Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

VIII. Besitzende und Besitzlose - Selbstverständlichkeit

Doch genug der Wunschbilder. In diesem Kapitel möchte ich auch von der eingehenderen Behandlung sozial-politischer Probleme absehen. Denen gedenke ich mich erst im dritten Bande zuzuwenden, den ich natürlich dann erst vollenden kann, nachdem ich genügend Abstand zum zweiten Weltkrieg gewonnen habe und die Resultanten der zahllosen Komponenten der Weltrevolution einigermaßen übersehen kann. Hier möchte ich zunächst noch einen anderen Aspekt des Problems behandeln, wieso ich so spät erst die Bedeutung von Besitz und Reichtum einzusehen begann. Wenn mir Verschiedenes deutlich geworden ist, was Nationalökonomen und Soziologen meines Wissens kaum oder gar nicht bemerkt haben, so liegt das daran, dass der allein wirklich, als Realisierender, wissen kann, was Besitz bedeutet, welcher ihn als ihm organisch zugehörig kannte und alsdann verlor. Genau so realisiert erst der Entrechtete die volle Bedeutung der Gerechtigkeit. Aller Fortschritt dem Geiste zu kommt insofern nicht vom nicht-Haben, sondern vom nicht-mehr-Haben her. Was man nie gekannt hat, kann man nie wirklich verstehen. Darum haben solche, die traditionell keinen Besitz kannten, von sich aus noch nie eine vernünftige ökonomische Ordnung herbeigeführt. (Genau so rührt die schauerliche Wohn-Ordnung Sowjet-Russlands, welche ursprünglich keiner Familie auch nur ein einziges Zimmer für sich allein zusprach, daher, dass die Führer der bolschewistischen Revolution größeren Comfort als den einer Gefängniszelle oder ärmlichsten Emigrantendaseins nie gekannt hatten. Von hier aus ersieht man sehr deutlich, wie wichtig es ist, dass Typen von hohen Lebensansprüchen bestimmend an der Spitze stehen; darum wird von Königen instinktiv ein prunkvolles Leben verlangt.) Deswegen hat auch die Beamtenklasse als solche, deren überwältigende Mehrheit von jeher nicht besitzlich war, dem realen Verhältnis des Menschen zur Erde, auf welchem Gebiet auch immer, nie Rechnung zu tragen gewusst. Andererseits ist der, welcher hat, außer in Ausnahmefällen, meist so zufrieden, dass er keine Änderung wünscht. Daher, noch einmal, die ungeheure Kulturbedeutung des Verloren-Habens. Dies gilt sogar auf dem Gebiet des Wissens und Verstehens. Nicht dass er im Unterschied von den übrigen Athenern nichts wusste, wie er es selber behauptete, machte Sokrates zum Bahnbrecher, sondern dass er subjektiv nicht mehr wusste. Alle übrigen verantwortungsbewussten Athener waren noch im Besitze ihrer Wahrheit, gleichviel was diese objektiv wert war; der Weg zum objektiven Wissen geht allemal vom nicht-mehr aus, denn Verlorenes wieder gewinnen kann man allein im Geiste objektiver Wahrheit. So steht es mit der Wissenschaft heute noch. Von hier aus ließe sich allerhand und sehr Gewichtiges gegen Eroberung, Sieg und angeborene unerschütterte Vorzugsstellung sagen, was ich aber meinen Lesern überlassen möchte. Nur so viel zur Einführung in das, was hier weiter zu sagen wäre: sicher haben die Menschen darum so blutwenig aus der Geschichte gelernt, weil alle Überlieferung mit der einzigen Ausnahme derjenigen der biblischen Geschichte von Siegern herrührt. Nur darum hat sie allein in unserem Kulturkreise tief gewirkt; sie allein ist im buchstäblichen Verstande des Wortes beherzigt worden. Jeden Erfolg und jedes Glück sieht der Mensch, der insofern das undankbare Tier ist, nach kurzer Zeit als selbstverständlich an. Das Selbstverständliche aber bemerkt er nicht und unwillkürlich ignoriert er, was ihm seinen Selbstverständlichkeitscharakter rauben könnte. So habe ich seinerzeit einfach nicht bemerkt, dass ich Besitzer war. So konnte ich dazumal und beinahe drei Jahrzehnte nachher das Positive desselben überhaupt nicht sehen und sympathisierte innerlich mit Veränderungen, die meine Existenz vernichten mussten — nicht anders wie der französische und der russische Adel vor den großen Revolutionen ihrer Länder — weil ich hier wenigstens Probleme gewahrte; eben darum ging die Initiative für fast alle Reformen auf Erden nicht auf Bedrückte, sondern auf mit diesen sympathisierende Bevorrechtete zurück.

Hiermit gelange ich denn zur Betrachtung zweier Zusammenhänge, welche die Grundlagen aller festen Ordnung sind. Deren erster ist der Primat des Selbstverständlichen gegenüber dem Problematischen. Die Bedeutung der Selbstverständlichkeit habe ich noch nie und nirgends genügend gewürdigt gefunden; kein Wunder, denn jeder Forscher und Denker sieht eben primär Probleme und kann darum weniger als der Problemlose des Selbstverständlichen gewahr werden. Dass dem so ist, beweist allein schon die absurde Forderung einer voraussetzungslosen Wissenschaft. — In Wahrheit liegen nun die Dinge so, dass der Ausgangspunkt des Lebens, auf welcher Ebene immer, das nicht in Frage Gestellte und damit das Selbstverständliche ist. Für die Gana gibt es überhaupt keine Probleme und jeder Mensch als Erdwesen lebt ursprünglich aus deren Nomos heraus. Auf der Ebene spirituellen Lebens gilt gleiches wieder vom Glauben oder vom Wissen des nicht mehr Verstehbaren, welches höher ist als alle Vernunft. Nur wo ein Tatbestand nicht Ausgangspunkt oder letzte Instanz ist, nur wo Durchdringung desselben durch Verstand und Vernunft und Veränderung desselben mittels ihrer möglich ist oder doch denkbar, stellen sich Probleme. Womit erwiesen ist, wie sehr eng und klein das Reich des nicht-Selbstverständlichen sogar beim problematischen Tier, beim Menschen ist. Darum gilt im Zusammenhang der Thematik dieses Kapitels an erster Stelle dies: jeder sein Leben beginnende Mensch bejaht sein Horoskop und damit sein bestimmtes Da- und Sosein, welcher Art immer dieses sei. Das früh Gewohnte bleibt dem Unbewussten der Allermeisten der eigentlich normale Lebensrahmen. Bestimmte Geborenheit und Gewohnheit bedeuten darum mehr, als alles, was Verstand als wünschenswert konstruieren mag. Dank dem allein können Menschen in beliebiger Lebenslage zufrieden sein; dank dem allein werden widrigste Umstände und schwerste Zeiten ertragen. Dies geht so weit, dass auch der als Sklave Geborene ursprünglich Sklave bleiben will; ein anderes Dasein kann er sich als ihm gemäß nicht vorstellen. Wer hiergegen das Rebellieren revolutionierter Massen gegen die bestehende Ordnung anführt, vergisst einerseits, dass die Unzufriedenheit allemal von Älteren in die Welt gesät wurde, die sich einem in späteren Jahren erlebten Wechsel nicht mehr anpassen konnten, wie z. B. im Falle der Handarbeiter inbezug auf die eben erst eingeführte Maschine, und andererseits, dass Unsicherheit, Gefährdung und Kampf von Menschen, welche in diese Situation hineingeboren wurden, genau ebenso als Selbstverständlichkeiten erlebt werden, wie ein bestimmter statischer Gleichgewichtszustand von in diesen Hineingeborenen. Daher die Tatsache, dass Menschen sich einerseits in unverrückbaren statischen Gleichgewichtszuständen wohl gefühlt haben und genau ebenso in labilen, wie solches im Fortschrittszeitalter normal geworden ist. Daher die psychologische Möglichkeit der offenbar absurden Forderung der Revolution in Permanenz, welche nicht erst die Bolschewisten gestellt haben; daher die eines unaufhörlichen Kriegszustandes, welchen ganze Stämme jahrhundertelang als einzig mögliche Lebensgrundlage anerkannt haben. Auch unter Menschen gibt es geborene Sturmvögel, Raubtiere und Totengräberkäfer. Solche finden sich in Zeiten des Rechts, der festen Ordnung, des Friedens und des allein positiv bewerteten Aufbaus schwer wenn überhaupt hinein; sie verderben in ihnen, wie andere in Kriegs- und Revolutionszeiten. Die Phänomenologie bewegter Zeiten ändert darum gar nichts an der Grund-Lage des hier behandelten Problems. Auch dass die soziale Frage und die Forderung steigenden Wohlstandes für alle so gestellt wird, wie dies heute als einzig möglich gilt, ist eine Frage der Hineingeborenheit und der Gewohnheit. Während der längsten Zeit der Menschengeschichte kamen die Armen und Unterdrückten überhaupt nicht darauf, dass ihr Zustand gebessert werden könnte, und Gleichsinniges galt mutatis mutandis von den Bevorrechteten. In Zeiten stabilen Gleichgewichts hat jeder Stand seine besonderen Lebensansprüche, die er gar nicht verändern will, und die ihm auch von den anderen Ständen als berechtigt zugestanden werden. Die Wünsche der Teile von sich, welche innerhalb seiner gegebenen Lebenslage nicht befriedigt werden können, lebt ein stabilen Verhältnissen eingeordneter Mensch in der Projektion auf andere aus: er freut sich am höheren Lebensstandard der Hochgestellten, ja er verlangt um seiner selbst willen dessen Einhaltung. Umgekehrt leben Reiche ihren Trieb zum nicht-Haben an realen Armen aus. Wie viele reiche Damen beneiden ehrlich arme Künstler, die sie protegieren! Eben hier liegt eine Wurzel der Sympathie Privilegierter mit ihre Vorrechte bekämpfenden Revolutionären. Ja auch in beweglichen Zeiten, in welchen sinnbildlich gesprochen, jeder Musketier den Marschallstab in seinem Tornister trägt, gibt es unzählige Menschen, welche im Ausleben von Wünschen, die nicht ihrem angeborenen oder gewohnten Lebensrahmen entsprechen im Bilde anderer mehr Befriedigung finden, als wenn sie persönlich in bessere und höhere Lagen versetzt werden: alles Erleben geht eben von der Vorstellung aus und das ihm selbst nicht ursprünglich Angemessene vermag der Normalmensch im Bilde anderer leichter zu realisieren als an sich selbst. Wie der an die Gottgewolltheit verschiedener Stände Gewohnte sich am Glanz der Könige und den Stolz des Adels, stand er selbst noch so niedrig, freute anstatt diejenigen zu beneiden, welche die englische Sprache heute noch so sinngerecht his betters heißt, so lebt der moderne Massenmensch das, was er an Lebensglück persönlich nicht erringen kann, real in der Projektion auf Filmstars und -divas aus. Eine Standesordnung ist vollkommen, wo die Menschen an höheren und niederen Rang aufrichtig glauben und damit an verschiedenes Recht. In diesem Verstand bedeutet in monarchisch gesinnten Zeiten sichtbarlich königliches Leben am Hof den Untertanen eine innere Notwendigkeit, finden gläubige Katholiken es heute noch selbstverständlich, dass das Verhältnis der Mutter Gottes zum Jesuskind von ganz anderer Bedeutung ist, als die normale Mutter-Kind-Beziehung, wobei die Existenz jenes diese heiligt.

Das hier an einigen Beispielen, welche jeder für sich beliebig vermehren mag, Festgestellte gilt nun in höchstem Maß vom Verhältnis des Besitzenden zum nicht-Besitzenden. Hiermit gelange ich zum zweiten wichtigen Zusammenhang, den ich in diesem Abschnitte behandeln wollte. Besitz wird ursprünglich nicht bekämpft oder beneidet, sondern als recht eigentlich heiliges Recht anerkannt. Darüber hinaus nun wird der Reiche ursprünglich und normalerweise nicht gehasst, sondern geliebt. Das erste, was mir 1912 in den Vereinigten Staaten Nordamerikas auffiel — und bei meinem zweiten Besuche dieses Landes im Jahre 1928 lagen die Dinge noch fast ebenso — war dies, dass es dort überhaupt keinen spürbaren Neid gab gegenüber Reicheren. Ganz spontan wurde dort der Reiche als großer Mann und selbstverständlicher Wohltäter verehrt. Dieser in Europa seit Marx beinahe unbekannt gewordene Umstand beweist durchaus nicht materialistische Gesinnung, sondern Ursprünglichkeit und Naivität. Dort gilt der im modernen Sinne Reiche genau so viel, wie der Besitzer ursprünglich überall. Ursprünglich setzt der Mensch voraus, dass der Besitzende der Hochherzige, Großmütige und Freigebige ist, aus seiner Fülle heraus am liebsten schenkt und keinesfalls weniger Glückliche ausnutzt. In der Wüste von Algerien besuchte ich einen allerseits verehrten Marabou. Was es im Umkreise vieler Hunderte von Kilometern überhaupt an Besitz und Reichtum gab, gehörte ihm. Aber keiner der Beduinen, der in seinem Machtbereiche lebte, missgönnte ihm das. Dafür nahmen ganze Stämme in schlechten Zeiten selbstverständlich das Recht für sich in Anspruch, bis zum Anbruch besserer als seine Gäste zu leben, und ebenso selbstverständlich erkannte der Marabou diesen Anspruch an. Sehr ähnlich lagen die Verhältnisse in ganz Europa in der Zeit, da die Feudalordnung den seelischen Wirklichkeiten entsprach. (Noch unser baltisches Grundherrentum, das ich persönlich erlebt und gelebt habe und dessen anerkannte Stellung beruhte darauf, dass wir einerseits wohl die Besitzenden, aber eben darum die Verantwortenden und Schenkenden waren — unsere ganze Regierungs-, Richter- und Verwaltungsarbeit erfolgte ehrenamtlich — und dass wir keine Geschäfte auf Kosten kleiner Leute machten.) So erklärt es sich, dass die Besitzenden der ganzen Welt ursprünglich als die besseren Menschen gelten. Unwillkürlich wird vorausgesetzt, dass sie in der Schenk-Ordnung stehen. Das Schenken aber setzt ein Haben voraus. Insofern überall das Sein in Form von Haben erlebt wird, gibt es niemand, der nicht bei genügender Geistbestimmtheit in der Schenk-Ordnung stehen könnte. Aber die Urform des Habens und die darum jedermann einleuchtende ist die materiellen Besitzes, der darum ursprünglich als Begnadung empfunden wird. Die Puritaner mit ihrer Theorie der Gnadenwahl und ihrem Glauben, dass Erfolg spirituell bedeutsam sei, haben nur ursprünglich Allgemeingültiges überspitzt und in eine falsche Form gebracht, so dass Positives in Negatives umschlagen musste. Auf ihren Geist als den der Väter des psychologischen Kapitalismus — auf die seelischen Voraussetzungen, nicht auf die Tatsachen kommt es an — ist es zurückzuführen, dass die Liebe zum Reichen in Neid und Hass umschlagen konnte und Marxens hämische Ideen so phantastische Bereitschaft fanden. Aber blicken wir unbefangen um uns und vergessen wir eine Weile die Verschiebung der ursprünglichen Verhältnisse durch die Revolutionen und sozialen Kämpfe dieser Zeit. Genießt nicht der Reiche ganz selbstverständlich mehr Ansehen als der Arme? Warum würden sich so viele Arme ihrer Armut schämen, was doch spirituell wie rational gleich widersinnig erscheint, warum wollten die seit dem Aufbegehren des vierten Standes unaufhaltsam aufsteigenden Besitzlosen vor allem nichts geschenkt bekommen, lieber als Ware behandelt als patriarchalisch betreut werden, warum drängten sie insbesondere auf Trinkgeldablösung, wenn dem anders wäre? Will nicht jeder nicht gegen eine soziale Ordnung Rebellierende ganz selbstverständlich des Reichen Gunst gewinnen, setzt nicht jeder instinktiv den Willen zum Schenken bei ihm voraus, fühlt sich nicht jeder geneigt, dem Reichen das Gute zu vergelten, das er vielleicht gar nicht getan hat, aber tun könnte? Die seelischen Urbereitschaften dem Reichen gegenüber sind eben nach wie vor Ehrerbietung und Dankbarkeit. Und eben weil dem so ist, setzt sich das Ursprüngliche auch in modernsten Verhältnissen immer wieder durch. Die Einstellung der Ärmeren evoziert bei den Reichen die entsprechende. Amerikanische Geldkönige können sich nicht genug tun in Stiftungen und Wohltätigkeit und gehen dabei so weit, dass sie ihre Leibeserben benachteiligen. Auch der ursprünglich Kleinliche wird großzügig und generös, wenn dies dauernd von ihm erwartet und ihm entsprechende Ehrerbietung vorgegeben wird. So wird in echt monarchischen Zeiten auch der Emporkömmling auf die Dauer königlich gesinnt, wird in aristokratischen auch der Edelmann, der nicht die entsprechende Anlage hat, aus konventionellen Gründen hochherzig, in solchen hochmögenden Patriziertums der Kaufmann königlich; man gedenke zumal des Patriziats der Niederlande und Venedigs. Diese wundersame, zur Zeit leider zerstörte Urbeziehung zwischen Besitzenden und Besitzlosen erweist endgültig, dass der Glaube an die Heiligkeit des Besitzes eine sehr reale Grundlage hat. Freilich sind es chthonische Götter, die das Materielle heiligen, aber es gibt eben auch eine echte und tiefe Rückbindung (religio) des Menschen an die Erde. Und von den Göttern her versteht man die Tiefe des intim-Menschlichen. Privatbesitz und Privateigentum sind nicht zwar den olympischen Göttern geweiht, wohl aber den Laren und Penaten. Wie sehr das Verhältnis zum Besitz und zum Besitzenden ein sakrales ist, wird dadurch endgültig bewiesen, dass vom Reichen weniger verlangt wird, dass er zahle, als vom nicht-Habenden. Das bloße Dasein jenes wird als Beschenkung empfunden, nicht anders wie im Falle geistig Begnadeter, weswegen die meisten den Drang spüren, Reiche ihrerseits zu beschenken. Jesus hatte schon recht, da er lehrte: wer da hat, dem wird gegeben. Die Fortsetzung dieses Satzes, nämlich dass dem nicht-Habenden auch sein Weniges genommen werde, beweist, wie tief vom Geiste her Jesus das Haben verstand. Wer nichts hat, der kann nichts schenken und wer nicht schenkt, ist nicht des Geistes Kind. Was wird nicht nur Königen urtümlicher Art, nein auch modernen politischen Führern alles geschenkt! Die Untertanen fühlen sich ihren Herren dermaßen verpflichtet, auch wo diese nichts Nachweisliches für sie tun, dass sie nie genug schenken zu können glauben. Wenn die meisten Menschen keinen Widerwillen gegen Steuerzahlen an sich empfinden, so hängt das auch damit zusammen, dass sie es als der Schenk-Ordnung zugehörig empfinden. Das Beschenken der hoch über einem Stehenden ist aber gleichsinnig mit religiösem Opfern. Den Ur-Sinn solchen Opferns erlebte ich vor einigen Jahren am eigenen Leib, als ein nicht ganz zweijähriger Neffe, beeindruckt vom Ungewöhnlichen meiner Erscheinung und dem, was ihm von mir als einem mächtigen Mann erzählt worden war, alles Glänzende im Hause zusammensuchte und vor mir aufhäufte. Vielleicht wollte er einerseits den Unheimlichen besänftigen: vor allem wollte er zeigen, dass auch er etwas zu geben habe.

Die Urform sakralen Besitzes ist und bleibt nun der Landbesitz, weil er die Ur-Beziehung des geistbestimmten Menschen zur Erde überhaupt verkörpert; von ihm her allein ist volles Ausschlagen des Menschen nach allen Richtungen möglich. Beim verstädterten Menschen ersetzt der Hausbesitz den Landbesitz: aber das Haus ist, wie bereits bemerkt, eine nur-menschliche Angelegenheit. In Städter und Urnaturen wurde gezeigt, inwiefern die Stadt Menschenschicksal ist und dass in ihr allein das nur-Menschliche sich ganz entfaltet und erfüllt. Aber dies geschieht dort in Losreißung von der übrigen Natur, vom Kosmos zu schweigen, und daraus ergeben sich alle bekannten Nachteile des Städtertums und der Verstädterung. Vor allem kann der Besitz nur-menschlicher Immobilien niemals das überpersönliche Verantwortungsgefühl zeitigen, wie Landbesitz. In seinem Fall ist der private Besitzer als solcher die psychologisch letzte Instanz; nur im Falle des künstlerisch Wertvollen liegen die Dinge anders, aber auch die Kunst ist eine nur-menschliche Angelegenheit. Der Besitzer kostbarer Gemälde kann sich nur als verwaltender Kastellan verantwortlich fühlen; sobald er antiquarisch empfindet, ist wieder der privat-Besitzende in ihm die psychologisch letzte Instanz. Von hier aus versteht man denn, warum und wieso der Ansturm gegen Besitz und Reichtum mit dem bürgerlichen Zeitalter begann — bürgerliche Zeitalter gab es natürlich von jeher überall, wo Geldbesitz und kapitalistische Gesinnung vorherrschten. Der Bürger wurzelt im unverantwortlichen Geldbesitz, also im mobilen im Unterschied vom immobilen Eigentum; bei letzterem endet er, wo er kann, weil Grundherrentum die normale Urform alles Reichtums ist, aber das Entscheidende ist, dass der Bürger nicht von diesem ausgeht und seinen Sinn darum auch niemals richtig versteht. Er sieht in ihm nur angelegtes Kapital, Reichtum als Kapital verstanden ist aber das Gegenteil echten Besitzertypus. Hier handelt es sich um kein Gegenseitigkeitsverhältnis, sondern verantwortungsloses Haben, dessen Seele letztlich Geiz oder Geldgier ist. Mit dem Siege der städtisch-bürgerlichen über die grundherrlich-adelige Gesinnung zerriss der ursprüngliche Zusammenhang zwischen Mensch und Besitz, so dass die Revolution der nicht-Habenden unter Einzelnen und Völkern nur das Werk vollendet, welches gerade der Sieg des Bürgertums begonnen hatte. Darum spricht echtes Wortgewissen daraus, dass die nicht-Habenden seither alle noch so verschiedenen Klassen der Habenden einheitlich als Bourgeoisie verstehen, sogar dort, wo es nie richtige Bürger gab, wie in Russland. Der Bürger ist wirklich die negative Form des Besitzenden und so ist es nur natürlich, dass nicht nur die nicht-Habenden, sondern auch alle Geistigen im Lauf des letzten Jahrhunderts immer antibürgerlicher gesinnt wurden, bis zur Sympathie mit dem all-zerstörerischen Bolschewismus, ja bis zur ungeheuerlichen Auffassung, die Zerstörung der Städte durch Terrorangriffe aus der Luft beschleunige das Ende des Bürgertums und sei daher zu begrüßen. Dass ich hier richtig sehe, wird meines Erachtens besonders deutlich dadurch erwiesen, dass der Hass gegen den Adel, welcher zur Zeit der französischen Revolution Hauptmotiv war, unaufhaltsam wieder in sein Gegenteil umschlägt und dass man unter Bourgeoisie-Feindlichen immer häufiger eine den neuen Verhältnissen angepasste adelige Gesinnung hochkommen sieht. Heute ist der Weg vom nicht-Besitzenden zum verantwortlich-Besitzenden offenbar kürzer, als der vom Bürger zum Edelmann, und ebenso der von der Bedürfnislosigkeit zur echten Überlegenheit kürzer, als der des toten Sachen Verhafteten zu der Art von Enthaftung, ohne welche Überlegenheit undenkbar ist.

Hiermit wäre denn echter Besitz geistig gerechtfertigt. Es ist mir selber erstaunlich, dass ich auf meine alten Tage zu dieser Einsicht komme, wo ich die längste Zeit meines Lebens gar keinen Sinn für Besitz hatte. Das heißt, ich hatte ihn niemals bewusst; ich hatte ihn nicht, weil er meinem Unbewussten selbstverständlich war. Aber andererseits war ich zeitlebens ehrlich genug, um aus der Not keine Tugend zu machen. Mir ist noch kein einziger Mensch auf Erden begegnet, welcher nicht möglichst gut leben wollte und bei besserer äußerer Lage nicht allein voller ausschlug, sondern nicht auch ein besserer Mensch wurde — es sei denn, es handelte sich ursprünglich um eine Fafnernatur — insofern die in jedem lebenden Triebe zur Missgunst und zum Neid weniger Nahrung in ihm fanden. Die Ausnahme des echten Asketen bestätigt hier nicht nur die Regel, der Asket selber verkörpert diese, denn bei seiner Anlage sind gerade Verzicht und Entbehren von Äußerlichem die Bedingungen der vollendeten Ausbildung seines inneren Reichtums. Ich nun war niemals Asket. Wohl habe ich mich mehrfach des Experiments halber mit Askese befasst und dieses einmal sogar mehrere Jahre lang, nie jedoch kam Gutes dabei heraus. Ich bin eben, wie im Tolstoi-Kapitel gezeigt, meinem Ur-Typus nach ein Renaissance-Mensch. Und nach meinen persönlichen Erfahrungen während der Weltkriege und sozialen Revolutionen bin ich endgültig dessen gewiss, dass Armut im Sinne solcher Not, dass sie die Seele beengt, ein absolutes Übel ist, welches coûte que coûte aus der Welt geschafft werden muss. Womit ich selbstverständlich keinerlei Gleichmacherei, in welcher Form auch immer, bejahe. Es entscheiden die innerlichen Bedürfnisse und die inneren Möglichkeiten der Erfüllung bestimmten Lebensraums. Und die werden bis zum Ende der Welt die gleichen Unterschiede in der äußeren Lebensstellung und -haltung bedingen, wie sie am Uranfang der Menschengeschichte geherrscht haben.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
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