Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

V. Bernard Shaw - Ironie, Humor und Witz

Einmal verblüffte Bernard Shaw die Welt der Schreibenden durch einen Ausspruch, den eine wichtige programmatische Bankett-Rede enthielt: in seinem ganzen Leben hätte er kein einziges Wort unter literarischen oder künstlerischen Gesichtspunkten geschrieben; immer hätte er auf seine Mitmenschen wirken wollen, sei also insofern Journalist gewesen. Ganz trifft diese Behauptung nicht zu. Shaws dazumal beste Freundin, Lady Astor, schrieb mir nach dem Triumphzug des Kaisers von Amerika belustigt, G. B. S. sei wütend über die Unterstellung, er propagiere den monarchischen Gedanken; es hätte sich einfach so ergeben, dass der König als die überlegenste Figur erschien. Aber wesentlich meint Bernard Shaw immer, was er sagt; nur liegt es in seiner Art, zu übertreiben und zu karikieren, und je lauter er lacht oder je mehr er zum Lachen reizt, desto ernster meint er’s. So ist es tatsächlich so, dass das Dichterische als solches Bernard Shaw persönlich kaum interessiert. Wohl ist er Dichter, doch dafür kann er nichts, und er verweilt ungern dabei, misshandelt gar den Dichter in sich, schockiert die, welche ihn zu deutlich verehren, weil er so gar kein Verdienst in seiner Begabung sieht. Seinem bewussten Streben nach ist Bernard Shaw Beeinflusser des Zeitgeists, Erlediger des Unzulänglichen, indem er es lächerlich macht, Vorkämpfer neuer besserer Ordnung, nicht selten gefährlicher Utopist, in seinen höchsten Augenblicken echter Prophet.

Schon die hier kurz skizzierten Wesenszüge — und es sind nur einige unter vielen — erklären die Sonderart von Bernard Shaws Weg und Leistung. Er gehört wesentlich nicht zu den Menschen, die mit einem Talente zu einem Talent geboren wurden, als welche Goethe die glücklichsten heißt. Und so reden alle die Kritiker, die ihn unter der Voraussetzung tadeln, er sei nach dem üblichen Maß des Dichters und Künstlers zu messen, an ihm vorbei. Wahrscheinlich schreibt Bernard Shaw oft schlechter, als es eigentlich in ihm läge, weil er den Anspruch der anderen auch in sich spürt und nun nach Lausbubenart den lästigen Belehrer durch Impertinenz zum Schweigen zu bringen sucht. Nie hat Shaw einen Stil ausgebildet im französischen, noch weniger jedoch im englischen Sinn. Auf dem Hintergrunde typischen Engländertums wirkt der Geistige — und zwar je künstlerischer er ist, desto mehr — als aus der Art geschlagen. Darum sieht er gewöhnlich auch äußerlich ebenso untypisch aus, wie Sokrates verglichen mit den artechten Hellenen. Dementsprechend ist er in der Regel kein sportsman, kein gentleman; er ist oft und gern unfair und enfant terrible in dem Verstand, dass er die Spielregeln verletzt, auf deren Befolgen — man erinnere sich an Galsworthys Loyalties — das ganze englische Gemeinschaftsleben beruht. Vor allem aber lebt der englische Geistige in einer ebenso irrealen Sonderwelt, wie der typische Engländer wirklichkeitsgerecht ist. Was hat die traditionelle Welt Oxfords, in der sich manche dons heute noch lateinisch oder griechisch unterhalten und dabei spätrömische oder alexandrinische Journalisten zitieren, als handele es sich um Henry Wickham Steed, mit dem politischen England zu tun? Dass das Oxforder Milieu trotzdem noch heute die hohe Schule des englischen Staatslenkertums darstellt, beweist nur dies, wie wenig es darauf ankommt, dass Schulen den Menschen unmittelbar auf sein späteres Berufsleben vorbereiten, und wie zeitlos bildend antiker und mittelalterlicher Geist als solche sind. Alles echt-englische Schriftstellertum nun lebt in ähnlicher Sonderwelt. Dem Außenstehenden fällt es zunächst schwer, zu verstehen, was englische Essays und speziell Kritiken überhaupt sollen: so phantastisch ungegenständlich sind sie. Doch auch der realistischeste Roman ist aus der Distanz der Lebensfremdheit heraus geschrieben — woraus sich, gar nicht paradoxaler Weise, in jedem bedeutenden Fall gerade Lebensgerechtigkeit ergibt: so konnten die Briten bisher Indien gerade darum beherrschen, weil sie es aus unermeßlicher Distanz heraus betrachteten und behandelten. Seinen Höhepunkt erreicht der englische Irrealismus, wenn in eines Schriftstellers Adern das traumschwangere Blut des Iren strömt; daher das besonders Eindrucksvolle und vom Standpunkt des nicht-Briten besonders Englische der betreffenden Literatur. 1903 und 1904 verkehrte ich viel im Hause von William Butler Yeats, dessen greulicher Whisky mich oft beinahe vergiftete, und nahm sogar an Leseproben gaelischer Stücke teil (wobei ich mich recht gut angestellt haben soll, obschon ich kein Wort verstand). Er war damals gerade von einer Reise aus Amerika heimgekehrt. Der Maler Ricketts fragte ihn:

