuerst den Parteigänger des (französischen) Königs, also des inklusiven und universellen im Gegensatz zum exklusiven und partikularistischen Prinzip.
5 Vollendet Aurach, 15. November 1944.
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
III. Wandel der Reiche
© 1998- Schule des Rades
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