Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

V. Wolkoff - Sinnbild

Meiner angeborenen Natur war nichts fremder, und nichts lag ihr ferner als das Ideal und gar der Imperativ der Genauigkeit im Sinn differenzierter Abgrenzung. Die Grundfunktion all meines psychischen Lebens und Erlebens war mit seltener Ausschließlichkeit die Intuition, diese geht ursprünglich auf Ganzheit und damit den unauflöslichen Zusammenhang dessen, was die Sinne getrennt bestimmen und das Denken auseinanderlegen muss, um es zu fassen. Darum genügte mir ursprünglich auf allen Ebenen das unmittelbare Gewahrwerden, das ja im Falle echter Intuition bis zur Wurzel der Wirklichkeit vordringt und darum tieferes Verstehen bedingt als alles Erklären-Können. Dieses Gewahrwerden ging bei mir ferner, meiner besonderen Anlage entsprechend, nicht auf die Tatsächlichkeit, sondern auf das Sinn-Bild; die Bedeutung eines solchen leuchtet demjenigen, dem es entspricht, unmittelbar ein, wissenschaftlicher Exaktheitsforderung aber kann es gar nicht standhalten. Dass ich nun in meiner Jugend trotzdem eine wissenschaftliche Laufbahn anstrebte, hatte mehrere Gründe. Erstens war Allverstehen von vorneherein mein Ideal — und ich wusste als Schüler und Student nicht, dass es andere Wege zu diesem Ziel gibt als den der Wissenschaft. Dann wollte ich es meinem Großvater gleichtun. Endlich spielte hierbei gewiss von vorneherein die unbewusste Einsicht mit, dass meine Anlage gerade der Korrektur durch Schulung im Geist exakter Wissenschaft bedürfte. Und dies zwar nicht allein in intellektueller, sondern auch in moralischer Hinsicht. Da der Intuitive unmittelbar Ganzheiten wahrnimmt, ohne dabei zu induzieren, zu deduzieren und zu urteilen, und da das Dasein jeder Ganzheit für das Bewusstsein Daseinsrecht schafft, so ist es ihm als Intuitivem unmöglich, zu diskutieren, sich zu verteidigen, überhaupt auf Einwände zu antworten. Er kann nur eine Ganzheit an Stelle einer anderen gelten lassen; zur Einzelheit hat er keinen unmittelbaren Zugang, noch interessiert sie ihn. Diese allgemeine Unzulänglichkeit des Intuitiven in dialektisch-kritischer Hinsicht wurde bei mir noch durch extreme Impressionabilität, welche mich durch bestimmte Eindrücke vollkommen ergriffen erscheinen ließ, bis sie von innen her überwachsen wurden, verschärft, so dass mir, wenn mich eine Anschauung packte, keine Einwände einfielen und ich gegen diejenigen anderer im Augenblick nichts einzuwenden wusste. Dieser Schwäche musste ich, das wusste ich sehr früh schon, irgendwie Herr werden. Recht wohl war mir aber bei Betätigungen, die Genauigkeit im Tatsachenverstande forderten, in meiner Kindheit und Jugend nie. Es besteht eine tiefe und wesentliche Beziehung zwischen Exaktheit dem Objekt gegenüber überhaupt und Handfertigkeit und Geschicklichkeit. Mir nun gehorchte mein Körper in meiner Kindheit überhaupt nicht, weil ich ihn kaum als mir zugehörig empfand. Wohl kein Kind ist beim Laufen dermaßen häufig hingefallen — meine Einbildungskraft rannte meinem Leib voran, und dieser überstürzte sich dann. Beim Reden überhaspelte ich mich, weil meine Gedanken einander viel schneller ablösten, als ich sie aussprechen konnte, und ich immer befürchtete, den Zusammenhang zu verlieren. Auf der Jagd schoß ich phantastisch oft vorbei, weil keine Beziehung bestand zwischen dem gut beobachtenden Auge und der sich ihm anpassen-sollenden Hand. Ich ritt an sich nicht schlecht, purzelte aber trotzdem oft vom Pferde, weil ich immer wieder vergaß, dass ich eben zu Pferde war und mich, ohne auf Äußeres zu achten, in meine inneren Bilder versenkte. So war ich auch elementaren Rechnens nahezu unfähig, obwohl ich mit acht Jahren, da ich von einem mathematisch hochbegabten Hauslehrer, einem Sohn des Physikers Arthur von Oettingen , unterwiesen wurde, welchen ich liebte und der mit meiner Intuitivität rechnete, die meisten geometrischen Lehrsätze selbständig nacherfand und später gar einige Grundgedanken der höheren Mathematik für mich neu erfunden habe, wovon sich ein Nachklang im Kapitel Kontinuität und Diskontinuität des Gefüges der Welt findet. Sooft ich Rechnungen kontrollierte, verrechnete ich mich, und nachdem ich daraufhin einmal, als Student, Dienstboten fälschlich des