Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

VI. Die Schule der Weisheit - logos spermatikós

Was ich in aphoristischen Hinweisen und Zusammenstellungen kurz und gewissermaßen grosso modo umrissen habe, scheint ein trotz aller Vielfalt und Gegensätzlichkeit im Einzelnen durchaus einheitliches und im besten Sinn der Gesundheit zusammenhängendes organisches Ganzes abzugrenzen. Das tut es auch dem lebendigen Sinne nach. Wende ich mich an diesem Punkte meiner Bekenntnisse dem eigentlichen Ziel dieses Kapitels wieder zu, nämlich die Rolle der Schule der Weisheit zu schildern im Zusammenhang meines Lebens sowohl als in dem des größeren Ganzen, dem dieses als integrierender Bestandteil zugehört, und versuche ich mir genau zu vergegenwärtigen, wie alles zustandekam, dann muss ich selber staunen darüber, auf wie wenig logische und Verstandesvorurteilen gemäße Weise dies geschehen. Buchstäblich nichts verlief oder gelang oder wurde so, wie entweder ich oder andere es erwarteten. Schon innerhalb eines Jahres nach der Gründung erwiesen sich alle konkreten Pläne, welche damals gefasst wurden, als überholt. Ab 23. November 1920 hatte ich beinahe von Tag zu Tag Situationen zu meistern (oder aber anzuerkennen, dass ich sie auf vorbedachtem Wege nicht meistern konnte!), die ich nicht vorausgesehen hatte oder die meiner Neigung nicht entsprachen. Man vergesse nicht, dass ich noch 1918 als selbstherrlicher Landedelmann gelebt und nie daran gedacht hatte, aus meiner unabhängigen Abgeschiedenheit persönlich herauszutreten. In jeder solchen mir unerwarteten und unkongenialen Situation befolgte ich nun die Regeln der Polarisation: ich stellte mich dem Lebensanspruch, der an mich herantrat, mit offener Brust, und so ergab sich von Fall zu Fall die Lösung ganz von selbst, welche einerseits meiner inneren Wahrhaftigkeit, andererseits den äußeren Umständen (zu denen mein jeweiliger empirischer Zustand mitgehörte) im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten entsprach. Dabei ließ ich meine Natur ebenso unbefangen sich selber ausleben, wie ich die Energien der Außenwelt in mich hereinließ, dessen gewiss, dass solche Rückhaltlosigkeit allein zum Heile führen könne, auch wenn es sich dem äußeren Anschein nach um glatten Misserfolg oder reines Versagen handelte und ich mir vieles verdarb, was, abstrakt geurteilt, nicht verdorben zu werden brauchte. So habe ich in jenen ersten Jahren, obgleich ich andauernd Initiative und freie Sinngebung predigte, vor allem re-agiert: nämlich aus meinem mir bis dahin unzugänglichen Innersten heraus auf Lebensansprüche, welche unabhängig von meinem Willen an mich herantraten, eben darum aber desto mehr meine Echtheit ansprachen und damit aber gezeigt, dass ich wirklich der erste Schüler der Schule der Weisheit war (mit welcher Feststellung ich, wie man sich erinnern wird, diese Sonderstudie begann). Im Kapitel Kosmopathische Seelen des ersten Bandes dieses Werks habe ich in nuce unter anderem das zum Ausdruck zu bringen versucht, was das Buch vom persönlichen Leben nach allen Richtungen ausführlich zu begründen unternahm: nämlich, dass der Mensch keine Monade, sondern eine Beziehung darstellt zwischen metaphysischem Selbst und Weltall und dass es seine Bestimmung ist, diese Beziehung, so wie sie heute (oder jeweils) ist, in eine solche höherer und immer höherer Ordnung umzuwandeln und damit über das bisherige (oder jeweilige) Menschentum hinauszuwachsen. Die Schule der Weisheit hatte ich nun von vornherein entsprechend dem, was ich in einem der ersten Hefte des Wegs zur Vollendung sinnbildliches Leben hieß1, als Sinnbild und Meditationssymbol konzipiert: was in Darmstadt im Kleinen geschah, sollte Sinn- und Vorbild für das Menschheitsstreben werden. So waren vor allem unsere großen orchestrierten Tagungen, welche eine Geistesebene oberhalb aller bisherigen bestimmten Konfessionen und Schulen und Weltanschauungen begründeten, ganz und gar als Sinnbilder und Meditationssymbole konzipiert und jedes einzelne, was ich im Geist der Schule der Weisheit sagte oder tat, verkörperte die gleiche Grundabsicht. Wobei es mir eben wegen des Sinnbildlichen im Gegensatz zum Tatsächlichen dessen, was ich herausstellen wollte, sehr wenig darauf ankam, ob der Ausdruck von vornherein vollkommen war: alles Leben beginnt in archaischer Gestaltung, und zumal jeder Pionier (vergl. das Jung-Kapitel!) kann nicht umhin, bei viel Unzulänglichem und leicht Überholbarem stehen zu bleiben. In meinem eigenen inneren Wachstum im Rahmen der Schule der Weisheit in Korrelation mit dem, was die Außenwelt mir bot oder nicht bot, worin sie mir folgte und woraufhin sie mich angriff, wo ich mein vorgestelltes Ziel erreichte und wo ich versagte, wollte ich nun das wichtigste aller Sinnbilder herausstellen: den grundsätzlichen Weg zeigen des Vorankommens im Geiste unbedingter innerer Wahrhaftigkeit bei Akzeptierung der Wirklichkeit, so wie sie wirklich ist. Dies denn erklärt alles und jedes in meiner Entwicklung und Wirkung ab 1920. Zunächst das Krampfhafte des ersten Selbst-Findens in der mir bis dahin völlig fremden Gestaltung des aktiven Impulsgebers. Dann mein fortschreitendes mir-klarer-Werden über meine eigenen tiefsten Beweggründe und Ziele sowie über meine innerlich wie äußerlich bedingten Grenzen. Meine am Widerstand und der Selbstüberwindung stetig wachsende Vitalität. Die Konflikte, in die ich wegen meiner inneren Wahrhaftigkeit schicksalsmäßig geraten musste mit allem, was ich in seiner augenblicklichen Gestaltung nicht bejahen konnte oder relativieren musste. Die Widerwärtigkeiten persönlicher Art, die mein persönliches Anderssein mir unabänderlich eintrug und die ich gleichfalls auf Grund meines Imperativs der inneren Wahrhaftigkeit in Anbetracht dessen, dass ich sinnbildlich zu leben hatte, nicht im üblichen Sinn durch Kompromiss beilegen durfte. Mein Stellung-nehmen-Müssen zu allem und jedem, was eigentlich niemand verstand, denn wohl wenige wurden je so sehr von schlechthin allem affiziert, was im Weltall vorging. Andererseits wiederum mein in-der-Schwebe-Halten von Fragen, Zuständen und Situationen, die nach Ansicht der meisten sofortige klare Entscheidung erfordert hätten: will man einen Gesamtzustand ändern, in sich oder außer sich, dann darf man keine Einzelfragen außer dem Zusammenhange lösen, dann muss man durch Aushalten von Spannungen und konsequente Betonung des Erwünschten bei vorausgesetzter Unlösbarkeit des Problems auf der gegebenen Ebene und im jeweiligen Augenblick eine Gesamtänderung herbeiführen; es handelt sich um das Gleiche, was ich im Kapitel Lektüre und Meditation der Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit ausführlich dargelegt habe — nur indem man sich mit Fremden nicht auseinandersetzt und sich ohne Stellung zu nehmen seinem Einfluss aussetzt, wird dasselbe gefördert; ähnliches bedeutet Lao Tses Motto Wirken ohne zu streiten. — Endlich die stetige Metamorphose, welche die Schule der Weisheit von Jahr zu Jahr erlebte und vor allem die Tatsache, dass die meisten derer, die den Sinn meines Wirkens verstanden, mir seit 1920 treu geblieben und mit mir gegangen sind. 1927 fand die letzte jener großen Weisheitstagungen statt, welche bis dahin die Hauptattraktion von Darmstadt bedeutet hatten. Die darauf bis 1930 folgenden Lehrtagungen waren ein offenbarer Misserfolg. Dann konnte jahrelang nichts sichtbarlich geschehen: nur ein Heft Weg zur Vollendung kam alljährlich als Manuskript gedruckt heraus und die Beziehung zu meinem Mitglieder- und Schülerkreis beschränkte sich auf Privatbesuche bei mir und sporadische Korrespondenz. Nichtsdestoweniger ist die Zahl derer, die an der von Darmstadt inspirierten Bewegung teilhatten, im Lauf der Jahre eher gewachsen als geschrumpft, immer besser wurde von immer wesentlicheren Menschen verstanden, worum es mir eigentlich ging und dass eben auf das Sinnbild Schule der Weisheit alles ankam. Darüber hinaus aber strahlte ihre Wirkung, seitdem es englische, französische und spanische Ausgaben ihrer Standard-Bücher gab, auf eine Weise aus, wie ich sie bei meinen Lebzeiten nie zu erhoffen gewagt hatte. Fast schien es, als bedingte es das Gesetz des natürlichen Wirkungskreises2, dass ich aus großer Entfernung leichter richtig gesehen und besser verstanden wurde, als aus der Nähe. Wohin ich später kam, nach Spanien, Frankreich, Südamerika, zum Teil sogar Nordamerika, fand ich die mühsam geschaffene Darmstädter Atmosphäre vor und konnte so von vornherein unbehindert wirken. Selbstverständlich wurde ich proportional der positiven Wirkung des Impulses, den ich vertrat, auch immer heftiger angegriffen: aber nichts fördert die positive Wirkung mehr als eben das Angegriffenwerden, nichts beeinträchtigt diese mehr als unbestrittener Erfolg. Was aber das Missverstandenwerden betrifft, so schrieb ich darüber in der Vorrede zur französischen Ausgabe des Reisetagebuchs (ich zitiere aus dem Gedächtnis): Das Missverständnis ist die erste legitime Verkörperung jeder akzeptierten neuen Wahrheit. Tatsächlich verdanke ich meinen Gegnern viel viel mehr, als all denen meiner Freunde und Anhänger, welche nicht mutig im Kampfe für mich eintraten, so wie den unzähligen Neutralen, welche sich dadurch überlegen zu erweisen glauben, dass sie jedermann verstehen und jedem mit Einschränkungen recht geben. Diese Art Verstehen taugt gar nichts; verstehen kann jeder, der kein Vollidiot ist, schlechthin alles, da alles kausal zusammenhängt, besonders Schweinerei und Niedertracht. Aber wer alles auf gleicher Ebene betrachtet, die Vertikale der Rang- und Wert-Ordnung nicht primär bemerkt, der sieht das Wesentliche nicht. Den bekannten Stoßseufzer Gott schütze mich vor meinen Freunden etc. habe ich am häufigsten im Gedenken an diese Verstehenden ausgestoßen, deren wahre Absicht meist dabei herauskam, dass sie ausgerechnet die Bedenken öffentlich äußerten und breittraten, die mir in der jeweiligen Situation am meisten schaden konnten. Es gibt Lagen, in denen gerade Verstehen im großen Zusammenhang Krieg oder Hinrichtung fordert. Wäre es anders, kein Volk hätte sich den allwissenden Gott als Richter vorgestellt. Doch das größte handicap auf meinem Wege ist die Tatsache gewesen, dass ich zeitweilig modern war und als Modephilosoph etikettiert werden konnte. Immerhin habe ich auch dieses Missgeschick dadurch zum Guten gewendet, dass ich alles, was ein auf Missverständnis beruhendes positives Vorurteil gegen mich förderte, konsequent zerstörte und dergestalt immer neue Spannungen schuf, an denen mein Sein und das, was es geistig sollte und wollte, erstarken konnte. Ich glaube, das Gesagte genügt, um klarzumachen, wie sehr die Schule der Weisheit einerseits von vornherein als Sinnbild gemeint war und inwiefern sie gemäß dem Prinzip pars pro toto tatsächlich mein ganzes Streben ab 1920 repräsentierte und heute noch repräsentiert, andererseits von vornherein als Brennpunkt gedacht war, welcher Strahlen sammelt und aussendet und auch als solcher gewirkt hat.

Vergleiche ich nun aber aus dem Abstand, den ich in meinen sechziger Jahren gewonnen habe, mein Leben seit meiner Übersiedlung nach Darmstadt mit den vorhergehenden vierzig Jahren, dann wundere ich mich nicht mehr, dass so Viele, besonders unter denen, die mich von früher her kannten, befremdet waren und blieben. Denn dieses spätere Leben hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit meinem früheren, wo ich als Geist völlig unbeteiligter Zuschauer und als Mensch ein besonders eigenwilliger Landedelmann war, es war durchaus Schau-Spiel im Sinne dessen, wie ich diesen Begriff im Schlusskapitel Divina Commedia der Südamerikanischen Meditationen bestimmt habe. Ich lebte jetzt ausschließlich aus dem Geist heraus, nur mehr auf Sinnbildhaftigkeit und Stilgerechtigkeit kam es mir an; die Tatsachen als solche berücksichtigte ich so wenig, ja ich sprang häufig dermaßen rücksichtslos mit ihnen um, dass die Stetigkeit der Linie, die ich, zur Zeit da ich dieses schreibe, schon vierundzwanzig Jahre eingehalten habe, äußerlich geurteilt, wie mir scheint, mehr dem Glück des nachtwandelnden Seiltänzers als meiner Einsicht zuzuschreiben ist. Was man so gesunden Menschenverstand heißt habe ich in dieser Zeit am wenigsten bewiesen. Aber dieses Glück scheint auch in meinem Falle eine Tugend gewesen zu sein, wie dies die Antike von allem Glück vorstellte: die Natur hat es sichtlich gern, von schöpferischer Phantasie in ihr ursprünglich nicht zugehörige Zusammenhänge hineinbezogen und von diesen her vergewaltigt zu werden. Ist solches einmal sinngerecht erfolgt, dann bleibt sie dem Vergewaltiger auch treu, so lange dieser sich selber treu bleibt. Meine Laufbahn scheint mir ein für alle Mal bewiesen zu haben, dass Dichtung mittels des realen Lebens genau so möglich ist, wie Dichtung mittels des Worts, der Farben und Töne. Aus dieser Erfahrung heraus habe ich die Theorie des Lebens als Kunst in die Welt gesetzt, die der Leser in Sur l’art de la Vie und im Buch vom persönlichen Leben in abstracto entwickelt findet und von denen der letzte Teil des Kapitels Dichter und Zwischenreichskünstler des ersten Bandes dieses Werks in persönlicherem Zusammenhang gehandelt hat. Die Schule der Weisheit und was mit ihr zusammenhängt gehört ganz und gar der Ebene des Lebens als Kunst an. Was aber nicht bedeutet, dass sie Unwirkliches vertreten hätte und vertritt, sondern, dass sie tieferen Geist und damit das Wirklichste, was es gibt, dem Natur-Leben eingebildet hat und einbildet.

Viele weitere Einzelheiten über mein Wirken in diesem Rahmen hatte ich in zwei früheren Fassungen dieses Kapitels ausgearbeitet. Zuletzt habe ich mich entschlossen, es bei dem Gesagten bewenden zu lassen — außer in bezug auf einen Punkt. Schon 1921 sagte mir Richard Wilhelm:

Es ist geradezu amüsant: überall in Deutschland stößt man nicht allein auf Ihre Gedanken, sondern sogar auf Ihre Ausdrucksweise; und am meisten abhängig von Ihnen sind Ihre zahllosen Gegner, die meist mit von Ihnen entlehnten Waffen gegen Sie kämpfen. Aber zitiert werden Sie dabei seltener als irgend jemand.

Einmal aufmerksam gemacht, musste ich Richard Wilhelm immer mehr recht geben. In den Jahren 1920-1927, in denen nicht allein zahllose Menschen zu mir nach Darmstadt strömten, sondern wo ich ein Gutteil des Jahres auf Vortragsreisen im gesamten deutschen Sprachgebiet verbrachte (von da ab bis 1936 wirkte ich mehr im Ausland, wo ich dann genau gleiches erlebte), bei welcher Gelegenheit ich nicht allein vom Podium her redete, sondern mich auch ganze Nächte hindurch über alle nur möglichen Themen, auf die hin ich angesprochen wurde, in jeder Stadt mit Hunderten unterhielt, wobei unvermeidlicherweise so ziemlich alles zur Sprache kam was überhaupt von Interesse war — in jenen Jahren habe ich verschwenderisch ausgeschüttet, was immer mir an Positivem einfiel; so war ich wohl der erste, der, schon 1920 in Berlin, vor einem Publikum, das zum größeren Teile aus Bankiers bestand, die allgemeinen Ideen verlautbarte, welche der späteren neuen goldlosen Wirtschaft zugrundeliegen, der Erfinder der Rede und Tagung als Mittel der Menschengestaltung im ganz Großen, der erste exakte Bestimmer der Bedeutung des rechten Wortes in der Politik (und damit der Grundlage aller guten Propaganda), sowie von deren geistigen Hintergründen überhaupt3. Von mir stammt die erste grundsätzliche Zusammenschau von Sinneserfassung und Realpolitik, die erste Erkenntnis des Sinnes der Bewegung4 und der symbolischen Handlung in der Politik. Ich war der erste Mensch bekannten Namens, der den Tag der Unterschrift des Friedens von Versailles als Beginn des Neuaufstiegs Deutschlands hinstellte5. Ich bin nun einmal so organisiert, dass auf jeden Reiz bei mir augenblicklich die mir gemäße Antwort erfolgt, genau wie mir, der ich in meinem Oberbewusstsein so gut wie ohne Gedächtnis bin — so dass ich insofern, gleich amerikanischen Geschäftsleuten, allezeit a clean table vor mir habe — augenblicklich das aus der Vergessenheit heraus wieder einfällt, was ich zum Schaffen benötige, woraufhin viele mir fälschlicherweise ein besonders gutes Gedächtnis zuschreiben. So werden tatsächlich wohl mehr Anregungen — selbstverständlich sehr verschiedenen Wertes — von mir ausgegangen sein, wie von den meisten und jedenfalls allen weniger mündlichen Geistern. Aber zitiert wurde und werde ich, noch einmal, selten oder nie. Schon wenige Jahre nach erfolgter Gründung der Schule der Weisheit ging dies Ignorieren und Ausnützen so weit, dass ich, um den lieben Leuten, die sehr oft meine aufrichtigen Freunde oder Schüler waren, ihr etwaiges schlechtes Gewissen zu nehmen, den Witz verbreiten ließ: Ich autorisiere das Plagiat, aber ich verbiete das Zitat. Aber nachdem mich Richard Wilhelm einmal auf den Tatbestand aufmerksam gemacht hatte, begann ich über den Sinn desselben nachzudenken und erkannte dann bald, dass er mit dem Sinn des Satzes des römischen Rechtes zusammenfällt: pater nunquam certus est. Ich bin als Geist, jedenfalls war ich es in meiner Darmstädter Periode, wesentlich Befruchter und nicht Gebärer. Inwiefern es überhaupt in diesem Sinne zwei komplementäre geistige Grundtypen gibt, die sich wie Vater und Mutter zueinander verhalten, verschiedene Funktionen ausüben und in ihrem Wirken einen grundverschiedenen Stil nicht nur haben, sondern haben müssen, habe ich dann später (1926) genau verstanden und in den zwei zusammenhängenden Kapiteln Jesus der Magier von Menschen als Sinnbilder und Geisteskindschaft von Wiedergeburt sowie zuletzt im Kapitel Inspiration und Erziehung der Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit ausführlich auseinandergesetzt, auf welche Auseinandersetzung ich alles Nähere und Weitere betreffend hiermit verweise. Doch lange bevor ich den genauen Tatbestand in abstracto fassen konnte, handelte ich bewusst in seinem Sinn. Ich stilisierte mein Wirken im Rahmen der Schule der Weisheit von vornherein und von Jahr zu Jahr immer mehr und schließlich ganz im Geist des logos spermatikós. Immer bewusster stellte ich mich auf ausschließliches Impulsgebertum ein und gerade dank dieser Selbstbescheidung habe ich auf allen Gebieten und unter allen Völkern, die ich besuchte, befruchtende Impulse austeilen können. Eben darum hat die Schule der Weisheit nicht verloren, sondern im Gegenteil an Wirkungskraft gewonnen, je ausschließlicher sie sich auf Intensität im Gegensatz zur Extension, auf blitzartige Anregung im Gegensatz zu Ausarbeitung einstellte. Eben darum aber wissen nicht allein sehr viele ihrer unzweifelhaften Kinder nicht, wer ihr Vater ist — die Kinder sehen ach! nur zu häufig sehr anders aus, als es der Vater wünschen mochte. Im Sinne sichtbar-irdischer Verkörperung kommt es eben auf allen Ebenen mehr auf die Mutter als auf den Vater an.

Aber mein nicht-Zitiertwerden hat noch einen anderen, tieferen Aspekt und dieses sei hier in den Worten der Freifrau Eleonore von Dungern gedacht, die mich unter Deutschen bisher wohl am tiefsten verstanden hat; sie schrieb mir nach Lektüre des Vorhergehenden, und hierüber zu schreiben ist in den Worten eines anderen leichter, zumal ich für mich dieses Aspektes kaum gewahr worden wäre:

Wenn Sie einen Vortrag gehalten hatten, dann war es immer sehr schwer, Genaues über dessen direkte Wirkung zu sagen. Ich glaube, Sie berühren die Menschen selten auf direktem Wege, sondern meist auf dem Umwege über das Überpersönliche. Wenn Sie zu einem größeren Kreis, besonders in der Öffentlichkeit, reden, dann ist es oft, als gingen Ihre Gedanken und Strahlungen über die Menschen hinweg in das Überpersönliche hinein, in das Kollektive Überpersönliche Ihrer Zuhörer, an dem aber jeder persönlich teilhat. Oder mit anderen Worten: Ihre Gedanken dringen nicht direkt in das Zwischenreich, sondern sie verbinden sich mit dem Überpersönlichen Ihrer Hörer und erst aus dieser Ebene, wie aus dem Unbewussten kommend, fallen sie wie Tropfen in das Innere der Menschen. Die starken Depressionen, die Sie nach jedem Vortrag hatten, waren vielleicht nicht nur Reaktion Ihres starken Gebens, sondern auch Auswirkungen dieses Vorgangs: Sie fühlten sicher selbst das Indirekte Ihres Kontaktes mit den Hörern. Nun macht ja Schenken und Geben immer reicher als Nehmen und Geben ist sicherlich diejenige Form menschlichen Verkehrs, die Ihrer imperialen Natur aus Tiefstem entspricht. Und dennoch könnte man auf Grund des vorhin Angedeuteten auch von einem tragischen Aspekte schöpferischer Geisteskraft sprechen. Die allerwenigsten ahnen, wie viel sie von Ihnen genommen haben. Trotzdem alles, was Sie geben, seine Wurzeln in Ihrem Menschentum hat, gaben Sie bisher immer in Form des freien Geistes. Kommen Ihre Gedanken aus der überpersönlichen Ebene zu den Menschen zurück, so meinen diese, einen eigenen Einfall gehabt zu haben.
Man könnte Oscar A. H. Schmitzens Wort, Sie seien selbst Ihr bester Schüler, dahin abwandeln, Sie seien auch der beste Zuhörer der Schule gewesen: Hörer dessen, was Ihnen das Überpersönliche im Rahmen der Schule der Weisheit zu sagen hatte, deren Tagungen Ihnen den schönsten Boden für Ihre Unterhaltungen mit dem Überpersönlichen gaben.
1 Dieser Aufsatz steht in der Anmerkung S. 661 des Buchs vom persönlichen Leben wieder abgedruckt.
2 Vgl. das betreffende Kapitel von Wiedergeburt und dessen Zusammenfassung in Kosmopathische Seelen.
3 Vgl. den in Schöpferische Erkenntnis abgedruckten Tagungszyklus des Jahres 1922 Die Symbolik der Geschichte — Politik und Weisheit — Weltüberlegenheit.
4 s. Spannung und Rhythmus.
5 Vgl. meinen Aufsatz zum Tage der Friedensunterzeichnung in Politik, Wirtschaft, Weisheit.
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
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