Nun, wie war es denn drüben? Oh, herrlich! Amerika ist Arkadien. — ??? — Ja, dort ist jedermann ein Dichter und niemand denkt an Geschäfte. — Wo waren Sie denn? — Nur in New York und Chicago.

Yeats fehlten Humor und Ironie, er meinte es bitter ernst. Aber er lebte unbeirrbar in seinem höchsteigenen Reich, und darum besonders wurde er schon damals von allen englischen Geist-Verehrern so vorbehaltlos anerkannt. Bernard Shaw nun ist in einem ähnlichen Sinne der Thersites des anglo-irischen Geisttums, wie Tolstoi der Thersites des russischen Barstwo war. Er will gerade nicht fastidious sein, in keinem Elfenbeinturme leben, nicht geistige Kategorien gelten lassen. Doch indem er alle üblichen Zusammenhänge auf den Kopf stellt, wirkt er auf eine besondere Art nur desto eindrucksvoller als Anglo-Ire. Shaws Welt ist noch imaginärer und imaginativer als diejenige anderer Dichter, seine innere Distanz zur Wirklichkeit noch größer. Und seine literarischen Mängel wirken auf seine literarischen Landsleute als reine Herausforderung, da diese genau spüren, dass er sie absichtlich pflegt und ihre Welt genau so irrealisiert, wie sie die politische. Manchmal wirkt Bernard Shaw lebensnäher als irgend ein moderner Geist: dann hat er mit der ursprünglichen Absicht, sich auf den Kopf zu stellen, einen Luftsprung vollführt, der ihn besonders hart auf seine Füße fallen ließ.

Das letztere Bild verdeutlicht wahrscheinlich am besten den Sinn dessen, was den, welcher Bernard Shaw persönlich kennt, am reizvollsten anmutet: die vollkommene Identität des Menschen des täglichen Lebens mit dem Schriftsteller und Dichter. Shaw redet im zwanglosen Gespräche genau so, als ließe er dramatische Figuren sprechen. Nur ist er in der Unterhaltung noch mehr als in seinen Dramen Ironiker und Karikaturist. Jahrzehntelange Opposition des unbändigen Iren gegen das konventionelle England hat das enfant terrible in ihm so großgezüchtet und seine Sehnsucht, alle Schockierbaren zu schockieren, so gigantisch anwachsen lassen, dass der Künstlersinn sogar ihm, wenn er schreibt, eine noch so geringe Zurückhaltung auferlegt. Im Gespräch, wo er keinen Plan einzuhalten hat, donnert er oft ununterbrochen in der besonders reizvollen Form des Jupiter in Offenbachs Orpheus in der Unterwelt. Aus letzterer Bestimmung ergibt sich denn der Charme, den der Privatmensch Shaw vor dem Bühnendichter voraus hat. Als Schreibender meint er es eigentlich immer bitter ernst. Im Gespräch wirken Ironie, Humor und Witz ohne Zweckbestimmung.