Diebstahls bezichtigt hatte, was mir nicht geringe Unannehmlichkeiten eintrug, verzichtete ich für alle Folgezeit aufs Rechnen. Später, als Gutsbesitzer, nahm ich innerlich von vornherein fünfundzwanzig Prozent Verlust bei möglichen Einnahmen als faires Äquivalent für meinen Verzicht auf Kontrolle auf mich und bin damit gut gefahren, ja im ganzen viel besser als scharfkontrollierende reichsdeutsche Gutsbesitzer, welche viel mehr für Beaufsichtiger ausgeben, als Unterbeamte — außer in seltenen Ausnahmefällen, denen aber elementare Menschenkenntnis leicht vorbeugen kann, denn Unehrlichkeit größeren Ausmaßes verrät sich in jeder Einzelheit — je zu veruntreuen wagen. Überhaupt habe ich, ohne je zu rechnen, zeitlebens recht gute Übersicht auch in finanziellen Dingen bewiesen, aber eben nur, insofern ich mich auf intuitive Überschau beschränkte. Sobald ich ins einzelne ging, irrte und verirrte ich mich. Gleichsinnig ging es auf allen Gebieten. Als Käfer- und Schmetterlingssammler und -bestimmer bereitete ich meinem sehr genauen Großvater wenig Freude, soviel Mühe ich mir dabei gab, schon um meinem Vetter Otto Taube , der hier exzellierte, nicht zu sehr nachzustehen. Meine Hand folgte mir wirklich nur beim Zeichnen und Modellieren, sofern dieses aus innerer Schau geschah oder aus der Erinnerung, die mir immer lebendiger war als der Eindruck, oder später beim Improvisieren auf dem Klavier. Lernen habe ich weder malen noch bildhauern noch auch musizieren können, noch auch wollen, da eben alle Einstellung auf Tatsächlichkeit meine Phantasie lähmte. Aber auch die freie Ausübung der Künste, zu denen ich als Kind bei weitem am meisten Begabung zeigte, freute mich nicht wirklich. Wirklich interessierte mich allein das Schauen und Verstehen und Behandeln des Lebendigen in seiner Lebendigkeit und damit in seiner vom Verstande unauflösbaren Ganzheit. Und so stellte ich mir mein erstrebtes Naturforschertum ehrlich nie anders denn als Kette phantastischer Reiseabenteuer vor, wie ich mir solche selber als Kind vor jedem Einschlafen und nach jedem Aufwachen erzählte. Noch in Dorpat ertrug ich das chemische Experimentieren, das ich dort betrieb, nur auf die Aussicht hin, nach Abschluss dieser Lehrzeit Forschungsreisender zu werden. Wie ich denn als Kind nicht allein vom berühmten Reisenden, welcher mein Großvater in seiner Jugend gewesen war, in diesem Sinne unbewusst beeinflusst wurde, sondern auch von dem großen Sibirienforscher, unserem Pörraferschen Nachbarn Alexander von Middendorf und vor allem dessen Sohn, Ernst von Middendorf , der Ornithologe war und meine Aufmerksamkeit zuerst auf die gefiederte Tierwelt lenkte. Diese Welt war nun die erste, die mir durchaus kongenial war; auf sie hin gelang mir die erste produktive Zusammenfassung meiner Gaben. Ich lernte sehr schnell Vögel nicht nur exakt beobachten, zeichnen, zähmen, verstehen und ihre Stimmen nachahmen, sondern sogar genau bestimmen; bekanntlich hatte mein Großvater zusammen mit Blasius in seiner Jugend die ersten differenzierten Tafeln zur Bestimmung der Wirbeltiere Europas aufgestellt. Gleichsinnig kannte ich eine Dame, bei der die längste Zeit sehr schlecht gegessen wurde — den meisten Frauen liegt an guter Küche nichts, läge es an ihnen. so wäre es bis heute bei Evas Apfel geblieben — die von dem Augenblicke an zur kulinarisch fähigsten Hausfrau wurde, wo sie sich in einen Mann verliebte, dem außerordentlich viel an guter Küche lag. Wahrscheinlich war es das Erlebnis des Zusammenklangs meiner besten Fähigkeiten Vögeln gegenüber, die mich endgültig zum Einschlagen einer naturwissenschaftlichen Laufbahn bestimmte. Doch ich wusste damals nicht, dass mein Interesse einzig Lebendigem galt, und so zwang ich mich zuerst zur Chemie und Geologie und soweit Lebendiges in Frage kam, zur Anatomie. Ich kam gar nicht darauf, dass mein Exaktheitsstreben, das freilich tieferen Grund hatte, sich nicht auf wissenschaftlichen, sondern künstlerischen Ausdruck bezog in weitestem Verstand der angemessenen Verkörperung primärer Intuition. So habe ich in Dorpat sozusagen mit zugekniffenen Augen titriert, ohne es doch jemals gutzumachen, und später in Heidelberg und Wien mit zusammengebissenen Zähnen Kristalle gemessen und Karten gezeichnet.

Im gleichen Sinne sagte mir auch wissenschaftliche Philosophie, wie ich mich in Heidelberg zuerst mit ihr zu beschäftigen begann, sehr wenig. Weltbilder verschiedenster Art schaute ich von jeher spontan zusammen, und von der Intuition geistiger Zusammenhänge aus konnte ich auch früh schon gelegentlich recht scharfsinnig unterscheiden. So fand meine Frau beim Durchsehen meiner Papiere, als die Gefahr der Fliegerangriffe akut wurde, einen Brief von mir an meinen Vetter Otto Taube aus meinem sechzehnten Lebensjahr, der eine ernstzunehmende Kritik von Sinn und Wesen des Okkultismus enthielt, von dessen Tatsachengrundlage ich damals so gut wie gar nichts wusste. Aber mit Kant, dem von meiner Familie traditionell verehrten und studierten Philosophen, wusste ich zunächst gar nichts anzufangen. Wurde dies seit meiner Begegnung mit Chamberlain beinahe augenblicklich anders, so lag das daran, dass ich in Chamberlain einen mir verwandten Geist intuierte, welchem kritische Philosophie viel sagte und der sie seinem geistigen Organismus produktiv einzuordnen wusste — und so fand ich über sein Beispiel selber den Weg zur Erkenntniskritik, der ja von 1903 bis 1911 mein Hauptbemühen gegolten hat. Dies nun geschah einerseits in der Erwartung, selber einmal auf diesem Gebiet so schöpferisch werden zu können, wie dies mein Ehrgeiz verlangte, andererseits aus bewusst geübter Selbsterziehung: nachdem ich einmal die großen Denker zu lesen begonnen hatte, wurde ich mir nur zu sehr und immer mehr meiner eigenen denkerischen Unzulänglichkeit bewusst. Dass ich das Gefüge der Welt schaffen konnte, so spontan, wie ich am Klavier improvisierte, beglückte mich freilich sehr. Doch kaum war es geschrieben, so gewahrte ich vor allen Dingen die Fehler dieser alles eher als exakten Philosophie. Zugleich spürte ich mich innerlich mit Chamberlain auseinanderwachsen. Ich fühlte, dass der Weg zur Erkenntnis, den ich bisher gegangen war, weder die Schulung bedeutete, deren ich noch bedurfte, noch in direkter Linie über mein erstes Buch hinaus höherem Erreichnis zuführte. 1905 hatte ich, das fühlte ich, eine Periode meines Lebens vollendet. — Da begegnete mir Wolkoff, und dank dieser Begegnung fand ich weiter.

Nicht-Intuitive werden schwer verstehen, wie gerade dieser Mann, welcher überhaupt nicht Philosoph war, schon gar nicht Sinnes-Philosoph, mich dermaßen fördern konnte. Diese seien auf die Bestimmung des Anfangs dieses Kapitels verwiesen, nach der ich ursprünglich ein beinahe reiner Intuitiver bin. Was mich ergreift, ist nie der Tatbestand, sondern das Sinnbild. Und um ein Sinnbild zu sehen, muss man den Sinn selbsttätig dem Tatbestand einbilden. Grundsätzlich braucht letzterer gar nichts von dem zu enthalten, was er dem Intuitiven bedeutet, obschon die fragliche Projektion praktisch nie ohne recht weitgehende Korrespondenz zwischen innerem Vor-Bild und äußerem Gegenstand gelingt. Ist solche Korrespondenz nun vorhanden, dann evoziert das geschaute Sinnbild das zum Ausdruck und damit zur empirischen Entstehung drängende Eigene. Eben dies hat Wolkoff in meinem Fall geleistet. Dies vermochte er vor allem Besonderen, wovon in Folgendem die Rede sein wird, darum, weil er der unter den Menschen, mit denen ich persönlich bekannt wurde, erste lebendige Typus von hervorragendem Beobachtungs- und Denkvermögen und von ausgesprochen analytischer Anlage war, der mir als Wert und damit als mögliches Vorbild einleuchtete. Kein Gelehrter hat dies je getan, am wenigsten in meiner Jugend, wo ich einerseits einseitig intuitiv war und andererseits selber keinerlei gefestigtes Sein, das darum auch ihm unsympathische Seinsformen anerkennen kann, verkörperte. Ich konnte nur vollausgeschlagene Persönlichkeiten, all round men, gelten lassen, und gerade das war kein Gelehrter, von dem ich Kenntnis hatte. Es waren alles mittelmäßige Menschen von mehr oder weniger großer Spezialbegabung und dermaßen ausschließlich in diesen zentriert, dabei die kleinste Spezialität, mit der sie sich befassten, so unverhältnismäßig ernst nehmend, dass mein inneres Gefühl sie schon damals ablehnte, wo es mir vor allem darauf ankam, an Wissen zuzunehmen. Vor allem empfand ich einen an Ekel grenzenden Widerwillen gegen jede Pedanterie, was nur natürlich war, da ich dazu veranlagt war, was immer mir entgegentrat, unmittelbar als Teil großer Zusammenhänge, die mir das Primäre bedeuteten, zu erleben. Wie widerwärtig musste mir da ein Mensch erscheinen, der ein ganzes Leben damit verbrachte, für einen Gedanken, der ihm in seiner Jugend eingefallen war, fünfzig Jahre lang Beweise zusammenzutragen, oder dem nichts im Leben etwas bedeutet außer einem bestimmten Bazillus. In Wien lebte in meiner Studentenzeit ein Spezialist des Typhusbazillus, dessen ausschließliche Einstellung auf seine Spezialität ihn dahin gebracht hatte, menschenfeindlich zu werden, weil die Genesung des Menschen den Tod seiner Bazillen bedeutete. Dann aber lehnte ich das ausschließliche Anerkennen von Verstandeserwägungen, welche die Wissenschaftler meiner Zeit kennzeichnete, a priori ab. Was sie nicht auf ihre Art feststellen und im Rahmen ihrer Vorurteile begreifen konnten, konnte und durfte es nicht geben. Vollends lehnte ich aber die menschliche Kleinlichkeit ab, welche Haften an Kleinigkeiten unvermeidlich großzieht. Im ganzen war meine Abneigung gegen den Gelehrten nahe verwandt dem typischen Hass des Künstlers gegen den Bourgeois; Wissenschaft ist eine wesentlich bürgerliche Angelegenheit; die Art Genauigkeit, die sie fordert, ist psychologisch beinahe identisch mit jener Solidität des Spießers, welche der Edelmann von jeher besonders verachtet hat. Diese zum Teil sicher abstammungsbedingte Abneigung gegen Haften am Kleinen und Kleinlichen wurde in meinem Falle potenziert durch meine individuelle Begabung für immediate Überschau großer Zusammenhänge vom Sinne her, welche ihrerseits die Neigung bedingte zu schnellem und unvermittelndem Springen von einem Interessengebiet zum anderen, welche Gebiete nur in der Region des Sinnes, nicht jedoch der Tatsachen zusammenhängen. Wolkoff nun war, wie man sehen wird, auf seine Art exakter, konsequenter und sogar einseitiger als irgendein Geist, der mir persönlich näher gekommen ist. Aber ihm fehlten alle die Eigenschaften, die ich perhorreszierte. Die Grundsynthese seiner Natur war die des Grandseigneurs, sein Sinn für Einzelheit setzte immer die Ganzheitsschau des Künstlers voraus, er stand über seinem Können und beherrschte von oben her seine Interessen, anstatt von ihnen beherrscht zu werden. So konnte ich bei Wolkoff eben das als Positivum erleben, was mich bei jedem weniger freien und überlegenen Menschen abgestoßen hätte.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
© 1998- Schule des Rades
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