Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

III. Wandel der Reiche

II. Wandel der Reiche - Vergewaltigung

Der Verführer stellt sich im letzten Stadium seiner Betätigung leicht als Vergewaltiger dar, und sehr viele primitive Frauen wollen im kritischen Augenblick auch vergewaltigt werden, um so jeder Verantwortung ledig zu werden. Dies erklärt die merkwürdige Rolle der großen Gewalttäter, derer sich die Überlieferung meist mit besonderer Liebe annimmt. Sogar Dschingis Khan, Timur und Iwan der Schreckliche bieten Illustrationen dessen, von Napoleon zu schweigen. Kraft wird immer bewundert, und auch Härte und Grausamkeit bannen mehr Ehrfurcht als Abscheu, weil sehr wenige aus eigener Initiative zu solcher fähig sind (typischerweise finden Grausamkeiten großen Stils nur statt, wo sie von der Obrigkeit befohlen oder doch ausdrücklich erlaubt werden; in unorganisiertem Kollektivleben kommen sie kaum vor). Vom sogenannten Masochismus kann man hier ganz absehen; dieses Begriffs aus der Pathologie bedarf es nicht, wo es sich einfach um das Urweibliche in jedem Menschen handelt. Die Frau muss nicht nur, sie will gezwungen werden, ihren bisherigen Zustand aufzugeben, wenn sie mit ihrem ganzen Wesen in einen neuen hineinwachsen will, und ihren Bezwinger das heißt seelischen Geburtshelfer bewundert sie. So ist der Erfolg und das Prestige aller großen Reichsschöpfer zu verstehen. Natürlich gewachsen sind von jeher nur kleine Gemeinschaften, denn nur für solche ist der Mensch als Gana-Wesen prädisponiert. In diesen allein äußert sich spontan jenes selbstverständliche Wir, welches das nie erreichte Ideal aller großen Völker ist. Hiermit hängt zusammen, dass die ganz großen kulturellen Leistungen immer das Werk kleiner Gemeinschaften gewesen sind; zum Beispiel der griechischen poleis, der deutschen und italienischen Städte und Kleinstaaten. In solchen allein fühlt sich jeder selbstverständlich auf den ihm Zugehörigen bezogen, wird das Du spontan nicht nur als Ergänzung, sondern als Stellvertretung des Ich empfunden. Hier spielt der große Einzelne die Rolle des eigenen Einfalls, gehört umgekehrt das verstehende Echo mit zur Persönlichkeit des Urhebers. Auch hier kommt natürlich Vergewaltigung als Episode vor — sonst wäre der siegende Held nicht das Urbild des Geliebten und Verehrten — aber die Gewaltsamkeit bleibt im Prozess natürlichen Wachstums den kritischen Punkten in physikalischen Prozessen entsprechende Episode. Bei der Gründung von Großreichen hingegen spielt das Vergewaltigungsmotiv die ausschlaggebende Rolle. Darum wird der große Kaiser ganz anders vergöttert als der kleine König, ja, richtig vergöttert wird nur er allein, denn dass so großes Gutes mittels Zerstörung von so viel Liebwertem entstehen kann, lässt übermenschliche Manneskraft ahnen. Nun aber kommt ein überaus Wichtiges: bei den großen Vergewaltigern stellt sich die Frage des Einfalls des eigenen Unbewussten in ein nichtsahnendes Bewusstsein noch mehr, als im Falle eines stetigen Werdeprozesses, denn dort erst wo der Reichsgründer sämtlichen Polaritäts- und Entsprechungsverhältnissen Rechnung trägt, erwächst Dauerhaftes. Weit mehr große Reiche, als die meisten ahnen, sind begründet worden, die meisten von ihnen erwiesen sich aber als so wenig dauerhaft, dass man sich nach ganz kurzer Zeit ihrer gar nicht mehr erinnert hat. Das war der Fall des napoleonischen, aber auch des deutschen Eroberungsreiches des ersten Weltkrieges, das sehr wohl hätte bestehen bleiben können — wenn eine organisch-polare Beziehung bestanden hätte zwischen Vergewaltiger und Opfer. Aber die Deutschen wollten gar nicht in Russland und im Osten bleiben, mit dem Gefühl der Befreitheit kehrten sie in ihre engen Verhältnisse heim, als aus äußeren Gründen die Stunde der Umkehr geschlagen hatte. Dies gilt offenbar auch von Hindenburg und Ludendorff. Wäre Hindenburg wesentlich Eroberer gewesen, er hätte im geordneten Rückzug nie und nimmer ein Ideal gesehen und nie zum Präsidenten der Weimarer Republik werden können. Ludendorff jedoch, dessen plötzlichem Verlangen nach Waffenstillstand die deutsche Niederlage zu danken ist — ohnedem hätten die Soldaten noch Monate lang gekämpft und wäre die Revolution im Inneren leicht niederzuschlagen gewesen — hätte als Eroberer nie Jahrzehnte lang später als der Feldherr in Tutzing ein offenbar zufriedenes Dasein geführt. Der Deutsche will eben nicht zu dauerhaftem Ende vergewaltigen, und auch verführen will er eigentlich nicht. Dieser Psychologie halte man die der Mongolen gegenüber, die in ihren großen Kaisern nur eine Aufgipfelung ihrer Grundanlage erlebten. Zwei der Reiche, welche Dschingis Khan begründete, bestehen im großen und ganzen heute noch so, wie jener sie umriss — Russland und China. Im Kapitel Politik und Weisheit der Schöpferischen Erkenntnis stellte ich drei Grundsätze auf für mögliche erfolgreiche Politik: den Grundsatz der Konsequenz, den Grundsatz der unüberschreitbaren Grenzen und den Grundsatz des Rechnens mit dem Willen der Besiegten und Beherrschten. Dass die Engländer jahrhundertelang in der Handhabung dieser Grundsätze Meister gewesen sind und dass dank dem allein ihr Weltreich besteht, liegt auf der Hand. Aber auch die großen Mongolenkaiser handelten diesen Grundsätzen gemäß. Sie ließen den Besiegten und Beherrschten alle Selbstbestimmung, die mit dem großzügig erfassten Reichsinteresse vereinbar war, forderten nur Einfügung in eine große Organisation, welche die bestfunktionierende war vor denjenigen der allerjüngsten Zeit, und im übrigen sehr charakteristischerweise — Kinder. In der Blutzumischung erblickten sie mit Recht den sichersten Kitt neuzusammenzufassender Völker; eben dank dem gibt es ein spanisch-Amerika. Die Mongolen griffen möglichst wenig in das Eigenleben der Völker ein, wo sie es aber taten, waren sie unerbittlich hart und konsequent, also das, was das Urweib im Mann am meisten bewundert. Sie ließen niemals locker, bekundeten immerzu ihren Willen zur ausschließlichen Herrschaft. Diese Umstände genügen aber nicht, um die Dauer des mongolischen Weltreichs zu erklären: gerade dem Grundsatz der unüberschreitbaren Grenzen waren die Mongolen in beinahe phantastischer Weise treu. Sie stießen, von Raubzügen abgesehen, nur bis zu den allerdings sehr weiten natürlichen Grenzen des russisch-asiatischen Kontinentes vor. Diese Großlandschaft fordert Einheit, sie ist zerklüftet gar nicht zu denken. Nur in Provinzen kann sie sinnvoll aufgeteilt werden. Das nun taten die Großkhane des Nordens, Südens, Ostens und Westens, welche einträchtiglich auf der Basis der Gleichheit in Karakorum zusammen tagten — und jedem meiner Leser fällt jetzt wohl von selber ein, dass Sowjetrussland in die Fußstapfen jener großen Vergewaltiger tritt. Aber das taten schon Iwan der Schreckliche und Peter der Große. Alle diese Herrscher, welche ich hier meine, waren furchtbare Gewaltmenschen — und nichtsdestoweniger wurden sie geliebt, weil ihr Vergewaltigen steigernde neue Lebensformen schuf.