Es ist hier nicht eigentlich meine Absicht, über Bernard Shaw einen kritischen Essay zu schreiben; das ist schon übergenug geschehen. Immerhin sei noch das Folgende bemerkt, weil Shaw allzu selten bisher verstanden worden ist. Seine Vorliebe für unverhältnismäßig lange Vorreden zu seinen Stücken, die wirklich oft das Bedeutendste an ihnen sind, ist eine der Folgen seiner ironischen Stellung zu seinem Dichtertalent. Shaw meint als ganzer Mensch und wesentlicher Geist allemal ein lebenswichtiges Problem und strebt, indem er es behandelt, direkte Einwirkung aufs Leben an. Doch sein Talent zwingt ihn zur Irrealisierung seiner Probleme auf der Bühne. Das für ihn Unbefriedigende versucht er alsdann in einer Vorrede wettzumachen, die häufig zu lang ausfällt, weil er nicht ganz gutes Gewissen dabei hat; denn natürlich fühlt er in tiefstem Herzen, dass die dichterische Transposition sein eigentlicher und bester Ausdruck ist. Seine Stücke aber sind samt und sonders Kompromisse zwischen einem leidenschaftlichen Willen zum Wirken, der Wollust der Ironie, dem Kitzel der Witzigkeit und der Eigengesetzlichkeit eines großen Dichtertalents. Nach dem Maßstabe des reinen Künstlers bemessen, ist keins von Shaws Theaterstücken vollkommen. Für sein beinahe schlechtestes halte ich sein, wie es scheint, erfolgreichstes: die Heilige Johanna. Als erstes von Shaws Dramen hatte es in England durchschlagenden Erfolg, weil es eine politische These verfocht, die sogar Briten begriffen, welche Shaw für Europas schlechteste Versteher hält. Doch da er hier mehr historisch zu betrachten, als auf die Zukunft zu wirken hatte, war er beim Schreiben nicht ganz dabei, und dieses spürt man. Wieviel dynamischer ist der Kaiser von Amerika! Wieviel (im menschlichen Verstand) bedeutsamer ist Caesar und Cleopatra, in welchem Stücke Shaw den wahrscheinlich lebenswahrsten Prototyp des überlegenen Staatsmanns geschaffen hat! Wie wunderbar plastisch bestimmen wenige kurze Situationen in Androklus und der Löwe nicht nur den spätrömischen Kaiser, sondern jeden Aristokraten, dessen Macht auf Akklamation beruht. Man gedenke hier dessen byzantinischer Abart: unbegrenzt war die Machtvollkommenheit des Basileus in der Theorie; doch applaudierte ihm das Zirkus-Publikum einmal nicht ehrlich, dann war es aus mit ihm; meist wurde er bald darauf ermordet.

Anfangs schrieb ich, tatsächlich (das heißt unabhängig von seiner Absicht) sei Shaw oft gefährlicher Utopist, in seinen höchsten Augenblicken jedoch echter Prophet. Sehr viele von Shaws Dramen tragen in der Tat den Stempel eines verderblichen Utopismus. Manche schlimme Zielsetzung und Ausdrucksform der sozialen, insbesondere der feministischen Bewegung hat Shaw und nicht H. G. Wells inspiriert, dieser Hauptschuldige an den übelsten Ausartungen der mechanistischen Zivilisation; Wells verdient dieses Urteil nämlich viel mehr als Jules Verne, der wohl die meisten modernen Erfindungen in der Phantasie vorweggenommen und dadurch technisch begabte Jungen inspiriert hat, denn Jules Verne dichtete doch immer von edler Menschlichkeit her und führte alles letztlich auf sie zurück. Wells hingegen folgt hintergrundlos dem Gefälle des konstruierenden Verstandes und wirkt gerade durch dieses sein Übelstes auf alle Seelenlosen und deshalb Seele-Feindlichen als Offenbarer. Während des zweiten Weltkriegs hat er denn auch alle Masken abgeworfen und sich für die Zerstörung aller traditionellen Kunst und Kultur erklärt. Bernard Shaw nun ist niemals in Wells’schem Verstande hintergrundlos. Sein Humor ist nur möglich als Ausdruck tiefen persönlichen Welt-Erlebens. So bedeutet Shaws Utopismus letztlich zumeist die Entgleisung eines echten Propheten. Der Prophet Shaw hat denn auch dessen bedeutendstes Drama geschrieben: Zurück zu Methusalem. Mir ist noch keiner begegnet, der dessen ganze Tiefe gewürdigt hätte; wer immer meines Wissens darüber sprach und schrieb, blieb irgendwo an Oberflächlichem oder Partiellem haften, sei dieses positiver oder negativer Art. Tatsächlich ist das, was da in witzigen Episoden und Aussprüchen verkörpert an fruchtbaren Menschheitsproblemen angesetzt, gefasst, gestellt oder angeregt wird, als schlechthin einziges Werk seit Goethes Faust mit diesem an Gehalt vergleichbar. Selbstverständlich steht es dichterisch nicht annähernd auf der Höhe des Faust, und auch dessen metaphysische und mythische Tiefe geht ihm ab. Doch man darf die Bedeutsamkeit und Leistung von Geistern nie ausschließlich nach ihrer Anlage und Grundeinstellung beurteilen. Im Reisetagebuch schrieb ich (1911) anlässlich von Tolstoi:

Es herrscht noch viel Unklarheit unter Psychologen und Ästhetikern über die verschiedenen Arten des Auffassungsvermögens. Malern wird häufig Tiefsinn zugesprochen, Philosophen malerische Anschauungskraft. Solche Urteile sind meist falsch. Wer die Erscheinung vollkommen darstellt, wie dies der große Maler und Dichter tut, bringt eben damit auch ihren geistigen Gehalt zum Ausdruck — doch seine Seele braucht nichts davon zu wissen. Wer umgekehrt den inneren Sinn erfasst, übersieht implizite die Erscheinung — aber er braucht ihrer nicht faktisch gewahr zu sein. Das interessanteste Beispiel dieser Art bietet Leo Tolstoi. Ich kenne keine tiefergreifende Darstellung des Menschenlebens als dessen Epos vom großen Franzosenkrieg, doch ich weiß, dass Tolstoi als Person jeder philosophische Tiefsinn gefehlt hat. Wie den meisten Russen (und allen noch jungen, undifferenzierten Rassen) fehlte Tolstoi die Gabe der intensiven Abstraktion, die Fähigkeit, das Besondere im Allgemeinen zusammenzufassen, welche Fähigkeit den Tiefsinn definiert. Dafür besaß er das Falkenauge des Wilden. Stellt nun einer eine Erscheinung, die er nur sieht, nicht versteht, vollkommen als solche dar, so wird der tiefsinnige Leser die Darstellung unweigerlich als tiefsinnig beurteilen — ja größere Tiefen in ihr entdecken, als bei an sich profunderen Poeten, deren Auge aber weniger scharf und unbefangen sah.

Das hier Zitierte ist ohne weiteres auf den Vergleich zwischen Goethe und Bernard Shaw zu übertragen. Shaw ist trotz alledem, worin er unter Goethe steht, viel scharfsichtiger, viel exakter, als Problemsteller viel radikaler, das heißt an der Wurzel packend, und dank seinem Humor, welcher Goethe beinahe völlig abging, ein die Spannungen und Gegensätze der Welt viel deutlicher herausarbeitender Geist. Vor allem aber ist Shaw viel menschenfreundlicher und im Sinne der Liebe tiefer. In allen menschlichen Hinsichten bedeutet Goethe eine der unerfreulicheren Erscheinungen des deutschen Idealismus. Neulich sah ich mir Iphigenie wieder einmal an und geriet in solche Empörung über die das Stück durchdringende und tragende Gesinnung, dass ich vor Schluss des letzten Akts davonlief. Jene edle Menschlichkeit, in deren Geist der König Iphigenie und Orestes ziehen ließ, wo Geringere selbstverständlich weitergeopfert wurden, ist genau die gleiche, die Nikolaus II. im trauten Kreise seiner Familie und des nächsten Hofstaats in hold-gemütvoller Friedlichkeit weiterzutändeln erlaubte, während draußen die Bauern und Arbeiter niedergeknallt wurden. Zeitlebens hat Goethe alles menschlich-Schwere ignoriert, und insofern gehört er zu Europas oberflächlicheren großen Geistern. Seine Dichtungen enthalten wunderbare, in der Weltliteratur zum Teil einzig dastehende Tiefen, aber an diesen Tiefen hatte seine Persönlichkeit kaum Teil. Er war zwar nicht bloß ein Medium von Tiefem, so wie z. B. Richard Wilhelm, aber der Dichter in ihm stellte ein von seiner persönlichen Seele in hohem Grade unabhängiges Zentrum dar. Wenigstens in seinen späteren Jahren: in seiner Jugend war das anders. Ich habe den bestimmten Eindruck, dass in der allen sichtbaren und seltsam radikalen Verwandlung des genialischen Stürmers und Drängers in einen majestätischen Pedanten irgendwelche, vielleicht durch Verdrängung zustandegekommene pathologische Verlagerungen weit tiefergreifender Art ihren augenfälligen Ausdruck gefunden haben.

