Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

I. Leo Tolstoi - Weitenmenschen

Imperialität ist, wie gesagt, eine ursprüngliche Eigenschaft des Geistes und der Seele. Dank dem, dass ich von mütterlicher Seite bis zur zehnten Generation hinauf nur deutsches oder skandinavisches Blut geerbt habe, war ich ohnehin weniger russisch als mein Vater und im übrigen hat neuere genaue Untersuchung festgestellt, dass ich, im Gegensatz zu der Legende, die ich mit Menschen als Sinnbilder selbst in die Welt gesetzt habe, überhaupt kein nachweisliches mongolisches Erbe in mir trage1. Die Murajows, rein russische Bojaren seit dem XV. Jahrhundert, leiten ihren Stammbaum sogar auf einen im XI. Jahrhundert nach Nowgorod eingewanderten Deutschen ab (wie denn die Familie Tolstoi nachweislich späten deutschen Ursprungs ist). Mein Hingezogensein zum Idealbilde des Russen beruht eben darauf, dass dieser mir meine eigene Imperialität vertrat. Hier kann ich denn eine zwecks besseren Verständnisses meines Schicksals und meines Werks besonders förderliche Richtigstellung der Bezeichnungen vornehmen. Bis zu meiner Begegnung mit Chamberlain hegte ich überhaupt keine Zukunftspläne, die ich selber ganz ernst genommen hätte; keine Sonderbetätigung zog mich wirklich an, kein Sonderinteresse bedeutete mir so viel, dass ich aus innerem Drang mein ganzes Leben hätte darauf gründen mögen. Dachte ich noch in Dorpat daran, Forschungsreisender zu werden, so war dies nicht Ausfluss von geographischem oder sonstigem bestimmten wissenschaftlichem Interesse, sondern von allgemeinem Weitengefühl. Und aufrichtig wohl fühlte ich mich nach wie vor — obgleich ich meinem angeborenen Lebensrahmen entlaufen war — nur im Rahmen eines zweckfreien herrschaftlichen Lebens, wie dies mein Vater geführt hatte. Als Wunschbild gab dann das, was Tolstoi mir offenbart hatte, meiner Weiterentwicklung die Richtung, nicht im Sinn des Strebens durch Leistung das, was ich nicht hatte, zu erreichen, sondern der Sehnsucht nach Erfüllung in mir gemäßer Daseinsform. An Betätigung als Philosoph dachte ich zunächst gar nicht, weil ich diesen als Wissenschaftler unter anderen vorstellte. Das wurde erst allmählich anders, und dann nicht aus erwachendem Interesse an philosophischen Problemen, sondern aus der mich vom Unbewussten her durchdringenden Einsicht heraus, dass ich einzig als vom Geist her die ganze Welt Umfassender meine gesamte Natur würde ausleben können. Es ist nicht anders: nicht die Universalität des Philosophen, sondern die Imperialität meines ganzen Menschen vom Geiste bis zum Fleisch stellt die physiologisch-charakterologische Grundlage alles dessen dar, was ich im Leben angestrebt habe. Ursprünglich nur in weitesten Zusammenhängen auf allen Ebenen zu Hause, im Raum wie in der Zeit, im Reich der Erscheinung wie in dem des Sinnes, konnte ich bei vorherrschendem Erkenntnistrieb nur Philosoph werden. Nun aber kommt das, wozu ich auf mein persönliches Leben hin diese langen Betrachtungen anstellen musste: mein konkreter Mensch hat sich durch noch so große geistig-seelische Weite und noch so weit ausstrahlenden geistigen Einfluss nie erfüllt gefühlt. Für mein persönliches Leben lagen und liegen die Dinge vielmehr so: dass ich mein tiefstes und eigentliches Sein nur auf der Ebene der Geistesschöpfung ausleben kann, darin besteht die von mir selber am schmerzlichsten — und zwar je länger ich lebe und je reifer ich werde, desto schmerzlicher — empfundene Tragik meiner Existenz. Oft habe ich mich selber als Kondor im Kanarienvogelkäfig bezeichnet und dieser Scherz hat vielen zum Verständnis meines Wesens mehr geholfen, als mein ganzes Werk. Sicher führen die meisten Missdeutungen meiner daher, dass nur ganz wenige darauf gekommen sind und kommen, im Philosophen in erster Instanz den Weitenmenschen zu sehen, die auf Sinnerfassung eingestellte Variante des gleichen Grundtypus, welchem auch Kaiser angehören; den Geist-bestimmten aber totalen Vollmenschen, wie ihn das Kapitel Weltüberlegenheit der Schöpferischen Erkenntnis sowie das Kapitel Kultur in Amerika in abstracto zu bestimmen versucht hat. Nicht selten hat man mir meinen Sinn für hohe Stellung, Weitenwirkung und Glanz übel genommen und als einem Philosophen nicht anstehend erklärt. Aber wenn ein Philosoph nun in erster Linie imperialer Mensch ist? Ich habe mich zeitlebens, auch in meinen äußerlich glücklichsten Zeiten, beengt gefühlt durch die äußeren Verhältnisse, in denen zu leben mir Schicksal geblieben ist.

Doch nun weiter. Je bewusster ich meines ursprünglichen Weitengefühls wurde, desto mehr musste ich vom Sein her alles Russentum bejahen, sogar das des russischen Bauern, denn auch dieser ist, wie kein zweiter auf der heutigen Erde, Weitenmensch. Man bedenke nur dies: das ureigene Ideal des Mushik ist nicht der reich gewordene Kulak, der besitzende Großbauer, sondern der Strannik, ein dem indischen Sanyassi nahverwandter Typus des Pilgers, nur sehr viel weiträumiger in seinen Bedürfnissen und, obschon nicht erdabgekehrt und die russische Erde glühend liebend, grundsätzlich nirgends zur Niederlassung bereit. Er ist also nicht zurückgebliebener Nomade, sondern die Embryonalform eines überlegenen Weitenmenschen. Im gleichen Sinne bezieht sich alles russische Heimatgefühl auf die Gesamtheit der russischen Erde in deren Universalität, mit all ihren verschiedenen Landschaften, Klimas und Völkerschaften. Darum ist Russland wesentlich Eines, wird die gleiche russische Sprache von Polen bis Kamtschatka gesprochen, bedeutet Partikularismus in Russland nicht annähernd das, wie in Deutschland. Wie soll ein geborener russischer Herr unter diesen Umständen nicht wesentlich imperial gesinnt sein in jedem nur denkbaren Verstand? Ich nun fühlte mein Philosophen- und Reformatorentum vom Geiste her, je mehr sich meine Natur entfaltete und an Fülle zunahm, desto primärer als Ausdruck der Imperialität. Dies denn erklärt den Stil meines ganzen späteren äußeren Lebens. Imperiale Gesinnung machte mich zum Wanderer, zum geistigen Eroberer von Kontinenten. Imperiale Gesinnung war die Wurzel meines alles-verstehen-Wollens, meiner Polyphonie, der Darmstädter Orchestrierungstechnik, deren Hauptsinn im Aufzeigen dessen bestand, dass jedem Sonderproblem eine umfassende Synthese zugrunde liegt, von der her allein es gelöst werden kann. Imperiale Gesinnung bedingte den Stil der Umgebung und des Verkehrs, welcher mir zusagte, wenn ich aus meiner Einsamkeit heraustrat und ich kein besonderes Ziel in der Zwei- und Mehrsamkeit verfolgte. Es ist kein Zufall, dass ich nach der deutschen Revolution, die alle deutschen Fürsten entthronte, verschiedene Rufe an Universitäten ablehnend, aus Geistesgründen (denn materielle Sicherung wurde mir in Darmstadt keinerlei geboten) dem Ruf des Großherzogs von Hessen folgte, der als Schwager des letzten Kaisers von Russland dank seiner außerordentlichen Medialität von Russlands Weiträumigkeit und Großzügigkeit imprägniert war. Ihm verdanke ich mehr als man ahnt: hätte Ernst Ludwig nicht allezeit fürstlich-verstehend zu mir gestanden, nie hätte das Darmstädter Zentrum bei all den Intrigen, welche dauernd gegen mich spielten, mehr als ein oder zwei Jahre überlebt.