Wir wissen leider nicht, wie die frühesten Großreiche zustandekamen, das minoische zum Beispiel. In Rücksicht auf die damaligen Verkehrs- und Verbindungsmöglichkeiten müssen die ältesten als noch weiter angesehen werden als das mongolische, dessen phantastisches Kuriersystem Schnelligkeiten ermöglichte, die erst jüngst dank dem Kraftwagen normal geworden sind (über die schier unglaubwürdige Modernität der Technik Dschingis Khans lese man die Bücher Michael Prawdins nach). Eins aber scheint mir gewiss: unter den großen Reichsgründern waren die genialen Verführer häufiger als die Vergewaltiger. Durch das Verführerische seiner Persönlichkeit weit mehr als durch seine kurzen Siegeszüge hat Alexander der Große den hellenistischen Großraum geschaffen, welcher kulturell bis nach Ostasien ausstrahlte. Caesar war in erster Linie Verführer; seine ganze Art war sanft und rücksichtsvoll, wenn er auch gelegentlich furchtbare Grausamkeiten beging, die aber bei seinem Grundtypus später sozusagen als rigueurs de l’objet bien-aimé erinnert wurden. Verführer durchaus war Friedrich II. der Hohenstaufe, und nicht zuletzt Karl V., der einzige echte Weltkaiser, welchen Europa hervorgebracht hat.

Hierbei erinnere ich noch einmal daran, dass Karl von Geburt Burgunde war, was ihn zur Schaffung einer germanisch-romanischen Einheit prädestinierte. Last not least erinnere ich an den idealen Kaisertypus Alt-Chinas, als welcher völlig gewaltlos, als reine Autorität vorgestellt wurde: wenn der Kaiser seine Person in Ordnung gebracht hätte, lehrte die chinesische Staatsweisheit, würden die Völker von allen vier Enden der Welt freiwillig zusammenströmen, um sich seinem Regiment zu unterstellen. Der Verführer nun hält sich unter den oben genannten Grundsätzen der Politik vor allem an dem, dass er mit dem Willen der zu Besiegenden und zu Beherrschenden rechnet. Den bloßen Begriff eines Soll schaltet er nach Möglichkeit aus, und den Zwang, dessen er nicht entraten kann, lässt er von deren eigenem Unterbewussten her auf den Eigenwillen der Besiegten wirken, so dass sie sich für ihr Bewusstsein freiwillig seinen Wünschen anpassen. Durch Verführung gewonnene Reiche sind nun typischerweise im selben Sinne treu, wie die gewonnene Frau. Von hier aus gelangen wir denn von den ganz großen Reichen zu den Kollektivbildungen beliebigen größeren Formats, welche in immerwährender Wandlung und gegenseitiger Ablösung die Erde überschichtet haben, wo immer das Stadium der Stammesorganisation überschritten war. Die meisten dieser Gebilde waren Ergebnisse sensitiver und emotionaler Kompatibilität. Gewiss schufen Gewaltmenschen auch hier die großen Rahmen; nirgends gab es je einen contrat social; was Ortega in seinem Aufstand der Massen über die Genesis des Staats als einer im Gegensatz zum natürlichen Werden erschaffenen Form vorgebracht hat, halte ich im ganzen für abschließend richtig. Aber die Gewaltmenschen spielten nur beim Erschaffen der großen Rahmen die Rolle des seltenen Vergewaltigungsmomentes in der Liebe; nicht auf der Gewalttat lag der Akzent. Den dauernden Zusammenhang schuf Sympathie, welcher das Prestige bestimmter bejahter Formung Signatur und Richtung gab. Den dauernden Zusammenhang schafft nämlich nie der Staat, der gemäß seiner Zugehörigkeit zur Welt der Künstlichkeit nie mehr als ein Gerüst sein kann — das war er anfangs immer — welches Widerstrebendes zusammenhält, und später eine Apparatur, sondern das, wofür in Europa nur die deutsche Sprache das genau entsprechende Wort hat: das Reich, welchem das englische Substantiv reach gleich Reichweite entspricht. Das Reich, wie immer es zustande kam, ist ein Kraftfeld, welches das ihm Gemäße anzieht und in sich hineinbezieht. Hier denke man an erster Stelle an das Byzantinerreich, welches nur zwei sachlich fassbare Fundamente hatte: den Hellenismus und die Orthodoxie. Das Prestige des Geistes, in unerhörter seelischer Differenziertheit verkörpert, war die Sonne dieses besonderen Gravitationssystems. Dieser Geist war kein exklusiver sondern ein inklusiver; weil derjenige Athens exklusiv war, konnte Athen trotz seiner einzigartigen geistigen Größe nie ein großes Reich begründen und verlor sogar alle gewonnene Macht nach kurzer Zeit. Sehr ähnlich wie das Prestige von Byzanz wirkt seit dem Mittelalter dasjenige von Paris. Paris ist in erster Linie französische Hauptstadt, und doch haben von jeher nicht-Franzosen aktiv und schöpferisch an ihr teil; man denke an die vielen Deutschen und Iren, welche im Mittelalter an der Sorbonne lehrten, und neuerdings an die vielen Damenschneider nicht gallischer Herkunft. Sympathie mit der jeweiligen Lebensform hat, noch einmal, alle durch Verführung entstandenen Reiche zusammengehalten. Es ist merkwürdig, wie schwer Deutsche begreifen, worauf es in diesen Zusammenhängen ankommt: überhaupt nicht auf Ordnung, sachliche Richtigkeit, wissenschaftliche Wünschbarkeit, ja nicht einmal auf Gerechtigkeit, welche Tugenden niemals Sympathie wecken, sondern auf das Ungreifbare der Überlegenheit bestimmter seelischer Formen. Sogar der leidenschaftliche Mörder kann Liebe erwecken, nie jedoch ein wackerer und ordnungsliebender, von allen Gefühlen absehender, gehorsam Befehle vollstreckender Henker. So ist das heutige Frankreich entstanden, so England. So entstand zeitweilig Burgund, womit ich noch einmal auf die Einführung dieses Kapitels zurückgreife. Es ist ein Jammer, dass gerade dieses Gebilde keine Gelegenheit hatte, sich als dauerhaft zu erweisen. Aber vielleicht war es dazu von vorneherein nicht fähig… Jeder lebendige Zusammenhang ist potentiell zerstörbar. Und es hätte mehr-als-Bismarckischen Sinns für Maß und Gleichgewicht bedurft, um gerade dieses Zwischengebilde zu erhalten. Jenes Reich zerstörten, was für die kleinen Verhältnisse des früheren Europa symptomatisch ist, die Schweizer Bauern. Heute sind alle kleineren Gebilde durch unaufhaltsam entstehende Großreiche gefährdet, und es werden Vergewaltiger und Verführer von niedagewesenem Format erstehen müssen, um durch das Prestige der Fülle dem Ausgesogenwerden durch die Leere vorzubeugen.

Hiermit wäre das Axiom wohl begründet, dass psychische Verhältnisse es sind, auf welche es auch in größten Zusammenhängen letztlich ankommt. Jeder denke da an seine eigenen Entwicklungsjahre. Wie sehr kam es auf jeden Einzelnen an, dem er begegnete und der für noch so kurze Zeit Einfluss auf ihn gewann! Ein persönliches Erlebnis weniger oder mehr, ein Einfluss oder keiner dieser oder jener Art, und es entsteht ein jeweils anders organisierter und aus anderen Komponenten bestehender seelischer Zusammenhang. Daher die ungeheure Bedeutung des Schicksals für die Persönlichkeits­gestaltung. Die Völkersubstanzen ändern sich kaum, solange sie bestehen, und die Grundrassen anscheinend überhaupt nicht. Aber nichts ist verfehlter, als das geschichtliche Werden von Volkstum und Rasse her verstehen zu wollen, außer wo es sich um elementare Neuanfänge handelt, wie bei den Einfällen der Arier in Indien, der Germanen in das damalige Europa und der Mongolen in den eurasiatischen Raum. Hier entscheiden, im musikalischen Bilde ausgedrückt, nicht die Saiten als solche, sondern deren Stimmung und Abgestimmtheit und die Harmonien und Melodien, die auf ihnen gespielt werden. Bedeutet in der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts zum Beispiel Nationalität so viel, so ist es, weil gerade dieses Thema, an sich eine Abstraktion, auf den alten Instrumenten con variazioni gespielt wird. Die Geschichte berichtet von Unzahlen untergegangener Völker. Ganz wenige dieser sind wirklich untergegangen: sie sind vielmehr aufgegangen in neuen Volkstümern, welche durch neue Dominanten des Geistes und der Seele bestimmt wurden. Oft verglich ich den Menschen mit dem Hund und wagte einmal gar die Hypothese, die mir unverständliche Sympathie jenes für diesen beruhe darauf, dass nur diese zwei Lebensformen unter höheren Tieren unbegrenzt variabel scheinen. Sicher sind noch viel mehr verschiedene Menschenarten und Reiche möglich, als es je Hunderassen gab, denn ein neuanklingendes geistiges oder seelisches Motiv genügt, um ein neues Gesamtbild entstehen zu lassen. Es wird immer noch kaum verstanden, dass es sich bei nichtmateriellen Zuständen im Falle des Menschen nicht nur um nicht weniger Reales, sondern um viel Realeres handelt, als bei materiellen. Als Europa christlich wurde, erfolgte damit eine reale Mutation. Und das Motiv des Christentums ist beim heutigen Europäer ein viel wichtigeres als seine Zugehörigkeit zu dieser oder jener europäischen Volksgemeinschaft oder gar Rasse. Jede neue Weltsprache schafft eine neue Menschenart und ebenso die Entdeckung und Vervollkommnung der eigenen. Der Deutsche wird heute erst richtig deutsch. Entchristlicht sich Europa ernstlich, so mögen Gene dominant werden, die seit der Völkerwanderung rezessiv waren. Ebenso reale Wandlungen bedeuten Änderungen der Weltanschauung. Es ist nicht so, dass verschiedene Ansichten und Theorien, welche gleichbleibende Menschen vertraten, einander ablösten, nein: mit jeder neuen Voraussetzung und Fragestellung, die sich dem ganzen Menschen einbildet, entsteht eine neue Seelensubstanz, die sich dann genau so vererbt, wie die körperliche. Das gilt sogar von der abstraktesten Philosophie. In diesem Zusammenhang ist die weitaus beste Geschichte derselben diejenige des vielgeschmähten, aber kaum noch verstandenen Rudolf Steiner (Die Rätsel der Philosophie, 2 Bände). Wer nicht glaubt, dass materialistische Philosophie gegenüber spiritualistischer ein Wesenhafteres bedeutet, als eine in bezug auf den substantiellen Menschen unverbindliche Ansichtänderung, der vergleiche nur den höchst-massiven lebendigen Typus des Bolschewiken oder Amerikaners mit etwa dem Spanier des Entdeckungszeitalters. Und die Wissenschaft soll etwa bloß Äußerliches bedeuten, welches den Menschen durch ihr zum Grundton-Werden nicht verwandelt hätte?! Der technisierte Mensch, als Erfüller der höchsten Möglichkeit des Menschentiers, des Leitfossils des geologischen Zeitalters des Menschen, stellt gegenüber früheren etwas Niedagewesenes dar, welcher seine substantielle Wirklichkeit sehr handgreiflich durch materielle Veränderung unseres Planeten erwiesen hat.

Kehren wir von hier aus noch einmal zu den Zeiten bestimmenden Glaubens in unserem Kulturkreis zurück, wo Glaube an Übersinnliches, gänzlich Unpraktisches, zwei Großräume erschuf, den christlichen und den islamischen. Wie sollte der Verlust dieses Glaubens nicht alle Fundamente bisheriger Existenz erschüttern? Dass der physiologisch gläubige Russe durch Verleugnung des Christentums zum Satanisten geworden ist, bedeutet eine schauerlich reale Mutation, die durch keine bloße Widerlegung aus der Welt zu schaffen sein wird, zumal jede Zerstörung eines Zwischenreichs Elementarkräfte freisetzt. Die Primitivierung der Menschen, die auf den Gebieten aller Hochkulturen auf dem ganzen Erdball Platz greift und augenscheinlich zugleich Vitalisierung bedeutet, hängt eben damit zusammen. Auch der deutsche Aufbruch. Ebenso früher die damals erstaunlich wirkende Vitalität des werdenden Amerikas. Diese wurde in den europäischen Einwanderern frei durch Herauslösung aus den erstarrten Bindungen des bisherigen Europäertums. Woran liegt es aber, dass Amerika seit einigen Jahrzehnten mit unheimlicher Schnelligkeit alt und starr wird? Es liegt an dem immer ausschließlicher werdenden Glauben an die Materie. Damit hat sich dieses an sich junge Volk auf etwas Totes festgelegt und wird darum von dessen Geist mit so unheimlicher Schnelligkeit und Gründlichkeit ergriffen, weil das Tote als Masse dem Lebendigen weit überlegen ist. Das amerikanische Zeitalter, von dem das bolschewistische nur eine Variante bedeutet, ist zutiefst dadurch gekennzeichnet, dass der Glaube an den Geist in ihm stirbt. Aber dies führt nicht überall zur Entvitalisierung: es führt zur Revolte der Erdkräfte, die ich in meiner Révolution Mondiale genauer gekennzeichnet habe, zum Wiederaufstieg der Titanen, welche Zeus für immer in den Tartaros hinabgestürzt zu haben wähnte. Hier muss ich das vorhin über Amerika Gesagte berichtigen und ergänzen. Bei der heutigen Überalterung und Erstarrung handelt es sich schwerlich um Endgültiges, sondern um den letzten Akt eines zu Ende gehenden Dramas. Das angelsächsisch-puritanische Amerika ist im Sterben begriffen. Darum allein kann es sich dermaßen ausschließlich dem Kult des toten Metalls verschreiben. Aber die Angelsachsen werden unaufhaltsam zur Minorität. Als Folge des zweiten Weltkriegs werden sicher bald Schichten bestimmend an die Oberfläche gelangen, die sich von der Tradition des XVIII. Jahrhunderts, aus der heraus das heutige Amerika noch ausschließlich lebt, unwillkürlich loslösen werden. Vielleicht wird es sich dann erweisen, dass es sich bei der Zeit zwischen der Einwanderung der Pilgerväter und den zwei Weltkriegen um die Prähistorie Amerikas gehandelt hat, auf welche ein gänzlich andersartiges geschichtliches Leben folgen wird. In diesem Sinne muss die zaristische Zeit schon heute als Russlands Vorgeschichte gelten.

Endlos könnte ich so weiter aufzählen, vergleichen, erklären und auch prophezeien, denn wie sich kollektive Bewegungen fortpflanzen werden, ist leicht vorauszusehen, weil dabei die Initiative des Geistes eine sehr geringe Rolle spielt. Doch die gegebenen Anregungen dürften im Zusammenhange dieses Kapitels genügen. Bedenken wir jetzt dies: wie wenig die Veränderungen innerhalb der letzten Jahrzehnte bemerkt wurden und erinnert werden. Hierbei handelt es sich um keinen automatischen Verlauf: die allermeisten tun alles, was sie nur können, um nichts zu bemerken und um das, was sie dennoch bemerkt haben, sobald als irgend möglich zu vergessen. Bei vielen jungen Leuten während des zweiten Weltkriegs musste ich an jene Pinguine denken, deren Gedächtnis nicht weiter als bis zu rund dreieinhalb Minuten reicht. Unglaublich viele lesen keine Zeitungen, hören im Rundfunk allenfalls Tanzmusik, und wo sie Neues bemerken müssen, da ordnen sie es mittels noch so bedenklicher geistiger Machenschaften in das selbstverständlich Gewordene so ein, dass es für sie den Anschein gewinnt, als handle es sich um Wiederholung von von jeher Dagewesenem. Wo es sich um tätige Menschen handelt, dort bleiben, im Bilde gesprochen, die Schuster mit nie dagewesener Konsequenz bei ihrem Leisten, denn freilich kann der Schuster selbst bei den größten kosmischen Veränderungen, solang es nur Füße zum Beschuhen gibt, in seiner gewohnten Betätigung aufgehen. Dieses Phänomen — denn es ist ein Phänomen, selbstverständliches Bemerken alles Lebenswichtigen und höchste Gedächtnistreue sind das Normale beim Menschen wie beim Tier — hängt im tiefsten Grunde damit zusammen, dass das Tempo der Veränderungen dieser Zeit die Reaktionsgeschwindigkeit des Menschen übersteigt. Schon den dreißigjährigen, den siebenjährigen, den siebziger Krieg bemerkten wirklich eigentlich nur die unmittelbar an ihnen Beteiligten; und nachher vergaßen sie, in neuem Alltag aufgehend, mit unheimlicher Geschwindigkeit. Und heute erst! Die sich überstürzenden Veränderungen und Umwälzungen seit 1918 haben die allerwenigsten, so wie sie wirklich sind, überhaupt zur Kenntnis genommen. Es ging eben alles viel zu schnell. Die Sturen verharren seither auf ihrem längst verjährten Standpunkt, was ihnen dadurch möglich ist, dass sie sich eine fiktive Welt erschaffen, in welcher sie ganz aufgehen. Beispiele dessen wird das Kapitel Verhärtete und Verjüngte1 bringen. Wenn ich nicht sehr irre, so hat die überzahl der Deutschen älterer Jahrgänge noch 1943, dem Jahr, in dem ich dieses schreibe, nicht realisiert, dass das nationalsozialistische Reich ein vom wilhelminischen Grundverschiedenes ist. Diejenigen aber, welche es realisieren, erinnern sich meist überhaupt nicht, dass es eine Zeit vor 1933 gab. Sie erinnern sich nicht, um die ihnen natürliche Umwelt nicht als gefährdet zu erleben. Bei der heutigen Geschwindigkeit der Entwicklung geht die Sicherung durch Vergessen so weit, dass sogar kleine Veränderungen kaum bemerkt werden; zum Beispiel die Ablösung des Grammophons durch den Rundfunk.

Wie ungeheuer viel sich schon in der scheinbar friedlichen Zeit von 1920 bis 1930 sogar in der Neuen Welt verändert hat, hat der damalige Herausgeber von Harpers Magazine, Frederick Lewis Allen, in einem höchst berücksichtigungswerten Buche Only Yesterday, an informal history of the Nineteen Twenties (New York, 1931) sehr geschickt zusammengestellt. In diesen zehn Jahren hat es der Zahl nach mehr ins tägliche Leben eingreifende Veränderungen gegeben, als in einem Jahrhundert vorher. Wie ich dieses Buch las, musste ich mir zu meiner Beschämung eingestehen, dass sogar ich die meisten dieser Veränderungen nicht bemerkt hatte. Offenbar kann sich kein Mensch so häufig und so schnell innerlich wandeln, dass er sich des Anderswerdens fortschreitend bewusst wird. Am gleichen Ergebnis wirken weitere Kausalreihen mit. Zunächst die so nie dagewesene Möglichkeit kollektiver Beeinflussung durch Suggestion. Die amerikanische Propaganda hat aus sich heraus aus völlig beziehungslosem Material ein Volk neuer Mentalität geschaffen. Wo die Massen überdies unterernährt waren und die Angst vor dem Verhungern mitwirkte, da erreichte die Propaganda mehr noch als in Amerika. Der Bolschewismus hat seine unerhörten und unglaubhaft schnellen Erfolge vor allem dadurch erzielt, dass es dort seit über einem Vierteljahrhundert von der Polizei abhing, ob einer überhaupt zu essen bekam oder nicht; dort sorgte die Ur-Angst dafür, dass die Menschen sich vom Unbewussten her blitzschnell dem elementaren Lebensinteresse entsprechend veränderten; so wurde aus einem ursprünglich arbeitsscheuen Volk ein aus innerem Drange arbeitswütiges. Bei Unterernährung leiden die Gehirnnerven auf die Dauer am meisten. Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnis nehmen dank ihr, wenn nicht schneller, so doch dauerhafter ab, als der Leibesumfang. Die Kultur der schlanken Linie muss in ca. einem Jahrzehnt zu einer noch größeren Veroberflächlichung führen, als wie heute schon die Regel ist. Uns könnte ein Zustand bevorstehen, wo der Mensch ohne Gedächtnis, ohne Aufmerksamkeit, ohne Selbstdenken und ohne Interessen lebte und sich dabei noch glücklich vorkäme. Der künftige Mensch braucht durchaus kein Robot zu werden. Was sich heute anbahnt, kann durch technischen Fortschritt leicht zu einem dem kaiserlich-römischen ähnlichen Zustand führen, wo das Schlagwort panem et circenses die Seele alles Regierens verkörperte. Aber der Mensch der Zukunft kann durch Elimination gleichsam auch glücklich werden, wenn die größten Dauerentbehrungen Schicksal werden sollten. Wird der Mensch in seiner Bewegung im weitesten Verstand des Wortes beschränkt, dann sorgt das Gleichgewichtsbedürfnis dafür, dass sich der Horizont entsprechend verengt. Aus den gleichen Gründen, aus welchen lange Kerkerhaft meist unbegreiflich gut vertragen wird, sind in China die Gärten mit gezwergten Bäumen entstanden, welche im engsten Raum unendliche Weiten vortäuschen. Über alle Begriffe konservativ ist die Menschennatur; sie behauptet ihr bestehendes Gleichgewicht, was immer es ihr koste. René Quinton, dessen Maximen Über den Krieg ihn in Deutschland berühmt machten, erregte in meiner ersten Pariser Zeit Aufsehen durch sein erstes Buch L’Eau de Mer, Milieu organique. Darin unternahm er den Nachweis, dass alle Differenzierung des Lebens nur das eine Ziel habe, im Inneren des Organismus das äußere Urmilieu, in welchem das Leben entstanden sei, nämlich das tropische Meer, der Zusammensetzung, der Temperatur usw. nach zu erhalten. In bezug auf Blut und Lymphe ist viel Wahres an dieser Theorie. Auf psychischem Gebiete nun liegen die Dinge mutatis mutandis ursprünglich sicher so, wie Quinton sie damals darstellte. Jede äußere Veränderung und gar jeder scharfe Eingriff in das Gefüge des Organismus steigert dessen Abwehrkräfte, sofern er sie nicht weckt oder schafft, genau so wie im Falle einer Infektionskrankheit. Woraus sich ergibt, dass jeder Fortschritt eigentlich ein Pathologisches ist — was aber nicht gegen den Fortschritt spricht, sondern vielmehr den wahren Sinn des Pathologischen aufzeigt. Alle Widrigkeiten des Lebens gehören zur Pathologie. Und wenige sind weit gekommen, welche von ihrer Umgebung auch nur ganz verstanden wurden. Nur dort, wo der Mensch eine ihm gemäße Selbstverständlichkeit erst schaffen muss, anstatt sie schon vorzufinden, entsteht der Drang zum anders- und neu-Werden.

Doch ich will über das Urkonservative der Menschennatur nicht mehr allgemeine Betrachtungen anstellen, da dieses bereits im Kapitel Besitzende und Besitzlose des zweiten Bandes geschah. Fortan sei die Aufmerksamkeit endgültig darauf zugespitzt, dass es bei aller Verwandlung auf seelisch-organische Veränderung ankommt, nicht auf materielle. Solange als möglich erkannte oder erwünschte oder durch Gewalt oktroyierte Veränderungen nicht in die Tiefenorganisation der Seelen aufgenommen werden, sitzt keine Veränderung tief, können neue Umstände jederzeit frühere Verhältnisse wiederherstellen. Die meisten echt-gläubigen Katholiken, die in geschlossenen Räumen starker Tradition leben, bewohnen innerlich eine sonst längst überlebte Welt, welche die ihnen auferlegte und zur hygienischen Notwendigkeit gewordene religiöse Praxis tagtäglich in die Gegenwart zurückruft. Diese sind so festgelegt in den Grundelementen ihres geistig-seelischen Daseins, dass sie es fertigbringen, auch das Neueste, wo unvermeidlich, auf den katholischen Glauben zurückzubeziehen, ja von diesem her an der modernen Entwicklung mitzuarbeiten. Was den Bolschewismus in der russischen Tiefe verankert, ist nicht der Marxismus, sondern die Möglichkeit, die Tradition des XV. Jahrhunderts, die im russischen Bauern unverändert fortlebte, fortzusetzen. Zu den meisten bolschewistischen Praktiken lassen sich Ahnen aus frühester Zeit feststellen, so unter anderem zum Prinzip des nicht-Besitzes von Land, denn der Grundglaube des Russen war von jeher, dass das Land niemandem gehöre. Die marxistische Theorie bedeutet nur sozusagen ein Verwirklichungsorgan und könnte bald einmal ebensowenig entscheidend für das praktische Leben sein, wie der Christenglaube für die Borgia-Päpste. Ich nenne nur diese zwei weit auseinander liegenden Beispiele, aber es lassen sich solche auf allen Gebieten finden. Hat man diesen Tatbestand und dessen Sinn nun eingesehen, dann hört man auf zu staunen über die außerordentliche Länge der Zeiträume, die sich in den meisten Fällen als nötig erwiesen haben, um Veränderungen in den Erscheinungen zu konsolidieren. Laut Tocqueville, dessen De la Démocratie en Amérique ich noch heute für das beste Buch über Demokratisierung überhaupt halte, begann diese im heutigen Verstande des Wortes im XIV. Jahrhundert; wenn ich mich recht erinnere, so war es ein englischer Kleriker aus Yorkshire, welcher zuerst die Theorie aufstellte, dass alle Menschen gleichgeboren seien, woraufhin er von seinen nächsten Verwandten schleunigst für verrückt erklärt und unschädlich gemacht wurde. Was Tocqueville selber in der Mitte des XIX. Jahrhunderts als dichtbevorstehende Entwicklung voraussagte, begann erst in den ersten Jahrzehnten des XX. Wirklichkeit zu werden. Aber dann wurde diese Entwicklung durch den Aufstieg des vierten Standes abgeschnitten. Nur dem dritten Stande entspricht anlage-gemäß nämlich die Demokratie, weil nur dieser der ursprünglich Unterhandelnde ist; nur er findet es natürlich, seinen Gegner als solchen gelten zu lassen und mit ihm selbstverständlich zu paktieren, dank wessen allein ein Regieren mit der Opposition möglich ist. Aber eben weil der dritte Stand der geborene Stand der Unterhändler ist, hat sich die Demokratie seit dessen Sieg von Jahrzehnt zu Jahrzehnt unvermeidlich und unaufhaltsam immer mehr zur Plutokratie entwickelt, gegen welche der vierte Stand in erster Linie aufsteht. Dieser freilich mag seine elementaren Ziele schneller erreichen als irgendein früherer, weil er aus Menschen zusammengesetzt ist, die an der Kulturtradition der Völker, denen sie jeweils zugehören, so gut wie gar nicht teilhaben, durch nichts Vergangenes belastet sind und überdies keine Hemmungen gegen äußerste Gewaltanwendung spüren. Wahrscheinlich erklärt sich das in keinem Falle lang vorbereitete, scheinbar plötzlich auftretende Gefüge neuer Hochkulturen so, dass außerordentlich große Einzelne, mit heute kaum vorstellbarer Autorität ausgestattet, Völker ohne Tradition auf ihre Art prägten; eben das berichten ja Mythos und Legende von allen Uranfängen. Es ist lehrreich zu bedenken, dass der Aufstand des vierten Standes, welcher die alten Hochkulturen überall auf Erden rasiert, auch in dieser Hinsicht zu einer Wiedergeburt urtümlicher Zustände führt. Die ganze Frage ist die, ob in der heutigen Welt große Einzelne solcher Artung wie Kaiser Shun, Zarathustra, Manu und Echnaton noch die Möglichkeit finden würden, ihren eigenen Stil den Massen aufzuprägen.

Was sich heute auf der ganzen Erde anbahnt, habe ich in sonderlicher Form persönlich in Nordamerika sich seiner Vollendung nahen sehen. Wie ich in meinem Buch über Nordamerika und grundsätzlich in den Südamerikanischen Meditationen näher begründet habe, kann man nur Körper, nicht jedoch Seelen wirklich exportieren, außer wenn sich ganze Gemeinschaften samt ihren Göttern in großem Abstand von der neuen Umgebung in solcher festsetzen und dort geschlossene Enklaven bilden; dies galt von den griechischen Stadt-Kolonien und lange auch noch von Neu-England. Aber die amerikanischen Kulturenklaven hielten sich nicht lange, sobald die Einwanderung armer Emigranten eine gewisse Höhe erreicht hatte, und so begann dort die Gleichmacherei, welche überall die Folge des Aufstands des vierten Standes ist. Sieht es so aus, als werde allmählich die ganze Welt amerikanisiert, so ist es doch nicht richtig, was in Europa und Asien geschieht, auf den Einfluss Amerikas zurückzuführen: es handelt sich einfach um eine Konvergenzerscheinung planetarischen Umfangs. Da für gleiche und ähnliche Zustände nur wenige sinngerechte Lebensformen möglich sind, so musste überall, wo der vierte Stand aufstand, etwas Amerika Analoges entstehen, und wurden dann die erfolgreichen amerikanischen Lebensformen bekannt, so leuchtete deren Wert beinahe augenblicklich ein. Man gedenke eines der frühesten Schlagworte der Bolschewisten:

Nehmen wir die amerikanische Organisation, erfüllen wir sie mit dem russischen Geist und Elan (Duch), — und wir werden bald das Paradies auf Erden haben.

Es genügt einzusehen, dass das Grundmotiv dieser Zeit auf dem ganzen Erdenrund der Aufstand des vierten Standes ist, auf dass gleichzeitig einleuchte — da wohl mindestens achtzig Prozent aller Menschen auf Erden diesem Stande angehören — dass heute ein Gesamtaufbruch der Menschheit im Gange ist, in dessen Prozess nach und nach alles einzelne verwandelt werden muss. Denn auch im historischen Leben, nicht nur in demjenigen des organischen Individuums und der Gattung, präexistiert das Ganze den Teilen und gibt ihnen das Gesetz.

Von hier aus gedenke man der großen Aufbrüche, dank welcher es überhaupt Geschichte im heutigen Sinne gibt. Wie besonders Alfred Weber in seinen zwei Alterswerken Kulturgeschichte als Kultursoziologie und Das Tragische und die Geschichte nachgewiesen hat, begann geschichtliche Bewegung überhaupt mit dem Auftreten der Reitervölker. Sie erst verkörperten im großen aus eigener Initiative geborene Bewegung. Mit ihr verlor das Menschenleben seine selbstverständliche Pflanzenhaftigkeit und pflanzenhafte Selbstverständlichkeit. Überall traten die Gegensätze zwischen Erd- und Geisthaftem auseinander und wurden bewusst; die Gana trat den letztentscheidenden Platz Vernunft und Willen ab und das konservative Weibhafte dem Zerstörenden, Verwandelnden und Neuaufbauenden des männlichen Prinzips. Wie wir’s schon zeigten: Gewachsen sind überall nur kleine und enge Gemeinschaften, alle Reiche sind Gebilde der Einbildungskraft, desgleichen alle Normen, die nicht auf ererbten Reaktionsweisen und Konventionen beruhten. Hier haben wir ein Beispiel, anders als auf dem bisher betrachteten Wege einen Wandel der Reiche herbeizuführen. Der scheinbare Zufall der Zähmung und Nutzung des Pferdes hat das allererst möglich gemacht, was heute als primäre Eigenschaft menschlicher Existenz überhaupt gilt. Wo eine Neuerung dem ganzen Menschen als lebenswichtig einleuchtet, dort wird sie mit Windeseile zur Selbstverständlichkeit. Die amerikanischen Indianer kannten das Pferd überhaupt nicht. Kaum hatte es aber nach dem Import durch die Spanier und Engländer die Prärien und Pampas bevölkert, da wurden die Indianer zu Menschentypen, die allem Anschein nach ebenso mit dem Pferd zusammengeboren waren, wie die Araber. Die alten Reitervölker respektierten die Grenzen und Normen selbstverständlich nicht, welche sie dort vorfanden, wohin sie als Eroberer eindrangen, und bald entstanden Reiche, die nur den Normen herrschender Reitervölker entsprachen. Genauere Illustrationen dieser epochalen Vorgänge findet der Leser bei Alfred Weber. Im Zusammenhang dieses Kapitels erinnere ich an das über die Mongolen Gesagte.

Wie soll sich nun die Welt nicht noch viel mehr verändern, als je durch den Einbruch der Reitervölker geschah, wenn das Flugzeug zum selbstverständlichen Verkehrs- und Verbindungsmittel geworden ist? Im Herbst 1943, da ich dieses schreibe, soll man schon in vierzehn Stunden von Deutschland nach Japan und in sechsen von Amerika nach England fliegen können. Das Flugzeug ist offenbar das prädestinierte Vehikel für den nivellierenden Geist des zur Welteroberung aufgebrochenen vierten Standes. Bald werden Kleinstaaten und Kleinvölker sich völlig außerstande sehen, als exklusive und autarke Einheiten fortzubestehen. Vor allem aber wird bald jedes Verständnis für den Wert dieser Bildungen bei den Massen verloren gegangen sein. Diesen fehlt ohnehin jeder Sinn für die Nuance, für den Wert der Polarisierung und der Verschiedenheit als Grundbedingung geistigen Bewusstwerdens und schöpferischen Gestaltens. Der Flieger ist als Menschenart noch primitiver als der Chauffeur, der bestimmende Typus der neuentstehenden Welt, bevor das Flugzeug den Maßstab abzugeben begann. Wie soll man in einem Tage von Europa nach Japan fliegen und unterwegs keine seelische Katastrophe erleiden, wenn man seine Seele nicht gegen den Wechsel psychischer Atmosphäre ebenso abkapselt, wie der Stratosphärenflieger gegen den veränderten Luftdruck? Lächelnd gedenke ich der ersten und seither einzigen sehr schnellen Automobilfahrt meines Lebens. In einem Nachmittag fuhr mich Carl J. Burckhardt von Genf nach Avignon. Mein Organismus konnte nicht umhin, unterwegs die psychischen Atmosphären mindestens dreier völlig verschiedener Landschaften aufzunehmen. Der Erfolg war, dass ich krank in der Provence ankam und wochenlang mein psycho-physisches Gleichgewicht nicht wiedergewann. Die kommende Flieger-Welt kann darum zunächst nur eine beispiellos seelenlose und für den Reichtum möglicher Erfahrung unempfindliche werden. Und mit großer Instinktsicherheit wird dem in zwei großen Reichen vorgearbeitet. Erstens durch die Standardisierung überhaupt, das Ideal der Amerikaner und der Russen; zweitens durch die Kultivierung des Großräumigen und innerhalb desselben des Kolossalen; wo immer das Kolossale bevorzugt wird, beweist es mangelnden Sinn für die Nuance. Man gedenke dessen, wie klein die alt-griechischen Tempel waren, wie eng die Städte des Mittelalters und wie heute noch der weltbeherrschende Engländer daheim das Kleine und Feine dem Großen gegenüber bevorzugt. Aber die Seele wird auch direkt nach der gleichen Richtung hin bearbeitet: durch die allumfassende Reklame und Propaganda, der zu widerstehen in Amerika für indezent gilt. Dort hat man auch schon die Folgen aus dem Erfolge gezogen, und ich zweifle nicht, dass das amerikanische Beispiel nach und nach allenthalben Nachahmung finden wird. Lange schon ging dieses merkwürdige Volk bei allen entscheidenden Neuerungen von der psychologischen Aufklärung und Beeinflussung und nicht der Rückwirkung materieller Gegebenheiten aus. Wie Kalifornien fruchtbar gemacht werden sollte, wurde die Wüste nicht zuerst bewässert, oh nein: zuerst wurde durch klügste Propaganda unter Millionen ein Apfelsinenbewusstsein geschaffen. Nachdem dieses da war, waren die Kapitalien und Arbeitskräfte für die technische Durchführung des Erwünschten nicht nur in größtem Umfange zur Hand, es machte sich alles in Blitzesschnelle bezahlt. Im gleichen Sinne wird seit 1942 etwa in größtem Stile daraufhingearbeitet, das bisherige Erdbewusstsein der nordamerikanischen Jugend in ein Luftbewusstsein zu verwandeln. Die neuesten Schulkarten stellen nicht Projektionen auf den Äquator, sondern den Nordpol dar; die primäre Aufmerksamkeit wird gar nicht mehr auf Länder, Völker und Staaten gerichtet, sondern nur auf Entfernungen in der Luftlinie. Schon 1943 sollen Hunderttausende von Lehrern ihren Auftrag vom Luftbewusstsein her erfüllt haben. Ist nun auch nur eine Generation Amerikaner primär luftbewusst erzogen, dann werden dieser die alten Unterschiedlichkeiten nicht mehr bedeuten, wie seinerzeit den Reitervölkern die bei der Eroberung vorgefundenen Zustände, die sie allerbesten Gewissens zerstörten. Ähnliches gilt ohne ausdrückliche Beziehung auf die Luft auch schon von Russland. Der Russe war zutiefst immer Nomade; Heimatgefühl im deutschen Sinne kannte er nie, nur der russischen Erde als Ganzes, von Polen bis China und Japan fühlte er sich verbunden. Das Enge bedeutete ihm nie mehr als einer Rebhuhnkette das Feld, auf dem sie gerade einfällt. Bei der ungeheuren Freizügigkeit, die nun in Sowjetrussland herrscht, — es ist die einzige Freiheit, die dessen Bewohnern verblieb und dank ihr ist Sibirien in unglaublich kurzer Zeit verhältnismäßig dicht besiedelt worden — unter Nichtachtung aller Bande von Blut und Boden, entsteht dort ein Weltgefühl ähnlicher Artung, wie in Amerika. Es ist von äußerstem Interesse, als Zeitgenosse diese Wandlung mitzuerleben, die eine mindestens ebenso entscheidende zu werden verspricht, wie ehemals die durch die Einbrüche der Reitervölker bewirkte. Die Menschenarten, welche in Funktion der Luft anstatt in derjenigen der Erde denken und fühlen, werden sich zwangsläufig im selben Sinn als prädestinierte Eroberer erweisen, wie ehedem die Reiter und Seefahrer.

Ich vergaß bisher zu sagen, dass die Seefahrervölker den Reitervölkern psychologisch äquivalent sind. Und so düster die Zukunftsaussichten der Geisteskultur zunächst scheinen, — auf Grund der Menschheitserfahrung mit den Reitervölkern kann ich nicht gar so schwarz sehen. Natürlich kommt zunächst eine finstere Zeit, jenes new dark age, dessen Prophezeiung mir die Nordamerikaner 1928 so sehr übel nahmen. Die Fliegervölker werden zunächst vollkommen beziehungslos sein zu allem Vorherbestehenden und Althergebrachten. Aber andererseits ist heute als Kontrapunkt zum Materialismus der letzten Jahrhunderte die Sehnsucht nach echtem Geiste größer denn je, und so kann ich nicht glauben, dass sich die neuen Eroberer nicht verhältnismäßig bald bei ihrer eigensten Funktion als Ordner und Beherrscher bescheiden und dank dem die Rahmen schaffen werden für neue Hochkulturen. Siegte die reine Fliegermentalität, dann würde das Ergebnis so, wie es in China geworden wäre, wenn der Mongolenansturm das letzte Wort bedeutet hätte; dann wäre ein kulturloses, geistigleeres und seelisch-ödes Steppenreich entstanden. Tatsächlich aber begründete der Enkel Dschingis Khans Chinas gesamte Kultur, nur in einem so weiten Rahmen, wie ihn nur Reitervölker abstecken konnten. Ähnliches geschah früher dank den Arabern in Persien: selber damals völlig kulturlos, scheinbar ohne kulturelle Zukunft, verhalfen sie dank ihrer Zeitgeist-gemäßen Gesinnung einem veralteten Volk zu einer herrlichen kulturellen Wiedergeburt. Erweisen sich nun die geistig-seelischen Bedürfnisse der Menschen so stark, wie sie mir heute, 1943, schon zu sein scheinen, dann wird auf die zeitweilige Entseelung und Verödung als Ergebnis des siegreichen Einbruchs der Fliegermentalität früher oder später ähnliches folgen wie seinerzeit in China und Persien. Die Welt der Zukunft wird unter allen Umständen der historischen Bedeutung nach aus Ökumenen und nicht mehr aus Einzelvölkern bestehen; es sollte mich sehr wundern, wenn die Voraussagen meiner Neuentstehenden Welt, deren Grundgedanken für mich schon 1921 feststanden, nicht restlos einträfen. Es ist also unter allen Umständen zunächst ein langer Anpassungsprozess des Menschen an weitere Räume und Zusammenhänge überhaupt und an größere Geschwindigkeiten vonnöten. Überdies muss auf dem Wege zu neuen Hochkulturen mehr Altes zerstört werden, als jemals früher geschah. Nicht mit Unrecht werfen sich die verschiedenen am zweiten Weltkrieg beteiligten Völker gegenseitig Hunnengesinnung vor. Aber das Entscheidende des neuentstehenden Zustandes liegt vom Standpunkt der Geistesentwicklung gerade darin, dass sich der Geist in früher nie dagewesenem Grade von der Materie loslöst. Das muss auch seinen materiellen Ausdruck finden, und einer derselben ist die psychologische Bereitschaft aller Völker zu Zerstörungen eines Ausmaßes, die nur mit denjenigen von Vulkanausbrüchen und Sintfluten zu vergleichen sind. So kann der letztentscheidende Akzent im Werden, dessen kritischer Punkt offenbar der zweite Weltkrieg darstellt, auf unerhört gesteigerter Befreiung von Geist und Seele liegen. Es kann sich zuguterletzt die rein materialistische Zielsetzung, welche heute noch, im Herbst 1943, alles sichtbare Geschehen im großen bestimmt, als Weg zu einer neuen freieren Geistigkeit und einer erlebnistieferen Seelenhaftigkeit erweisen. Zu bewirken, dass es so werde, liegt im Machtbereich des initiatorischen Geists. Darum ist die Aufgabe der echten Geistigen, das heißt der Vertreter substantiellen Geistes, die heute selbstverständlich auf der ganzen Welt den Gegenpol zu den historisch sichtbaren Groß-Kräften besetzt halten, ihre ganze Intensität dafür einzusetzen, dass aus dem Bösen Gutes werde. Das Bessere gelangt innerhalb der Menschenwelt immer nur so zur Macht oder auch nur zur Geltung, dass Minoritäten es sich sehr deutlich vorstellen, sehr tief verstehen, sich vom Geist des Ideales inspirieren lassen und dieses dann stetig durch sich hindurchwirken lassen. Den einzig gangbaren Weg dazu aber hat Lao Tse gerade für diese kämpferische Zeit mit seinem Motto Wirken, ohne zu streiten gewiesen. Wenn die ganze Welt in Waffen starrt und auf Zerstörung ausgeht, gerade dann kann nur derjenige Heilbringer sein, der den Pol späteren Friedens verkörpert. Freilich muss er dazu aber alle Zusammenhänge so groß sehen, wie sie tatsächlich sind. Provinziell gesinnte Heilige und Reformatoren haben keine positive Zukunft mehr.

1 Eins der Kapitel, die im nächsten Band folgen werden [Anmerkung des Keyserling-Archivs]
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
III. Wandel der Reiche
© 1998- Schule des Rades
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