Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

II. Roman von Ungern-Sternberg - Destruktion

Inwiefern habe nun ich selbst an der hier geschilderten Entwicklung und Umwälzung teilgehabt? Direkt im Sinn der actio und unmittelbaren passio gar nicht. Ich bin bis zu der Zeit, in der ich dieses schreibe (1940), auf wunderbare Weise verschont geblieben von Berührung mit Schauerlichem, so nahe ich ihm, und nicht erst seit dem Weltkrieg, wieder und wieder kam. Ich weilte ja sogar zur Zeit der bösesten Phasen der chinesischen Revolution in China. Aber Einbildungskraft und Einfühlungsgabe haben mir ermöglicht, innerlich mehr zu erleben, als es manche direkt in Mitleidenschaft Gezogene getan haben, und viel Klarheit zu gewinnen, nicht allein in bezug auf die Welt, sondern vor allem auch in bezug auf mich selbst, die ich in anderen Zeiten wahrscheinlich nicht gewonnen hätte.

Mit meiner eigenen Grausamkeit ist es, so weit ich urteilen kann, nicht weit her. In meinen Tagträumen oder wie ich den Zustand heißen soll, in welchem meine Aufmerksamkeit mehr durch den unwillkürlichen Ablauf innerer Bilder gebannt ist als durch äußeres Geschehen, stelle ich mich selbst, wenn ich tief verletzt bin oder Anlass zum Abscheu zu haben glaube, nicht selten als die schauderhaftesten Grausamkeiten verübend vor; daher weiß ich, wie denen, welche wirklich foltern lassen, zu Mute ist. Doch hierbei ist in meinem Fall nie Leidenschaft am Werk; es stellt sich mir bloß vor, als ob sie es wäre. Meine Wutgebärden haben meist einen ganz anderen Sinn: entweder ich will lästige Bilder durch heftige Gesten loswerden, ähnlich wie König Xerxes den Hellespont peitschen ließ, oder aber ich halte mich gleichsam flügelschlagend gegenüber starkem Sturm in der Luft im Gleichgewicht. Da mein Bewusstsein im Zwischenreich überhaupt keinen Halt hat, so kann ich Eindrücken nicht im selben Sinne und auf die gleiche Art standhalten wie Menschen, denen es etwas bedeutet, im Recht zu sein, oder denen es selbstverständlich ist, einseitig und rücksichtslos ihre Interessen zu vertreten oder ihr Leben zu verteidigen. Ich muss durch gewaltsame Bewegung den Widerstand in mir schaffen, den die meisten anderen selbstverständlich leisten, und dazu muss ich nicht selten Empfindungen und Gefühle künstlich übersteigern. Nur ganz wenige Male im Leben bin ich wirklich wütend gewesen: das war, wenn ich bis in meine Erdwurzeln, also tiefer als in der Region des Zwischenreichs, verletzt war. Dann habe ich freilich sehr an mich halten müssen, um nicht des Totschlags schuldig zu werden. Aber ließe ich mich gehen, so würde ich wahrscheinlich eben einfach totschlagen, nicht quälen; und nach der Tat würde mich diese bitter gereuen. Im Traume habe ich meines Wissens nicht eine Grausamkeit verübt, auch niemand je getötet oder auch nur töten wollen; ich scheine mir im Traume eher freundlicher, meinem Kindheitszustand ähnlicher zu sein, als im Wachen. Im Traume bin ich meiner Erinnerung nach nur selbst immer wieder verfolgt und hingerichtet worden, und letzteres war nicht einmal unangenehm. So gehören meine vorgestellten Grausamkeiten wohl zu dem, was ich zwar gerne dichte — so wie ich ja auch besonders gern Kriminalromane lese —, jedoch sehr schwer real begehen könnte. Andererseits aber kenne ich aus eigenster Erfahrung an mir selber sämtliche destruktiven Elementarmächte, von denen ich je gehört. Und zwar sind diese seit meiner Kindheit gewachsen und immer stärker geworden in mir. Hier ist denn der Ort, das über meinen Kindheitszustand Gesagte zu ergänzen durch Beobachtungen über den Zustand des Erwachsenen und Alternden. Meiner Ansicht nach wird die Entwicklung von den meisten heute noch völlig falsch gesehen, entsprechend der ersten Entwicklungstheorie, gemäß welcher der ganze Mensch, vollausgestaltet, en miniature im Ei vorhanden sei. Es ist nicht nur so, dass vieles später im Menschen Festzustellende anfangs schlummert, es ist überhaupt noch nicht da; auch physische Organe bilden sich aus undifferenzierten heraus völlig neu. Der einzige nicht falsche Vergleich des Vorgangs ist der mit einer Symphonie, innerhalb welcher von Satz zu Satz neue Motive. Das Reifwerden des Menschen besteht nun im Allgemeinen darin, dass sein Bewusstsein vom hauptsächlich Geist-bestimmten Kindheitszustand in die Erde hineinwächst. Was im Falle des Geschlechtstriebes, aber auch dieses allein, männiglich bekannt ist, gilt auf allen Gebieten. Jeder ernste Mann ist gegenüber dem spielenden Kind einfach der Erdschwere. Und je geistiger einer bleibt oder auch wird, desto mehr bleibt sein Zustand dem der Kindheit ähnlich, oder aber er konvergiert mit ihm. Das größere Gewicht des reifen Mannes beruht nun ganz auf seiner größeren Erdschwere. Wie sehr alle vitale Kraft erdhaft ist, habe ich an mir selber mit nahezu grotesker Deutlichkeit beobachten und feststellen können. Ich bin zeitlebens, bis dass ich ein relatives Dauergleichgewicht erreichte, umschichtig dünn und dick gewesen. Sobald ich nun an Fleisch und Fett verlor, begann die Empfindlichkeit die Kraft zu überwiegen, so dass ich im Grenzfalle schwach wirkte. Es scheint sogar das Fett ein besonderes Vehikel der Vitalität zu sein. Mag es den Körper nur beschweren, dem Limbus, wie ihn Swedenborg hieß, dem Ätherleib oder dem Astralleib dient es offenbar zum Ausdrucksmittel und zur Stütze zugleich in der Welt. Darum neigten alle sehr vitalen Menschen von einem gewissen Alter an zur Korpulenz, insbesondere alle sehr vitalen Frauen; darum haben Dicke typischerweise bestimmte positive Charaktereigenschaften, von denen bekanntlich Caesar, laut Shakespeare, besonders viel hielt. So bin ich überzeugt, dass die Hungerkultur der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts auf die Dauer desaströse Folgen zeitigen wird; die, denen die Magerkeit nicht naturgemäß ist, werden psychisch höchst unerfreuliche Herabminderungen erleben. — Doch dies nur nebenbei. — Die Erdkraft wächst nun normalerweise mit dem Älterwerden, und leider nur in seltenen Fällen wird ihr Schwinden im Alter durch neue Vergeistigung kompensiert: meist erstarrt sie nur, nimmt dem Geist dadurch erst recht dessen Bewegungsfreiheit, und so erweist sich der Greis allem Vorurteil und aller Legende zum Trotz typischerweise als der materiellste Menschentypus.

Was stellt nun die ideale Norm dar? Ein Zustand nicht des Ausgleichs, sondern der größtmöglichen Gespanntheit zwischen Geist- und Erdkräften im Menschen; also ein Zustand dynamischesten Gleichgewichts, denn hier speist die Vitalität einerseits den Geist, wächst dieser andererseits am Widerstand der Erde, die er überdies von oben her dirigiert. Solche Gespanntheit kennzeichnet alle starken Persönlichkeiten; auf ihr beruht deren Stärke. Aber die Erdkräfte sind geistig indifferent, und sobald ihr destruktiver Aspekt eine erhebliche Rolle spielt, erscheinen sie böse; daher die uralte Feindschaft des Geistes gegen das Fleisch und die ebenso uralte Praxis, dasselbe abzutöten. Bei mir nun sind die elementar-irdischen Gewalten wegen des Fehlens des Zwischenreichs in mir mit den Jahren nicht nur immer stärker, sondern elementarer geworden, und zwar direkt proportional der Differenzierung des Geists dem Allesverstehen und der Seele der Weitherzigkeit und Feinfühligkeit zu, indes die Spannung in mir immer stärker wurde und wird. Träumte ich als Kind nur gelegentlich vom Löwen, der mich von hinten überfällt, machte sich das Elementare durch diese Heftigkeitsanfälle gelegentlich Luft, so ist es mir später immer mehr zu einem anderen Ich erwachsen, welches ständig in mir lebt und mir meine Leidenschaft und meine Tatkraft gibt. Aber sie sind gleichzeitig auch zu immer gefährlicheren Mächten erwachsen; immer leichter nahm das an sich einfach Kraftvolle einen zerstörerischen Aspekt an, sobald es sich unterdrückt oder gereizt fühlte. In den Jahren, wo ich besonderen Druck auszuhalten hatte und gleichzeitig am Ausschließlichsten nach Sublimierung strebte, verdichteten diese Elementarmächte sich gelegentlich zu drohenden Gebilden von übermenschlich erschreckender Kraft, die ich oft visionär deutlich entweder als alles umschlingen- und aussaugen-wollende Riesenkraken, oder als alles zerreißen-wollende sibirische Tiger schaute. Aber so unzweifelhaft Destruktives und damit Böses sich meiner dabei bemächtigen wollte — nie, dass ich wüßte, habe ich vor diesem Bösen Angst gehabt, noch habe ich mich innerlich dagegen gewehrt. Hier liegt die Erklärung für das in Mütter Geschilderte, dass ich mich schon in meiner Jugend in gewissen Perioden dauernd schuldig fühlen und Böses, das ich nur zu gern losgeworden wäre, in mir als existent anerkennen konnte, ohne dass dieser unglückliche, ja unselige Zustand mich zu einem Ausbrechen aus mir selbst, in welcher Form auch immer, verleitet hätte. Ich habe eben nie befürchtet, dass mich das Böse überwältigen könnte. Ich habe es nie befürchtet, weil ich sehr frühe schon wusste, dass das Böse nichts Absolutes ist, sondern ein Aspekt der Urkraft. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass die indische Vorstellung von der Urmutter richtig ist, die sowohl als liebende Parvati oder Lakshmi wie als furchtbare Kali in die Erscheinung treten kann, und dass nichts sinnwidriger ist als ein rein Negatives im an sich Bösen zu sehen. Ließ ich mich in Zeiten, wo die Dämonen mich besonders häufig heimsuchten, nicht selten in Form böser Worte oder Gebärden gehen, so war es, um ihnen etwas, was mir eine Kleinigkeit bedeutete, vorzuwerfen und sie also auf harmlose Weise zu befriedigen.

Denke ich von hieraus an Roman Ungern-Sternberg mit seinen Sperberaugen zurück, so scheint mir, dass dieser mich zum Teil auch darum so sehr faszinierte, weil er in bestimmter Hinsicht mein Gegenpol war; er war ein wesentlich gespaltener Mensch, konnte nur heilig oder grausam oder beides zusammen in schroffster Aufspaltung sein; er konnte nicht aus der Spannung heraus leben. Letzteres ist nun wohl mein Grundcharakteristikum, wie denn zum Besten, was Rudolf Kassner über mich geschrieben hat, seine Feststellung gehört, dass es undenkbar wäre, dass die Spannung in mir, wie ungeheuer, ja ungeheuerlich sie sei, je risse. Ich habe tatsächlich nie die bloße Möglichkeit dessen ins Auge gefasst; so groß der Pendelausschlag in mir gelegentlich war, nie kam mir der Gedanke der Gefahr der Spaltung. Im Kapitel Selbstverwirklichung der Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit habe ich am Beispiel des tibetanischen Heiligen Milarepa meine Grundauffassung bereits ausgeführt, dass man von der Bewusstseinslage des höchsterwachten heutigen Menschen her zwischen Gut und Böse überhaupt nicht mehr auf die in früheren Jahrtausenden gepflogene Weise scheiden darf. Freilich kommt hier das Nietzschesche Jenseits von Gut und Böse nicht in Frage, dieser männliche Protest des durch missverstandenes Christentum Verweiblichten, wohl aber das unbefangene Bekenntnis zum unlösbaren Zusammenhang von Gut und Böse. Gut und Böse verhalten sich nun einmal ursprünglich so zueinander wie Ja und Nein — und ohne Nein als Grenze könnte kein bestimmtes Ja existieren (vergl. Das ethische Problem in Wiedergeburt). Konstruktives und Destruktives sind nun einmal unlöslich zusammenhängende und in irgend einer Form korrelative Aspekte des gleichen Lebensprozesses, wo immer etwas vergehen muss, auf dass anderes entstehe (vergl. den Zyklus Werden und Vergehen von Wiedergeburt) — und es gibt überhaupt keinen Lebensprozess, der nicht auch in diesem Sinn melodiehaft wäre. Nun ist die Verwandelbarkeit, Verschiebbarkeit und Übertragbarkeit der psychischen Kräfte (der Libido, wie die Analytiker sagen) schier grenzenlos; es gibt kein Konkretes, an das sich eine an sich unbestimmte Tendenz nicht heften könnte, und keine noch so ungeheuerliche Besetzung der Pole Konstruktion und Destruktion, die nicht theoretisch möglich wäre; umgekehrt kann das dem Anschein nach Verschiedenste Gleiches bedeuten, kann ein identischer Sinn aus sich heraus die verschiedensten konkreten Tatbestände schaffen. Nur weil dem also ist, ist der Mensch an der entsetzlichen Spannung, die seine ehrlich geglaubten Vorstellungen von Himmel und Hölle und deren Bewohnern zum Ausdruck brachte, als Genus nie zerrissen — was immer die Theologie lehre: für das normale Unbewusste befinden sich Gott und Teufel im Gleichgewicht.

Hieraus ergibt sich denn eine Grundthese von entscheidender Wichtigkeit: es ist grundverfehlt, so lange der Zusammenhang von Gut und Böse nicht zerrissen ist, irgendein Triebhaftes und Elementares in sich zu negieren oder auch nur zu bekämpfen. Die Triebe sind die Urelemente des psychischen Organismus; nie können diese stark genug sein. Wer irgendeine Leidenschaft abtötet, es sei denn durch eine noch stärkere Leidenschaft, dank welcher sich ein plus und kein minus an Leidenschaft ergäbe, der, nicht der seine Leidenschaft Erleidende sündigt am Leben. So habe ich instinktiv von jeher den Weisungen des Tibetanischen Totenbuchs gemäß gehandelt: dass man den schrecklichen Gottheiten des Zornes freundlich begegnen soll; sie gehörten zur Substanz der eigenen Seele und seien in Wahrheit Schutzgottheiten (tutelary deities). Darum betrachte ich als die für die Entwicklung meiner Seele schlechteste Zeit nicht die, wo ich von Dämonen besonders häufig und heftig heimgesucht wurde, sondern die Jahre, in denen ich, in allzu leichten Verhältnissen lebend, den bösen Geistern dauernd ausweichen und so mir selber eine nicht vorhandene Serenität vortäuschen konnte; diesen Zustand und was ich damals (positiv) darüber dachte, schildert ein Abschnitt des Kapitels Auf dem stillen Ozean des Reisetagebuchs. Hätte ich damals kostbare Jahre nicht durch Selbstschonung versäumt, manches wäre später, da ich kämpfend ins Leben hinaustreten musste, reibungsloser und wahrscheinlich doch nicht schlechter gegangen — so hoch der Wert des Schwer-Habens als solcher immer einzuschätzen sei. Denn nun konnten mich die Dämonen mit aufgestauter Kraft überfallen, und so gab es Zeiten, wo viele, die mich kannten aber nicht übersahen, mich für wesentlich böse hielten. Tatsächlich erlebten die Zerstörungstriebe unter dem Druck der ungeheuerlichen Unkongenialität der Verhältnisse, unter denen ich in den ersten Jahren nach meiner Übersiedlung nach Deutschland leben musste, zuweilen eine solche Steigerung, dass ich mich beinahe übermenschlich zusammennehmen musste, um nicht auf verderbliche Weise zu explodieren. In jene Zeit nun fällt ein Erlebnis, welches mir dazumal viel bedeutete. Bei einem der Christus-ähnlichsten Heiler, denen ich begegnet bin, dem Bonner Magnetopathen Engel, traf ich ein merkwürdiges Mädchen, welches die Fähigkeit besaß, durch Umfassen der Hände mit dem Unbewussten anderer in unmittelbaren Kontakt zu kommen und ihrem Erleben klaren Ausdruck zu verleihen. Ihre Neigung galt dem Kriminellen; so hatte die Polizei sie offiziös in ihren Dienst gestellt, erstens um Verbrecher zu diagnostizieren, dann um dieselben wenn möglich durch auf-den-Kopf-Zusagen dessen, was in ihnen vorging, zum Geständnis zu bewegen. Von mir wusste das Mädchen nur so viel, als sie aus dem Reisetagebuch hatte herauslesen können. Ich zeigte ihr meine Hände: sie sprang beinahe zurück.

Aber Sie sind ja von Wölfen umringt. Ich sehe deren Lichter um Sie glänzen: Sie könnten der Kaiser aller Zerstörer sein! Ich lächelte. Tags darauf besuchte sie mich. Ihr Zustand ist entsetzlich, sagte sie mir; warum stellen Sie denn dieses Zerstörerische nicht heraus? Ich lächelte wieder und lud sie ein, am nächsten Abende meinen Vortrag Geschichte als Tragödie (in Wiedergeburt abgedruckt) anzuhören. Nachher fragte ich sie: Verstehen Sie jetzt? Nein, sie verstand nicht. Da erklärte ich ihr: Sie haben vollkommen Recht. Ein furchtbarer Kampf tobt gerade jetzt in meiner Seele. Doch die Spannungen in der Seele sind doch nur dazu da, um mittels ihrer Höheres zu realisieren. Dadurch, dass ich das Böse (was an und für sich und zutiefst gar kein Böses, sondern ein vollkommen Amoralisches ist) weder negiere noch herausstelle noch als gut bejahe noch mich darum gräme, verwandle ich’s mir zur eigentlichen Schwungkraft meines Fortschrittstrebens. —

Seither habe ich in immer neuen Formen Anstürme des Bösen erlebt, und eingedenk der Anstürme, welche Jesus und Buddha gerade vor dem Augenblick ihrer endgültigen Erleuchtung aushalten mussten, nehme ich an, dass ich weitere, je weiter voran ich komme, in desto stärkerem Grad und Maß erleben werde. Aber warum auch nicht? Die gesunde Seele ist ein einheitlicher Organismus von korrelativer Ober- und Unterwelt. Beide sind zum Leben notwendig und an ihrem Ort berechtigt. Worauf es hier zunächst ankommt, ist das Unterste nicht zu oberst zu kehren. Dann und vor allem darf der Zusammenhang zwischen Oben und Unten nicht zerreißen. Das Böse wird erst böse, wo es sich abspaltet und verselbständigt. Denn sobald die Seele ihre Verwandelbarkeit verliert, dann erst, dann aber wirklich treten absolute weil unabänderliche Qualitäten in Erscheinung. Nur erweist sich dann auch ein anderes als wahr: auch das abgespaltene Gute ist ein Böses. Hierüber möchte ich in diesem Zusammenhang nicht mehr sagen; es wird im nächsten, im Puritaner-Kapitel geschehen. Halten wir jetzt vor allem dieses fest: der Zusammenhang des seelischen Organismus darf nicht zerreißen. Solange dieses nicht geschehen ist, gibt es kein eindeutig Konstruktives und kein eindeutig Destruktives, und damit auch kein ein für alle Male Gutes und kein ein für alle Male Böses. Worauf es ankommt, ist, wofür sich der Mensch in sich letztlich entscheidet. Den Endakzent legt unter allen Umständen er selbst. Daher die Möglichkeit, auch bei destruktiver Betätigung dem Guten zu dienen. Hier liegt die Größe des echten edlen Kriegers. Das erhabenste Sinnbild dieser letzten Möglichkeit verkörpert der Bodhisattvas des Untergangs des nördlichen Buddhismus. Als welcher eine Welt, wenn sie übel geworden und zu verenden reif ist, in Stücke zerbricht und dann in kleinere und immer kleinere Stücke und weiter in Krümel und immer kleinere Krümel, bis dass aus deren Atomen Sternenstaub geworden ist…

Überfliege ich von hier aus meine eigene innerseelische Entwicklung und die ganze mir bekannte menschliche Sittengeschichte, dann gelange ich zum Ergebnis, dass das Übelste am Bösen die Furcht vor dem eigenen Bösen ist. Tiefenpsychologen haben etwas festgestellt, was ich zu den wunderbarsten aller Entdeckungen rechnen möchte: dass viele Menschen aus Schuldgefühl Verbrechen begehen; dass sie also nicht etwa von Schuldgefühl besessen sind, weil sie Böses getan hatten, sondern umgekehrt schuldig wurden, um ihrem gegenstandslosen Schuldgefühl einen Inhalt zu geben. Daher die tiefe Befriedigung, die manche Verbrecher nach begangener Tat empfinden. Ganz gegenstandslos ist nun das fragliche Schuldgefühl doch nicht: sein Gegenstand ist die Angst vor dem eigenen Bösen, das sie nicht wahr haben wollen. Diese Feigheit vor der Wahrheit, diese Angst gilt es zu überwinden. Dieser Satz enthält das Α und das Ω aller moralischen Höherentwicklung.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME