Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

IV. Rudolf Kassner - Wellenlänge

Ich beginne — da ich das, was ich hier meine, prägnanter nicht auszudrücken wüßte — mit einer Wiedergabe der ersten Seite des Schlusskapitels des Buchs vom persönlichen Leben:

Immer wieder steht vor meinem geistigen Auge das Bild jener um 1924 ausgegrabenen heidnischen Privatkapelle, die deren Besitzer mit Freskobildern aller möglichen Göttergestalten, unter anderen auch des Guten Hirten mit dem Kreuzstab, hatte ausschmücken lassen. Dieser Kapelle war, durch eine Geheimtür zugänglich, ein christliches Tempelchen angeschlossen, in welchem die offenbar zum Christenglauben bekehrte Hausfrau betete. Schwerlich hatte der biedere Römer etwas gegen diese Vorliebe: ahnte er doch nicht, dass der neue, aus Galiläa eingeführte Gott nicht mehr ein Gott unter anderen war, sondern das Sinnbild einer neuen Religion und eines völlig neuen exklusiven Weltgefühls, welches das ihm selbstverständliche zerstören würde. Aber wie sollte er es auch ahnen, falls er nicht bekehrt oder ein im höchsten Grade einfühlungsfähiger Philosoph war? Abstrakt geurteilt, ließen sich ja alle Daten der neuen Religion auch von antik-heidnischen Voraussetzungen her begreifen, und die bloße Möglichkeit, das sich von sich aus Ausschließende zusammenzufassen, musste dem wesentlich staatsmännischen Römersinn die Richtigkeit seiner Voraussetzungen beweisen. Doch von abstrakten Überlegungen her dringt niemand in das Eigene und Eigentliche irgendwelchen Lebens ein, für das sich ja auch der Staatsmann nie interessiert. Jede neue Voraussetzung stellt einen neuen Schöpfungsanfang dar; von früher her gibt es zu diesem überhaupt keinen Übergang; ein unüberbrückbares Unstetigkeitsmoment trennt und scheidet sie voneinander. Im modernen Gleichnis ausgedrückt: jede andere Voraussetzung entspricht einer anderen Wellenlänge im Rundfunk; wer auf eine bestimmte nicht abgestimmt ist, vernimmt nichts, was auf ihr gespielt und gesprochen wird. In eben diesem Sinne konnte der echte Heide den echten Christen nicht verstehen, noch dieser jenen.

Im gleichen Sinn, wie jeder besondere Zeitgeist, stellt auch jeder persönliche Mensch eine besondere und einzige Wellenlänge dar. Mag einer in einer Schicht oder mehreren seines Wesens noch so vielen anderen gleichen — als Ganzes ist er allemal einmalig und einzig, weil bei der Unzahl verschiedener Komponenten, welche von Fall zu Fall auf jeder Ebene zusammenwirken oder interferieren und in jeder Konstellation natürlich anders verteilt sind, wirkliche Kongruenz von Mensch zu Mensch nie vorkommt. Diese seine Einzigkeit erlebt jeder, bei dem von Selbsterfahrung überhaupt die Rede sein kann, als sein eigentliches Selbst. Daher die tiefe Kränkung, welche jeder spürt, der sich im persönlichen Zusammenhang als Fall unter anderen gesehen und beurteilt fühlt. Daher, umgekehrt das ungeheure Glücksgefühl, welches Bewusstsein persönlichen Verstandenwerdens auslöst; auch das tiefste Glück beim Geliebtwerden wurzelt hier. Nun sind aber die wenigsten so weit differenzierte Persönlichkeiten, dass sie ihre Einzigkeit außerhalb der Intimität zur Geltung bringen, ja auch nur als letzte Instanz in sich erleben können. Diese erkennen sich dann in irgendeinem besonderen Typischen wieder, dem sie als Gattung zugehören, und in der Abstimmung auf dieses finden sie die tiefst-persönliche Erfüllung, welcher sie außerhalb des Liebesverhältnisses fähig sind. Dies erklärt denn die Rolle, welche anerkannte Meister und Vorbilder spielen. Bekanntlich verstehen die Jünger verschiedener Meister einander nie; nichts Gemeinsames erkennen sie oberhalb ihres bestimmten Glaubens als vorhanden an, auch wo der Außenstehende kaum eines Unterschiedes zwischen dessen Gegenstand und Verwandtem gewahr wird; bei nicht abzuleugnender Ähnlichkeit schließen sie sofort auf Diebstahl oder Raub oder Lüge oder wenigstens Unehrlichkeit; sie verunglimpfen, verfolgen, wo sie nicht bekehren können; am liebsten rotteten sie das ganze Volk der Andersgläubigen aus, und unter allen Umständen behaupten sie die absolute Überlegenheit ihres Abgotts über alle anderen. Jünger sind darin viel unbedingter, als irgendein Meister je war, weil es erstens viel leichter ist, an einen anderen zu glauben als an sich, insofern man hier Verantwortung auf einen anderen überträgt, und weil ihnen zweitens der Verlust ihres Glaubens alle Sicherheit zu rauben droht, was bei Meistern nicht der Fall ist, da sie selber doch mit sich identisch bleiben, auch wenn sie ihre Überzeugung wechseln. Auch Jünger fühlen sich eben in erster Linie als einzig, sie sind ausschließlich auf eine bestimmte Wellenlänge abgestimmt, die zwar nicht ihre ursprünglich-eigene ist, mit der sie sich jedoch identifizieren. So würde die Anerkennung der Gleichwertigkeit anderer ihr Identitätsgefühl gefährden. Was indes die für die Theorie bestehende Ähnlichkeit zwischen Geistern angeht, so bedeutet diese Anhängern nicht mehr, wie einem Liebenden die Ähnlichkeit seines Geliebten mit dessen Verwandten. Ihn berührt nur die Einzigkeit seines Meisters oder Vorbildes. Und diese besteht wirklich und sogar primär. Wer in bezug auf Christus, Buddha, Konfuzius und Plato das gleiche Wort Liebe gebraucht und aus der also zustande gekommenen Abstraktion Schlüsse auf den tieferen Sinn der besonderen Lehre zieht, erweist sich als sehr viel oberflächlicher, als der beschränkteste, aber gefühlsmäßig überzeugte Vertreter der Idee, Jesu Liebe hätte mit anderen nichts gemein. Denn ausschließlich aufs konkrete Sosein bestimmter Wellenlänge — um im Bilde zu bleiben — kommt es in lebendigem Zusammenhange an. Wer ganz genau auf eine bestimmte abgestimmt ist, vermag andere überhaupt nicht zu vernehmen; wer solche Genauigkeit für sich nicht erreicht hat, sie jedoch erstrebt, der muss das Mitschwingen anderer Wellen als greulichen Misston empfinden und dieses desto mehr, je näher diese seiner eigenen liegen. Weil es sich so und nicht anders verhält, bedeutet die theoretisch so wünschenswerte Verständigung zwischen Vertretern verschiedener Bekenntnisse, wo immer lebendiger und starker Glaube vorliegt, eine praktische Unmöglichkeit. Und ebensowenig gelingt es je, lebendigen Glauben mit theoretischen Argumenten zu widerlegen. Was bei der Abgestimmtheit auf eine Wellenlänge an erster und letzter Stelle zählt, ist die Entsprechung als solche zwischen dem Sosein des Gläubigen und seinem Glaubensgegenstand. Woraus sich ergibt, dass dem Unklaren Unklares, dem Primitiven Primitives, dem Törichten Törichtes am besten entsprechen muss; ja, dass ein luzider Geist Trübes schlechter versteht als ein trüber, dem dies bestimmte Trübe gemäß ist. Hier darf man beinahe sagen: bedeutende Geister streben nur darum nach Klarheit, weil sie unfähig sind, Unklares zu verstehen. Mit den Meistern für sich und unter sich steht es nun grundsätzlich genau so wie mit dem Jüngerkreise (ich gebrauche hier das Wort Meister als Allgemeinbegriff für jede Form echter Originalität). Der Hauptunterschied besteht in diesem Zusammenhang darin, dass Meister das Leben selber in sich haben, wie es von Jesus hieß, das heißt eine rein persönliche Wellenlänge bewusst verkörpern und darum einer Abstimmung auf eine andere als die ihre physiologisch unfähig sind. Sie gehören wesentlich keinem Kreise an, sie stehen allein und müssen sich einsam fühlen. En rapport mit anderen stehen sie ursprünglich genau nur insoweit, als diese anderen sich in ihnen wiedererkennen. Sie haben insofern einen natürlichen Wirkungskreis, welcher weit oder eng ist, so oder anders beschaffen, je nach ihrer besonderen Qualität — dieses besondere Problem steht im Kapitel Der natürliche Wirkungskreis von Wiedergeburt ausführlich behandelt — selber jedoch gehören sie unter Menschen, noch einmal, keinem Kreise an und können es nicht tun. Genau genommen dürften schöpferische Geister insofern beschränkter geheißen werden als die, welche das Leben nicht in sich selber haben: für sie gibt es keinen Ausgang aus ihrer Eigenart; mögen sie noch so weltoffen, noch so umfassend sein — allemal liegt das Bezugszentrum in ihrem Selbst, von ihm allein aus erleben sie: so können sie niemals unpersönlich-objektiv sein. Diese Erwägung erklärt, warum schöpferische Geister proportional ihrer Reife unfähiger werden, sich für Menschen und Dinge zu interessieren, die sie nicht unmittelbar und in bezug auf sie selber angehen. Seien sie noch so selbstlos, noch so rein ausstrahlend — sogar ihre weiteste Liebe gilt nur dem geschlossenen Kreise der ihnen Zugehörigen. Wem das nicht einleuchten sollte, der gedenke nur des Grenzbegriffs des Gottes der Liebe: dessen Liebe umfasst freilich das Weltall.

Doch in bezug auf sich, von seinem Selbst her, und andere Götter anerkennen kann er nicht. Hier liegt denn der springende Punkt. Untereinander können im absoluten Sinn originale Geister überhaupt keine Gemeinschaft haben; Gemeinschaft für sie geben kann es nur in bezug auf sie. Sogar zusammen wirken können solche Geister nur innerhalb eines eigens dafür geschaffenen besonderen Kraftfeldes, welches die sonst vorhandenen Spannungen durch andere, die Gegensätze zu Kontrapunkten verwandelnde, ersetzt. Solche Sonderebene schufen die Höfe der großen Zeiten, allwo die für alle gleich große Distanz zum Fürsten und dessen alle beherrschender Wille und Stil sogar ursprüngliche Feinde zeitweilig harmonisierte; es schufen sie die Salons der großen Damen Frankreichs und in Deutschland zuletzt die großen Darmstädter Tagungen, wo ein gemeinsames, aber auf ausschließliche Persönlichkeit hin orchestriertes Generalthema, ein sonderlicher Lebensstil, der nicht allein Befeindung, sondern schon Auseinandersetzung ausschloss, für eine Woche oft das Feindlichste befreundet hat. Doch solches Zusammenwirken von wesentlich Einsamen ist eben nur auf der Ebene des Schau-Spiels möglich, und da nur gelegentlich und für kurze Zeit. Grundsätzlich gilt für jeden originalen Geist das Nietzsche-Wort: der Löwe jagt allein. Es ist einfach widersinnig zu verlangen, dass verschiedene Wellenlängen in der Interferenz anderes als Lärm und Krach ergeben sollten.

Hieraus folgt freilich nicht, dass nun alle Vertreter originaler Wellenlängen miteinander verfeindet sein müssen. Tatsächlich waren und sind sie es sehr oft. Alle Götter, denen ihre Person letzte Instanz war, von denen wir zuverlässige Kunde haben, waren eifrige Götter, alle strebten nach Alleinherrschaft. Und instinktmäßig sind die meisten Schöpfer unter Menschen wenig besser. Freilich sind es meist Anhänger, welche Feindschaft säen oder aufrecht erhalten; so erinnere ich mich, dass Bernard Berenson, der Kunstexperte, dem ich 1911 sagte, Kassner und ich müssten wieder zusammenkommen, das Zerwürfnis sei doch ohne genügenden Grund, mir lachend erwiderte:

Als ob man Ihnen je erlauben würde, sich zu versöhnen! Weite Kreise leben doch von dieser Feindschaft, ohne sie ginge ihnen der Gesprächsstoff aus!

Aber die meisten lassen es sich doch gar zu leicht und gern gefallen, dass es bei der Feindschaft bleibt. Kronzeugen für diese These waren zu meiner Lebzeit die drei großen Schulhäupter der analytischen Psychologie, die genau wie feindliche Kirchenväter zu- oder vielmehr gegeneinander standen und einander allgemach überhaupt keine Gerechtigkeit mehr widerfahren ließen. Unter allen Umständen lassen sich Schöpferische leicht darin gehen, dass sie vorhandene Beziehungslosigkeit gegenüber anderen Geistern gleichgültig macht. Noch das folgende Moment spielt hier mit. Alexis Carrel schreibt in seinem so sehr beachtenswerten Buch Der Mensch, das unbekannte Wesen: bei der modernen psychologischen Untersuchung großer Zahlen von Menschen

ist eine bemerkenswerte Tatsache ans Licht gekommen, nämlich das geringe geistige Vermögen der meisten Menschen. Man kann sich den Quantitäts- und Qualitätsunterschied zwischen den einzelnen Menschen gar nicht groß genug vorstellen, manche sind in dieser Hinsicht die reinsten Riesen, und die große Mehrzahl wirkt wie Zwerge.

Aus dieser leider nicht zu bezweifelnden Tatsache folgt denn, dass die seltenen bedeutenden Geister bloß in Funktion ihres Daseins, ob anerkannt oder nicht, echte Großmächte darstellen; letztlich geht doch alles auf die wenigen zurück, denen überhaupt etwas einfällt. Auf die Dauer können originale Geister nun nicht umhin, sich auch als Großmächte zu fühlen. Bekanntlich sind aber alle Großmächte aufeinander eifersüchtig. Das ist ein nicht zu änderndes Naturphänomen: der Machttrieb ist Gana-geboren1, er wächst zwangsläufig mit der wachsenden realen Macht und einer muss schon seiner Gana völlig Herr geworden sein, um diesem Schicksal zu entrinnen. Immerhin brauchen die verschiedenen schöpferischen Geister nicht feindlich oder gleichgültig zueinander zu stehen; wo es entsprechend objektivierte und als solche mächtige Lebensrahmen gibt, da können sie sich sogar solidarisch fühlen. Das tun die meisten bedeutenden Franzosen, denen Anerkennung nicht versagt bleibt, im Rahmen der sogenannten vie littéraire, und in Deutschland die beamteten wissenschaftlichen Forscher. Bringen nun aber bedeutende Geister es über sich — was leider nur sehr selten geschehen ist — sich gegenseitig zunächst einmal als einzig und unübertragbar, ja als inkompatibel anzuerkennen, sich nicht miteinander auseinanderzusetzen, sondern sich ohne Zweckbestimmung miteinander zu polarisieren, alle sachlichen Gesichtspunkte beiseite lassend, allen Nachdruck auf das persönliche Niveau legend, dann können sogar Monade ohne Fenster Horizont-erweiternd, steigernd und vertiefend aufeinander einwirken. Aber so, wie oben gefordert, müssen sie sich allerdings zueinander einstellen, wenn sie überhaupt etwas voneinander haben wollen. Eine andere ersprießliche Beziehung zwischen Originalen ist nur in dem überaus seltenen Falle möglich, dass Liebe und Verehrung sie aneinander bindet. Bloße Freundschaft, und sei sie noch so echt, genügt hier nicht. Diese allgemeine Erklärung löst das ganze Problem meiner Beziehung zu Rudolf Kassner. Es war gar nicht nötig, dass ich sein Werk verstand, ja dass ich es überhaupt las, damit er viel für mich bedeuten konnte: mich ging sein geistiges Sein, sein geistiges Niveau als solches an. Da mich dieses jedoch allein anging, so half mir gerade die Beziehung zu Rudolf Kassner besonders mit dazu, die Niveaufrage rein stellen zu lernen, unbelastet von aller üblen Sachlichkeit. Es fand zwischen uns eine Polarisierung statt der persönlichen Tiefen jenseits von Name und Form.

1 Vgl. das Kapitel Gana der Südamerikanischen Meditationen
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
© 1998- Schule des Rades
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