Unter diesen Umständen ist klar, dass ich Annäherung an das, was meinem Weitengefühle einigermaßen entsprach, suchte, wo immer ich sie fand, und in meinem Verkehr allen Nachdruck auf das mir Kongeniale legte, beziehungsweise überall, wo dies von mir abhing, der Geselligkeit meinen persönlichen Stil gab, denn nur so konnte ich ganz unbefangen ich selbst sein. Meinen ersten Kontakt mit einer imperial gesinnten Welt fand ich in Wien. Wie ich 1901, mit gesellschaftlichem Leben großen Stils noch völlig unbekannt, sozial gesehen beinahe ein Embryo, dank dem Zufall, dass Prinz Alexander von Thurn und Taxis bei meinem Onkel Alf Pilar Elche gejagt hatte, von einem der ersten Häuser des österreichischen Hochadels wie ein Sohn aufgenommen wurde, da erging es mir wie einem von der Henne ausgebrüteten Entelein, das sich auf einmal im Wasser befindet. Wenige Menschen unter fünfzig ahnen zur Zeit, da ich dieses schreibe, mehr, was Österreich einstmals war: es hatte zur Zeit, da ich hinkam, nicht die geringste Ähnlichkeit mit der kleinen Republik Österreich; sogar mit dem Wort österreichisch-ungarische Monarchie wurde es zu eng bestimmt: es war das letzte richtige Imperium in Europa, die verschiedensten Völkerschaften umfassend und milde regierend, dementsprechend von sich aus Menschen-gestaltend. Die gleichen Menschen, welche später so häufig, wie man zu sagen pflegt, klein und häßlich erschienen und schon vor der Auflösung der Donau-Monarchie von sich aus schwach waren, erschienen auf dem Hintergrund des Imperiums ganz anders; daher die immanente werbende Kraft des österreichischen Menschen, zu welchem in meiner Jugend der Ungar selbstverständlich als Variante hinzugerechnet wurde, wie auch der vornehme Pole. Daher die werbende Kraft des Österreichertums, die ich hier meine. Noch bis zum Weltkrieg galt die österreichische Botschaft als vornehmste in allen Hauptstädten und sie war es auch. Die österreichische Gesellschaft war freilich schon damals, als ich nach Wien kam, in ihrer überwiegenden Mehrheit ungeistig; unter jungen Leuten ging das gar so weit, dass ein Mensch, dem etwas einfiel, eben deshalb für fad erklärt wurde. Aus geistigem Unvermögen bei gleichzeitiger seelischer Verfeinertheit des späten Österreichs, welches in der noch besessenen und vertretenen Kultur nicht einmal mehr ein Ideal sah, erklärt sich unter anderem die typisch-österreichische Unfähigkeit, sich in irgendeiner Sprache eigentlich auszudrücken. Überdies fehlte Österreichs höchsten Kreisen damals schon die zu produktiver Imperialität erforderliche Vitalität. Nichtsdestoweniger verkörperten sie in ihrem Unbewussten noch ganz die Überlegenheit des Geists, welcher das harmonische Zusammenleben so vieler Völkerschaften im Habsburger Reich so lange ermöglicht hatte; sie waren noch wesentlich großzügig im Geltenlassen, hochherzig im Mäzenieren, und von so exquisitem allgemeinen Qualitätsgefühl, dass es mir leicht fiel, durch die Gegenwart hindurch die vergangene Hoch-Zeit Habsburger Herrlichkeit zu schauen und zu erleben. Durch Wien hindurch erlebte ich die Imperialität des mittelalterlichen deutschen Kaisertums und der Barockzeit, welcher dort fortwirkender spanischer Einfluss noch einen Halt gab, wo sich das übrige Deutschland schon ganz dem Partikularitätsprinzip verschrieben hatte. Seit Wien suchte ich denn in allen Landen, als Ergänzung meines stillen und einsamen Denkerdaseins, meine Erholung in der großen Welt. Jahrelang hat mir die Umwelt der noch von klugen und überlegenen französischen Frauen beherrschten Pariser Salons den Rahmen geboten, den ich als mir gemäßesten fühlte, der mir aber im empirischen Verstand nicht angeboren war, und so hat es mir auch zeitlebens genügt, Schlösser, die aus der Zeit imperialen Menschentums stammten und deren Atmosphäre atmeten, als Gast zu bewohnen, um das zu haben, was sonst nur Besitzende erleben. Ein solches Asyl meiner Imperialität hat mir vor allem das Schönbornsche Schloss Pommersfelden bedeutet, vielleicht das schönste Barockschloss Europas, unvergleichlich großartig auf einer Hochebene belegen, weiträumig im Inneren, an Kunstschätzen überreich, von einem Tierpark mit seltensten Tieren umringt. Dieses Schloss atmet noch ganz die Atmosphäre jener großen Zeit, da die Familie Schönborn einen gewaltigen Mann nach dem anderen gebar — ein Jahrhundert lang war das Reichskanzleramt praktisch Schönborn’sches Privileg — und die mir befreundeten Besitzer waren in ihrer Art in Deutschland wohl einzig dastehende verstehende Hüter großer Überlieferung. Insbesondere die Gräfin Ernestina Schönborn, eine geborene Prinzessin Ruffo Scaletta, hatte das Verdienst, nicht nur Antiquarin, sondern Pflegerin der Tradition im Sinn der Förderung lebenden Geists zu sein. Es ist bei meinem katastrophenreichen und an materiellen Erfolgen armen Leben mein größtes Glück gewesen, dass mir Besitzen als solches bis in meine sechziger Jahre hinein gar nichts bedeutet hat. Wahrscheinlich fehlt der Besitztrieb typischerweise jedem Weitenmenschen, auch wo er Eroberer ist. Mir kam hier nebenbei die Familienanlage zustatten. Den Keyserlingen fehlte, seitdem deren Typus sich konsolidiert hatte, nicht nur der Besitz- sondern auch der Erwerbstrieb in phantastischem Grad. Dies ist der eine und einzige Grund, warum unsere Familie, die viel begabtere Männer und viel mehr solcher hervorgebracht hat, als die Mehrzahl von Europas Adelsgeschlechtern, welche hoch hinauf gelangt sind, sich keine glänzende äußere Dauerstellung errungen hat. Immer wieder heiratete einer reich, aber meist schon bei Lebzeiten war alles mehr oder weniger vertan, nicht aus Verschwendungssucht oder Leichtsinn, sondern aus Gleichgültigkeit oder Noblesse; so hatte mein Großvater die reiche Mitgift seiner Frau bald zum allergrößten Teile ausgegeben, teils zur Bezahlung der Schulden seiner Schwäger, teils indem er von Standesgenossen keine Rückerstattung von Darlehen forderte; auf sein eigenes Erbteil hatte er verzichtet, sogar die Spesen seiner ersten Forschungsreisen in Russland ließ er sich nicht vergüten und als Kurator in Dorpat forderte er direkt ein geringeres als das übliche Gehalt. Er stand nicht auf dem Standpunkt, den Chamberlain mir gegenüber einmal vertrat, indem er sagte:

Es gibt nur zwei nicht unwürdige Arten, Geld zu verdienen: entweder welches zu erben oder aber es geschenkt zu erhalten; selbst zehn Pfennig würde ich selbstverständlich annehmen;

dieser Ausspruch atmete die typische Sinnesart des echten Geistigen, welchen die Notwendigkeit, erwerben zu müssen, leicht innerlich schädigt. Desto extremer jedoch vertrat mein Großvater, nur in asketischer Abwandlung, die Überzeugung des Edelmanns, dass Geld keine Rolle spielen darf. Mein Vater war noch unökonomischer, obgleich er mit dem, was er hatte, leidlich auskam. Die wunderbaren, als persönliches Werk eines Privatmannes, der sich durch keinen Fachmann helfen ließ, vielleicht einzig dastehenden Kanalanlagen, dank denen er die Wälder Könnos entwässerte und Moore in Wälder umschuf, betrieb er eingestandenermaßen als Sport und dachte gar nicht daran, obschon er alles eher als reich war, seinen Besitz zu mehren. Wie er nach dem Tode meines Großvaters den Gesamtgrundbesitz antrat und dafür, zur Beschaffung von Betriebskapital, Bauernland verkaufen musste, machte er dem Landmesser, der das Geschäft vermitteln sollte, den Vorschlag, ihm eine bestimmte äußerst niedrige Summe auszuzahlen und den Rest des Erlöses selber zu behalten. Dass dieser den Vorschlag ablehnte, weil er gar zu phantastisch an ihm verdient hätte, war nicht meines Vaters Verdienst. Keyserling’sche Geschäfte waren nie dauernd erfolgreich. Von meiner Generation hat Alfred, dessen Erinnerungen Graf Alfred Keyserling erzählt die typische, bei größtem theoretischem Beteiligtsein nahezu vollkommene praktische Desinteressiertheit des Urtypus atmen, und der mit einer selten reichen geschäftlichen Phantasie begnadet war, welchem immer wieder etwas neues einfiel, ein Projektemacher ersten Ranges, eine schwer zu überbietende Serie von äußeren Zusammenbrüchen erlebt, wie er denn schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu meinem Vater sagte: Das Schlingchen werde ich immer noch finden, in das ich mein Köpfchen hineinstecken kann; und Alfreds Bruder Heinrich, der von Kaiser Nikolai II. das Monopol für den Walfischfang im Ochotskischen Meer erhielt und mindestens zwei Mal mehr prosperierte2, verlor auch immer wieder alles. Auch ich habe immer wieder viel mehr verloren, als nötig gewesen wäre, obgleich mein Verhältnis zum Geld kein typisch Keyserling’sches ist. Mein Ideal wäre immer gewesen, durchaus und in allen Hinsichten Gast auf Erden zu sein, ohne eigenes Geld dennoch sorgenfrei leben zu können. Vor meinem 63. Jahr, wovon im vorletzten Kapitel dieses Bandes die Rede sein wird, habe ich überhaupt kein bewusstes Verhältnis zum Besitz gehabt; von Finanzen verstehe ich praktisch gar nichts, obgleich ich oft treffende Gedanken auch über dieses Gebiet geäußert habe. Mein täglicher Lebensstil fordert größte Einfachheit. Aber wenn ich überhaupt Menschen sehen soll, dann fühle ich mich nur wohl — außer ich treffe sie sokratisch auf der Straße, was mir jederzeit die Möglichkeit gibt, ein Gespräch abzubrechen und den Partner zu verlassen, ohne unhöflich zu sein , wenn es im Stil opulenter Festlichkeit geschehen kann. Bis ich die Familiengüter antrat und damit zu Geld kam, richtete ich mich so ein, dass ich so wenig wie möglich für das tägliche Leben ausgab, um trotz meines Übersichtsmangels allezeit genügend Mittel für Extras und Exzesse, die mich allein interessierten, übrig zu haben. Als späterer Gutsbesitzer dachte ich ebenso wenig an Erwerb, wie mein Vater und Großvater. Da ich aber alles verloren und gerade von dann an für eine Familie zu sorgen hatte, da erfasste mich Panik. Nun wollte ich à tout prix erwerben, möglichst viel auf einmal, möglichst schnell, um die materiellen Sorgen, die mich über die Maßen störten, weil sie in keiner Weise zu mir passten, schleunigst wieder los zu werden. Aber gerade aus dieser Art und Eile sprach völliges Verkennen des Sinns des Materiellen. Ich verdarb mir wieder und wieder mehr, als ich gewann. So bin ich denn auch sehr viel glücklicher, seitdem ich im Fortschritt der Weltrevolution, die mir immer weniger Erwerbsmöglichkeit bot, den Gedanken aufgab, je wieder kein armer Mann zu sein. Mehr noch als in meiner von der Hoffnung auf Erfüllung getragenen Jugend imaginiere ich seither die Umwelt, welche ich brauche, so wie indisches Publikum aus den Worten des Theaterdirektors heraus die nicht vorhandenen Kulissen imaginiert. Das heißt ich konzentriere meine ganze Aufmerksamkeit innerhalb des Lebensrahmens, welchen ich jeweils haben kann, ausschließlich auf das, was mir entspricht und schaffe mir damit durch Kunst, was die Natur mir so nicht bietet. Hierzu sei noch das Folgende bemerkt. In Städter und Urnaturen erzählte ich, dass es eine schwere Verwundung im Duell war, die den übervitalen Kraftmenschen, welcher ich damals war, zum zarten Geistigen umschuf, der ich nachher über zehn Jahre lang blieb, und dass ich später, nachdem sich das ursprüngliche Gleichgewicht meiner Gesamtnatur wieder herzustellen begann, lange Angst hatte vor der Gefahr, mich zum grob materiellen Menschen zu entfalten. Erst von meiner Übersiedlung nach Darmstadt an begann sich eine Synthese von Urnatur und Keyserling’schem Geist zu bilden. Doch auch sie verankerte mich nicht in der Erde: fortan lebte ich auch meine mächtigen irdischen, durch meinen Vater von meinen russischen Vorfahren und dann von mütterlicher Seite ererbten Triebe in geistigem Zusammenhange aus; so wurde z. B. Liebe zu Speise und Trank und opulenter Festlichkeit für mich zu einem bewusst kultivierten und instrumentierten Anregungsmittel. Und immer wieder habe ich mich damit vergnügt, neue Speisen zu erfinden, die trotz geringster Auswahlmöglichkeit an Materialien und bescheidensten Mitteln in meinem Häuschen meist besser zu essen erlaubten, als in vielen Schlössern, sowie Gastmähler im Zusammenklang aufeinander abgestimmter Persönlichkeiten zu orchestrieren, als ob es sich um musikalische Darbietungen handelte. Meine immer häufiger bemerkte und hervorgehobene Konvergenz mit dem chinesischen im Unterschied vom abendländischen Philosophen beruht auf diesem unbedingten Jasagen zur Ganzheit des Lebens und der Akzentlegung auf Totalität und künstlerische Durchdringung in allen Richtungen und Hinsichten. Mein europäischer Phaenotypus, wenn ich so sagen darf, wurde aber im Verlauf dieser Entwicklung nicht zu dem jener späteren Jahrzehnte des XX. Jahrhunderts, als deren Wegbereiter ich mich fühle: er spiegelte immer mehr einen älteren Menschentypus wider als den, welchem die Keyserlinge sonst angehörten: den des Renaissance-Menschen nordischer Artung, des Zeitgenossen Shakespeares oder Rubens’ oder Frans Hals’. Dieser Europäertypus nun war, wie schon gesagt, soweit imperial, als dies der Europäer als solcher je gewesen ist. Seine Bildung dankt er der durch die Möglichkeiten des Entdeckungszeitalters übermächtig werdenden und alle Bindung durch kleinliche Überlieferung sprengenden Einbildungskraft. So bin ich aus der verlorenen äußeren Weiträumigkeit meines angeborenen russischen Hintergrundes in die innere Weite des Renaissancezeitalters ausgewandert und habe in ihr ein Asyl gefunden.

1 Vgl. hierzu meine nach allen Richtungen bis ins 16. Jahrhundert und in vielen sehr viel weiter hinaufreichende Ahnentafel, welche 1939 als fünfte Sonderlieferung der fünften Folge der Serie Ahnentafel berühmter Deutscher von der Zentralstelle für deutsche Personen- und Familienforschung veröffentlicht ist. Die vorzügliche Einleitung zu ihr aus der Feder des Freiherrn Otto Magnus von Stackelberg arbeitet sehr interessant die relative Bedeutung der verschiedenen Blutströme in meinem Phänotypus heraus.
2 Das hier Gesagte ergänzende Erinnerungen beider Bücher enthält unter anderem das Buch der Keyserlinge, Berlin 1937, Suhrkamp-Verlag.
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
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