Demgegenüber hat Shaws scheinbar schnoddrigster Witz echtes Wissen um das menschliche Leid zum Hintergrund und echten Willen zur Besserung des Menschenloses. Insofern steht viel mehr Prospektives in Back to Methuselah als im Faust, dessen Ausklang im Preise des Landwirts und Deichhauptmanns ohne Notwendigkeit, ohne Tiefe und ohne Liebe ist. Von Shaws Witzen aber gilt gleiches, was Goethe einmal über Lichtenberg bemerkte: Wo immer Lichtenberg einen Witz macht, liegt ein Problem vergraben. Man wird Back to Methuselah einmal, wahrscheinlich in später Zeit, wenn das Fortschrittszeitalter endgültig um ist, vielleicht nicht als Ganzes, desto sicherer jedoch in einzelne Bilder und Epigramme aufgeteilt zitieren, wie man keinen zweiten Geist des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zitieren wird. Und dann wird man auch einsehen, wie zeitlos bedeutend das einzige lehrhafte Buch ist, das Bernard Shaw geschrieben hat: sein Wegweiser für die intelligente Frau zum Sozialismus und Kapitalismus. Dessen Bedeutung hängt in keiner Weise von der Gültigkeit moderner Theorien und Weltanschauungen ab: das Entscheidende ist, dass Bernard Shaw es mit seinem Herzblut geschrieben hat; und zwar ist dieser Wegweiser das eine Werk, von welchem dies durchaus gilt; eben deshalb heißt er es sein Vermächtnis. Ich persönlich halte dieses Buch für eines der weisesten Bücher aller Zeiten. Aus reichster Lebenserfahrung, aus reiner Liebe zu den Menschen, aus leidenschaftlichem Willen zu einer besseren Welt ist hier das Buch entstanden, an dem sich der in die heutigen sozialen Wirren hineingeborene oder -gestellte Mensch zur Erkenntnis dessen durcharbeiten kann, was ihm am besten frommt. Denn als echter Weiser vertritt hier Bernard Shaw keinen Parteistandpunkt. Er schreibt aus wunderbarer Distanz, zu sich selbst sowohl als zu der Welt, auf solche Art, dass jeder sich nach der Lektüre, belehrt, desto freier fühlt, seinen eigenen Weg zu gehen. Wie alle prophetischen Bücher wendet es sich an die Zeitgenossen. Doch wie gleichfalls von allen prophetischen Büchern gilt, wird es erst dann wirklich verstanden werden, wenn deren Zeit vorüber ist. Das Menschengeschlecht ist so phantasmagorisch historisch gesinnt und antiquarisch rückwärts gewandt, dass es sogar Aktuellstes dann erst versteht, wenn es von verjährten Voraussetzungen aus begriffen werden kann. Man erinnere sich dessen, dass auch Dantes Göttliche Komödie prophetisch gemeint war, doch erst als Vergangenheitsschilderung gewirkt hat. Gleichsinnig erlebt zur Zeit, da ich dies schreibe, die Offenbarung Johannes ihre erste Hochkonjunktur ganz großen Stils.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME