Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

I. Vorfahren - Baltisches Herrentum

Doch der Keyserlingsche Geist brach spät erst, nach meinem Fortzug aus Dorpat, 1900, ja eigentlich erst, nachdem ich H. S. Chamberlain begegnet war, in mich ein. Darum konnte ich zu Anfang schreiben, mein berühmter Großvater hätte mir als Kind von allen bedeutsamen Vorfahren am wenigsten bedeutet. Die, welche ich zuerst als Vorfahren empfand und die für meine ganzen Begriffe als solche bestimmend wurden, gehörten der Generation meines Vaters an und der Akzent ruht dabei nicht auf ihm, der mir in seiner Weichheit und Schwere physiologisch in vielen Hinsichten fremd war, sondern auf den Brüdern und Vettern meiner Mutter, deren physischen Typus ich fortsetzte. Deren Zeit war schon eine ganz andere als die großväterliche. Diese Vorfahren trug keine sichere statische Ordnung mehr, ihr Sein genügte nicht mehr zur Gründung ihrer Existenz: sie kämpften schon um diese, wenn auch in ganz anderer Art, als dies für meine eigentlichen Zeitgenossen unvermeidlich wurde. Da sie nun echte Recken waren, so waren sie wie geschaffen zu Prototypen des baltischen Herrentums, welches mir heute noch angeborenes Ideal ist.

Auch dieser Generation eignete ein so starkes Gefühl für die Selbstverständlichkeit ihrer Vorzugsstellung, wie sie keine spätere mehr gekannt hat. Die Russen sind zumeist geborene Psychologen und als solche allezeit bereit, Ausnahmemenschen als Ausnahmen zu behandeln. Insofern erkannten die russischen Beamten, welche zu uns kamen, instinktiv die Weisheit des Aristoteles an, der da lehrte:

Gleichheit ist die rechte Beziehung unter Gleichen,
Ungleichheit hingegen unter Ungleichen.

Gern zitierten sie das Sprichwort: Jeder Baron hat seine Phantasie (Phantasia hat auf russisch einen ähnlichen Sinn wie das französische Wort caprice) und gestanden jedem, der ihnen imponierte, die seine bereitwillig zu. So gab es noch kurz vor dem Weltkrieg einen Baron Hoyningen-Huene, dessen Überzeugung es widerstritt, Steuern zu zahlen — nun, da richtete sich der Staat in seinem Falle lächelnd anders ein. Mir wurde aus ähnlichen unbewussten Gründen nie Zoll abverlangt. Wie ich mit vielen schweren Kisten, welche Schönstes und Wertvollstes bargen, von meiner Weltreise heimkehrte und alles öffnen wollte, rief der Zollbeamte mir beinahe heftig zu: Um Gottes willen, machen Sie doch wieder zu. Und wie das nicht schnell genug ging, da zog er einen Buddha heraus und sagte: So, das ist ein Aschenbecher und dann eine Pekinger Seide: Das ist ein Lampenschirm. Gerade diese Gegenstände waren nämlich zollfrei. Meinen Vater adorierten die russischen Beamten geradezu, und auch die Hochachtung der Esten vor ihm als einem Wesen höherer Art war so groß, dass ein Bauernwirt mir nach 1905 sagte:

Hätte der alte Graf, Ihr Herr Vater, damals noch gelebt, nie hätte es diese Revolution gegeben.

Daran war wirklich etwas. Monarchien stürzen nie, wenn die jeweiligen Könige sie wirklich festhalten, und in der Geschichte gab es selten erfolgreiche Bauernaufstände zu einer Zeit, da die Herren stark und selbstsicher waren. Bedrückung fordert selten Aufbegehren heraus, jedesmal jedoch Schwäche, und als Schwäche wird leicht auch Humanität und Liberalität missverstanden. Meine Onkel nun waren wirklich echte Herren, und so trug das Schicksal des letzten unter ihnen, der den Weltkrieg überlebte, alle Merkmale tragischer Größe. Alf Pilar von Pilchau, der älteste Bruder meiner Mutter, war in ähnlichem Sinne eine Kraftnatur wie ich, nur ganz unproblematisch, rein praktisch orientiert und als Herr vollkommen selbstsicher. Als die Revolution von 1905 über unser Land brauste, Rayküll demoliert und das Herrenhaus von Könno niedergebrannt wurde, da flohen nach Pernau zu die meisten Gutsbesitzer (ich weilte damals als Rekonvaleszent vom Typhus in Sizilien). Da warf sich kurz vor Pernau Alf Pilar, nur von seinen Söhnen und einigen Neffen gefolgt, der roten Horde entgegen und schlug sie in die Flucht. Er war der letzte aktive Landmarschall von Livland (das livländische Äquivalent des estländischen Ritterschaftshauptmanns). Heute noch freue ich mich des Anblicks, wie er im Ritterhaus zu Riga, 1910, Kaiser Nikolaus II. empfing. So bescheiden und einfach dieser als Mensch war — auf Grund aller Erfahrungen in seinem weiten Reich erwartete er Servilität. Alf Pilar jedoch blieb am fernen Ende des Rittersaales stehen, auf seinen Landmarschallstab gestützt, ließ den Kaiser uralter Etikette gemäß ganz nahe an sich herankommen und begrüßte ihn alsdann als von niemand abhängiger selbstherrlicher Edelmann und insofern von gleich zu gleich als edlen Gast in vornehmem Haus. Dank seinem absoluten Mangel an Menschenfurcht setzte Alf Pilar sich während des Weltkrieges den allmächtigen russischen Generälen gegenüber, die unser Land durch Verschickungen, Evakuierungen usw. immer erneut ruinieren wollten, immer wieder durch. Wie aber nach dem Rückzug der deutschen Truppen aus dem Baltenlande alles verloren, alles für uns aus war, da beschied er sich stolz, Verwalter eines fremden holsteinischen Gutes zu sein. Nichts gab er dabei innerlich preis; er blieb der ganz große Herr. Als er aber nach seiner Rückkehr in die Heimat, wo er in Pernau noch ein Haus besaß, sich eines Tages dazu verleiten ließ, seinen enteigneten Stammsitz Audern wiederzusehen mit seinen von den Soldaten und Revolutionären verwüsteten, von den lachenden Erben nicht neugepflegten Waldpflanzungen, die er so sehr geliebt und gehegt hatte, da starb er an gebrochenem Herzen.

Mein Vater war so milde in seinen Formen, dass er in einer Zeit, da solches beinahe ein Kunststück bedeutete, nie ein Duell gehabt hat. Nichtsdestoweniger sagte er mir, da ich erst dreizehnjährig war:

Wenn ein Lehrer es je wagt, dich anzurühren, dann schießt du ihn tot; Konsequenzen sind immer gleichgültig.

Aus dieser scheinbar so unpädagogischen Weisung sprach das Gefühl, dass wir baltischen Edelleute uns genau nur insofern würden halten können, als wir uns nicht dem anpassten, was anderen gut schien und unsere Sonderstellung bewusst und nicht nur rücksichtslos gegenüber dem Zeitgeist, sondern tollkühn behaupteten. Mein Großvater brauchte sich noch nicht zu behaupten; sein Dasein genügte. Die Selbstbehauptung der Balten der Generation meines Vaters nun war schon vielfach aus ähnlich engem Geist geboren, welcher später unseren historischen Untergang besiegelte; doch von denen, die ich als Vorfahren gelten ließ und die mich als solche beeinflussten, galt das noch nicht. Die stellten sich alle Fragen so, wie allein sie meiner Überzeugung nach jeder Edelmann stellen soll, der diesen Namen verdient: was bin ich mir selber schuldig? Es ist lächerlich zu behaupten, was neuerdings leider oft geschieht, sie hätten gegen das Russen- oder Estentum oder die Barbarei gekämpft: der Herr kämpft nicht gegen das, was unter ihm steht, sondern er beherrscht und führt und erzieht es. Die ganze Selbstbehauptung des Deutschtums war im Falle aller Balten größeren Kalibers vom gleichen Geist beseelt wie die meines Großvaters, da er als Kurator seinen Abschied nahm. Es ist später in Deutschland behauptet worden, er hätte das schnodderige Witzwort geprägt (der Anlass war die Bemerkung eines Reichsdeutschen, wir Balten seien als russische Staatsbürger doch Russen):

Wenn ein Pferd in einem Schweinestall geboren worden ist, so ist es deshalb kein Schwein.

August von Oettingen war es, welcher dies äußerte. Die Oettingens waren eine zwar hochbegabte, jedoch politisch enggesinnte Familie; sie zuerst unter bedeutenden Balten vertraten jene Ideologie des Kleinbürgers, der alles Fremde auf gleicher Stufe sieht wie sich selbst und es im gleichen Sinn befehdet, wie der Kleinhändler die Konkurrenz um die Ecke. Alle meine Vorfahren, die genau so energisch ihre deutsche Eigenart behaupteten wie ihre politischen Gegner, taten es um ihres eigenen als höher empfundenen Seins willen, das jedoch als solches, gemäß dem Imperativ noblesse oblige verpflichtete und keinerlei Abscheidung rechtfertigte. Ihre unausgesprochene Devise war nicht die, welche Leopold Ziegler nach 1918 als diejenige des Edlen hinstellte:

nicht verdienen, sondern dienen! sondern: weder verdienen noch dienen, sondern schenken.

Sie hatten die Selbstsicherheit des wirklich souveränen Menschen, der keines Ansporns von anderer Seite bedarf, um sein Bestes zu geben, und erst recht keiner Anerkennung. Sie waren wirklich unabhängig, nicht nur unabhängig im Sinne des verbrieften Rechts des Richters oder der polizeilich genehmigten Freiheit der Meinungsäußerung. Und sie waren ganz anders überlegen, als alle Fürsten, die ich in Europa gekannt habe, als welche ohne sie in ihrer Eigenart durch Distanzierung künstlich sichernde Etikette hilflose Menschlein waren, gänzlich unfähig, sich aus eigener Kraft als erster Stand zu behaupten und darum in Wahrheit menschlich viel weniger überlegen, als von jedem westfälischen Freibauern gilt. Diese Überlegenheit des echten baltischen Herrn war offenbar nicht durch das Blut allein — sonst müssten die reichsdeutschen Vertreter der gleichen Familien ähnliche Herren gewesen sein — und auch nicht durch den Boden allein bedingt, sonst hätte es unter Russen und Esten und Letten gleiche Typen geben müssen, oder müsste es unter den beiden letzteren Völkern seit unserer, der Balten, Vertreibung wenigstens die Ansätze zu solchen gegeben haben. Der baltische Herrentypus war psychologisch-soziologischen Geblüts; das Ergebnis der Spannung einer winzig kleinen Minderheit zu nicht nur beherrschter, sondern verantwortungsbewusst betreuter, an Zahl weit überlegener Unterschicht und überdies gleich großer Spannung zum unsere Heimat beherrschenden Russentum, gegenüber welchem es nicht nur die Unabhängigkeit, sondern die Herrenstellung zu behaupten galt. So hatte sich im Lauf der Zeit im besten Typus des baltischen Edelmanns eine Art Synthese des fürstlichen Landesvatergefühles, des altrömischen Herrenbewusstseins des Civis romanus sum und des englischen Kolonialbeherrschers gebildet. Insofern sprach ein deutscher Historiker wahr, welcher behauptete, der einzige Typus der letzten Jahrhunderte, welchem wir Balten ähnelten, sei der des englischen Kolonisten der amerikanischen Südstaaten vor deren Mediatisierung durch den Sezessionskrieg gewesen. Aber dieses dem des reichsdeutschen Adels hochüberlegene Herrengefühl des baltischen Edelmanns hat auch andere Gründe. Erstens historische. Baron Michael Taube hat Ende der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts etwas Hochinteressantes entdeckt. Es musste auffallen, dass unsere ersten großen Geschlechter, wie die Uexkülls, Meyendorfs, Tiesenhausens, Ungerns, Lievens und Rosens von Anfang an in ihrer Umwelt das Prestige großmächtiger Herren genossen: das lag, wie Taube festgestellt hat, daran, dass sie sich von vorneherein als so starke selbständige politische Kräfte erwiesen und durchsetzten — speziell die Uexkülls hielten schon ab 1254 weite Teile früherer russischer Fürstentümer in fester Hand — dass die russischen und litauischen Fürsten ihrer Nachbarschaft sie als gleichgestellte Herren ansahen, sich mit ihnen verschwägerten oder sie gar als Suzeräne anerkannten1. Der livländisch-deutsche Besitz kam so zum großen Teile gar nicht durch Eroberung zustande, sondern durch rechtmäßige Erbfolge unter Landesfürsten oder durch Zessionsurkunden. Da nun aller Einfluss von oben nach unten geht und im Baltikum nie eine besondere und als solche anerkannte höhere Kaste des Hochadels hochkam, so erklärt schon dieser eine historische Umstand das Überlegenheitsgefühl des baltischen Adels. Dieses steigerte dann das besondere Weitengefühl, das im Zusammenhang mit der unermeßlichen Weite Russlands in jedem Menschen entsteht, der sich durch deren Atmosphäre bilden lässt, so wie das gleichfalls wohl geopolitisch bedingte Weitengefühl des Wikingers, welches von jeher wieder und wieder bei echten Balten abenteuerhafter Gesinnung festzustellen ist und auf welches ich im Baltenkapitel des Spektrum Europas den Hauptnachdruck gelegt habe. Gern glaube ich, dass die Urheimat der Goten und Vandalen mit der meinen mehr oder weniger zusammenfiel. Was in der Völkerwanderungszeit die Ost- von den West-Germanen so stark unterschied, dass jeder Römer sie selbstverständlich als gesonderte Menschenart ansah, war im wesentlichen baltische Eigenart. Und so vertraten wir in der Zeit der Schwedenherrschaft viel mehr das Wikingerprinzip als die Schweden selber; kein Wunder darum, dass ein erheblicher Teil der ersten schwedischen Geschlechter deutsch-baltischen und nicht skandinavischen Ursprungs ist. Mehr will ich über dieses interessante Problem nicht sagen. Schon aus dem Angedeuteten geht meiner Meinung nach klar genug hervor, dass es sich beim Unterschied zwischen Balten und Reichsdeutschen, wo vorhanden, nicht um physiologisch-rassische Eigenschaften handelt. Selbstverständlich waren nie alle Balten so, wie ich sie hier schildere. Die Masse bestand wahrscheinlich die längste Zeit seit der Verwurzelung aus starken, aber engen und sturen Menschen, die für ihr Sosein, ihre Eigenart und ihre Privilegien eigensinnig fochten und für die es darüber hinaus nichts gab. Doch bis unser historisches Ende kam, bestand eine stillschweigend anerkannte hierarchische Ordnung, dank der bis auf seltene Ausnahmefälle nur Weitsichtige und Großzügige zu höchster Führer- oder sonst für die Allgemeinheit, wie man bei uns sagte, repräsentativer Stellung hinaufgelangten.

Meine Vorfahren behaupteten also ihre Eigenart nicht im Sinne der Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit, ihre Art anderen auf gleicher Ebene gegenüberstellend und mit ihnen kämpfend, sondern um ihres eigenen als höher empfundenen und insofern verpflichtenden Seins willen. Da nun jeder höhere Balte in irgendeiner Form so dachte — man denke nur an den großen Naturforscher Karl Ernst von Baer, von dessen Gesamtpersönlichkeit die Einführung zu seiner Ahnentafel das beste Bild gib —, so ergab sich daraus eine wunderbar farbig gegliederte Welt. Freilich galt bei uns mehr als irgendwo sonst in Europa der Grundsatz Gemeinnutz geht vor Eigennutz, es bestand ein wunderbares Solidaritätsbewusstsein und eine großartige Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfeleistung; wohl erkannten wir alle selbstverständlich eine für alle bindende Standes- und Ehrenordnung an. Dies aber als Spielregel im gleichen Verstand, wie höfliche Formen solche darstellen. Nie beeinträchtigten sie die freie Entfaltung der Persönlichkeit, und kein großer baltischer Herr kam je darauf, eines anderen Urteil als ihn innerlich bindend anzuerkennen. Jeder von ihnen wuchs so auf wie der Baum in einem englischen Park, nicht in einem eng bestandenen und standardisierten Nutzwald. So hatte denn jedes Gut, jede Familie, jeder Einzelne größeren Kalibers seine ganz besondere Atmosphäre; alles war einzig wie zur Heldenzeit. In jedem von der gleichen Familie bewohnten Gutshause war die besondere einzige Atmosphäre gerade dieses Geschlechtes geradezu zu riechen — ich entsinne mich aus meiner Kindheit nicht eines Hauses, auf welches irgendein allgemeiner Standard anwendbar wäre. So verkörperte nicht allein die Generation meines Vaters eine besondere Zeitgeisteinheit gegenüber der meines Großvaters —, gleiches galt in bezug auf Raum und Zeit von jedem alteingesessenen Edelmann, ja dank dem, dass dieser bei uns die Norm verkörperte und den Ton angab, wie in England der Gentleman, jedem der Oberschicht angehörenden Balten überhaupt. Und wir waren alle wesentlich Oberschicht. Schon das landsmannschaftlich aufgezogene Korporationswesen in Dorpat wirkte dahin, dass der Unterschied zwischen Adel und Bürgertum bei uns auch nicht annähernd die Rolle spielte wie in Deutschland. Eigentlich gab es bei uns überhaupt kein richtiges Bürgertum, wie denn die Nicht-Adeligen nicht Bürgerliche, sondern Literaten geheißen wurden. Gewinnstreben und Spießertum spielten keinerlei Rolle, Philister im deutschen Sinne gab es, wenigstens dem Ideal nach, überhaupt nicht. In dieser Hinsicht scheint mir symptomatisch, dass das Wort Philister in Liv-, Est- und Kurland den alten Herrn der studentischen Korporation bezeichnete und dass unter Studenten die Familien, in welchen man verkehrte, als Philister (das Philister) bezeichnet wurden.

Einzelne Vertreter echt baltischen Herrentums hochadeligen Stils haben noch den Weltkrieg überlebt. Doch da die Seele von Sinnbildern lebt, so schließt für mich der Tod meines Vaters im Jahre 1895 die Zeit der hohen Ahnen ab. Es ist ein Merkwürdiges um das sinnbildliche Erleben, welches ich noch mit sechzig Jahren nicht ganz verstehen kann, so selbstverständlich es gerade mir ist. In der Welt des Geistes und damit der Sinnbilder scheint es weder Zahl noch Raum noch Zeit zu geben; es entscheidet über die Wirklichkeit und deren Grad das Einleuchtende des Ausdrucks, so dass jeder einmalige Ausdruck von allgemeiner Bedeutsamkeit zugleich reale Stellvertretung schafft. Albert Schweitzer erklärte mir 1922, er opfere sein Leben den Negern, um dadurch die Ausbeutung primitiver Völker seitens anderer Weißer wieder gutzumachen. Damals leuchtete mir diese Erklärung nicht recht ein, weil der offenbare Hochmut des Ethikers in Schweitzer mein Urteil beirrte. Heute muss ich anerkennen, dass er grundsätzlich in genau gleichem Sinne recht hatte, wie Jesus in seinem Anspruch auf Welterlösertum: jedes sinnbildlich gemeinte Leben ist stellvertretend, weil überlegene und stark behauptete noch so einmalige und individuelle Einstellung den Kern des Mythos schafft, welcher allein in der Welt der Bilder überhaupt fortlebt. Wäre es anders, es gäbe überhaupt weder Führer noch Meister, denn keiner steht auf der Ebene der Tatsachen so einzig da, wie sein Fortwirken zu glauben nahelegt. Nein, ich hatte ganz recht, als ich im Kapitel Kant von Menschen als Sinnbilder den paradoxalen Ausspruch tat, man täte besser, die historische Wahrheit an den Mythen, als diese an der erwiesenen Tatsächlichkeit zu messen. Und so habe ich für mich auch recht, wenn ich das Ende des baltischen Groß-Herrentums im Sinnbild des Todes meines Vaters sehe. Er litt an einem schweren Bruchleiden. Eines Nachts gingen die ausgebrochenen Därme nicht zurück. Eine Eisenbahn gab es in unserer Nähe damals nicht. Auf einem Reggi, einem offenen Schlitten hingebettet, wurde mein Vater in der Nacht nach Reval abtransportiert, um operiert zu werden. Die Operation glückte, aber wenige Tage darauf verstarb er plötzlich an einem Bluterguß. Ich ahnte nichts Schlimmes. Damals — ich war vierzehnjährig — war ich dermaßen sensitiv, dass ich Leiden als solches nicht ertrug und es darum von vorneherein verdrängte. Am Morgen des 8. März jagten unsere Pferde, von Reval kommend, vor dem Rayküller Herrenhause vor — ich sollte in Begleitung meines Hauslehrers sofort in die Stadt kommen. Alle Welt zu Hause ahnte Schlimmes und sprach es auch aus, ich aber wollte nicht daran glauben und redete oberflächlich daher, bis wir beim Revaler-Diakonissenhause hielten. Dort begrüßten mich, einer nach dem anderen, die ragenden Gestalten meiner Oheime: mein Vater sei sehr schwer krank. Dann wurde ich zum Totenbett geführt. Ich konnte meinen Vater nicht als tot empfinden, darum nicht richtig traurig sein; wahrscheinlich wusste ich schon damals in meines Bewusstseins unzugänglicher Tiefe, dass nur der Körper stirbt, weswegen es wirklich sinnvoller ist, zerstörten Sachen als Toten nachzutrauern. Das Unbegreifliche des kalten Schweigens des Toten zusammen mit den heißen Tränen der anderen transponierte sich mir zu einem erhabenen Ritus. Und dieser Ritus vollendete sich mir in Schönheit mit der griechisch-orthodoxen Beerdigungszeremonie, die in der Kirche des Diakonissenhauses stattfand. Auf einem Katafalke, selber zum Grabdenkmal geworden, lag meines Vaters gewaltige Gestalt. Und die Bahre umstand der ganze stolze estländische Adel samt Vertretern der Schwesterprovinzen, im Gefühl der Trauer geeint. Herrlich erklang der liturgische Gesang der Priester und des Chors. Und dann — es war schon Nacht — wurde die Leiche auf einen mit schwarz-maskierten Pferden — unseren eigenen Pferden — bespannten Schlitten aufgeladen und im Fackelzug fuhren wir durch die verschneite Landschaft die sechzig Werst von Reval nach Rayküll, immer wieder aufgehalten von Trauernden aus Nachbargütern, die den Toten unterwegs zu grüßen kamen. Daheim angelangt, im herrlichen Rayküller Saal, begrüßte uns Harmonium-Musik. Und nachdem der Sarg hineingetragen war, hielten treue Diener, insonderheit die Könnoschen Förster, echte Vasallen, weinend die Totenwacht. Keiner unserer Leute kam damals darauf, dass mein Vater als Herr nicht über ihnen allen stand. Er war ja so selbstverständlich Herr, dass er nur milde dazusein und leise anzuregen brauchte, damit alle ihm ihre Dienste anboten. Wie sich denn auf der Jagd alle selbstverständlich darum bemühten, seinem überschweren Körper über Gräben hinüberzuhelfen.

Mit der Senkung meines Vaters in die kalte Erde versank mir zugleich meine Vorfahrenwelt. Die vielen ihr sonst noch Zugehörigen, die auf der Ebene der Tatsachen noch jahrzehntelang weiterlebten, starben für mich als Vorfahren sinnbildlich mit ihm. Denn die unbedingte und selbstverständliche Sicherheit, welche mein Vater verkörperte, verloren die allgemach, welche sich im Verlauf der fortschreitenden Russifizierungspolitik, der Revolution von 1905 und zuletzt des Weltkrieges noch so tapfer Schritt für Schritt behaupteten. Es waren posthumi, und oft, wenn ich ihrer in ihren späteren Phasen gedachte, kam mir der Horaz-Vers in den Sinn:

Eheu fugaces!
Posthume Posthume
Labuntur anni…
2

Heute, wo alle, die ich hier meine, tot sind, ist mir, als seien sie alle tatsächlich zusammen mit meinem Vater gestorben, so wie die Nibelungen am Hofe Attilas. Und ich selber als der, der ich ursprünglich war, zusammen mit ihm. Doch das Sinnbild dessen, was wir alle einmal waren, habe ich pietätvoll weitergepflegt. Eigentlich habe ich, als soziologische Figur, gerade nach dem Verluste meiner Erdwurzeln nichts anderes getan, als eine historisch verstorbene Gestalt zu wahren. Ich habe in leerem Raum gleichsam, nicht viel anders wie Tiepolo Pyramiden auf Wolken ruhen lässt, baltisches Herrentum in reinster, weil wegen seiner empirischen Verstorbenheit nicht mehr durch Andere verbiegbare Form, durch alle Zwischenfälle eines sehr bewegten Lebens durchbehauptet. Mehr als zwei Jahrzehnte nunmehr sind es, dass ich in der ganzen Welt, in Gestalt eines reinen geistgeborenen Schauspiels den Mythos meiner Vorfahrenwelt als persönliche Lebensform durchhalte, damit den Weg bahnend für eine Wiedergeburt unseres Herrentums auf irgendeiner neuen Erde. Und als ich mich in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts aus der Welt zurückziehen musste, da tat ich’s in keinem anderen Geist als mein Großvater, da dieser, seine Ämter niederlegend, sich in die Abgeschiedenheit seiner Güter zurückzog. So habe ich zumal während des zweiten Weltkrieges in Schloss Schönhausen, das mir nicht gehört, gelebt. Aber bin ich nicht ohnehin Gast auf Erden? Und was tut es, wenn ich nicht mehr sichtbar wirken kann? Schwer fiel es einem Menschen meines Temperaments freilich. Aber wann war ein bewusst und deutlich erlebtes Leben nicht schwer? Schon die geringste Änderung bedeutet Gleiches wie der Tod, und es ist einzig und allein eine Frage des Hellfühlens oder auch nur der Empfindlichkeit, wieviel Tode einer erleidet. Unempfindliche erleben sogar das eigene Sterben nicht…

1
Vgl. Taube Russische und litauische Fürsten an der Düna zur Zeit der deutschen Eroberung Livlands (12. und 13. Jahrhundert), Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slawen, Jg. 1935, Heft 3/4. — Vgl. über die Heiraten zwischen Balten und nichtdeutschen Fürsten, 1. c. p. 467:
Neben der urkundlich nicht bewiesenen, aber sehr wahrscheinlichen Eheverbindung des ersten Herrn de Ungaria (von Ungern) in Livland mit einer Tochter des Königs Kaupo stehen die gut beglaubigten Allianzen des Ritters Theodorius de Ropa (Buxhöveden), eines Stiefbruders des großen Begründers der deutschen Dünakolonie, mit der Tochter des Fürsten Vladimir von Pskow, bischöflichen Vogts von Autine-Adumäa, und wohl auch diejenige des ersten von Bardewis-Uexküll mit der Erbtochter des Vsevelod von Gerzike, Großtochter des Litauers Daugeruthe und Witwe des Ritters Konrad von Meyendorf-Uexküll. Kaum zu bezweifeln ist gleichfalls, wie oben ausgeführt, die Heirat des Theodericus de Kukenois mit Sophie Kukenois, Vjackos Tochter, welche Eheverbindung als Grundlage der späteren Macht der Tiesenhausen im Erzstifte anzusehen ist. Auf diesem genealogischen Wege führen uns die von der russisch-litauischen Welt ausgehenden Einschläge noch weiterhin zu einigen nicht unbedeutenden Rückschlüssen. Es handelt sich hier nämlich um gewisse Erscheinungen im sozialpolitischen Leben Altlivlands, die als Aussonderung einer Schicht des ältesten livländischen Vasallenadels zu einer Art hohen Adels charakterisiert werden kann. Diese Aussonderung der livländischen Großvasallen geschieht im Laufe des 13. bis 15. Jahrhunderts dank ihrem Großgrundbesitz, ihrer militärischen Macht (Schlösser, adelige Aftervasallen, gewisse Sonderrechte im Privatrecht, samende Hand, beginnende Ebenbürtigkeitsbegriffe im Konnubium), besonderen Ehrenrechten usw., nicht zuletzt aber auch dank der persönlichen Tatkraft einzelner hervorragender Persönlichkeiten unter den Eingewanderten. Diese sozialpolitische Entwicklung, also die Umwandlung kleiner Ritter und bescheidener Ministerialensöhne der deutschen Urheimat in mächtige Großvasallen des neuerschlossenen Kolonialstaates, geschieht — wie übrigens überall bei überseeischen Eroberungen der abendländischen Feudalwelt — teilweise im Zusammenhang mit der Nachfolge im Besitz, bzw. der Rechtsnachfolge (durch Heirat) der alten einheimischen Fürsten und Häuptlinge.
2 Ach, flüchtig entgleiten die Jahre!
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
© 1998- Schule des Rades
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