Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Peking: Biologisch-historische Schranken

Wie die Natur aller Schemen spottet! Ich bildete mir ein, die Möglichkeiten des Literaten im Geist erschöpft zu haben, und nun begegnet mir ein Mann, dessen bloßes Dasein meine Verallgemeinerungen Lügen straft: ein Literat mit glühender Seele, von sublimiertester Spiritualität! In China wie überall sind viele Schwarmgeister heute damit beschäftigt, eine neue Weltreligion ins Leben zu rufen, und hier, wie überall, sind diese Propheten meist uninteressant. Es sind Gelehrtennaturen, welche die (vermeintliche) Erkenntnis des einheitlichen Sinnes, der allen höheren Religionen zugrunde liegt, berauscht hat, und die daraufhin, anstatt harmlose Lehrbücher der vergleichenden Religionskunde zu schreiben, als Weltverbesserer auftreten. Der Mann nun, mit dem ich diesen Nachmittag verbrachte, ist von echter Religiosität beseelt; er erinnert in vielem an Calvin, nur — was in China allein wohl möglich scheint — durch manchen franziskanischen Zug besänftigt. Er sieht das Grundgebrechen Chinas in eben dem, was jedem nachdenklichen Besucher als erstes auffällt: dass der Sinn in der Form erstorben ist, und lebt nur für das eine, neuen Geist dem Buchstaben einzuflößen. Der Geist, den er meint, ist dem johanneisch-christlichen nahe verwandt. Aber selbstverständlich sieht er im Konfuzianismus die Form, in der sich der Sinn am besten verwirklichen lässt. Er ist eben Chinese und ein gebildeter dazu, und er wäre es nicht, wofern er anders dächte. Ihm ist das Lose des Taoismus, das allzu weiche des Buddhismus nicht kongenial. Was aber das Christentum betrifft, so seien, meinte er, dessen freilich unantastbare Wahrheiten in einer dem Chinesen fremden Sprache ausgedrückt. Übersetze er sie nun in die seinige, so ergäbe sich nichts anderes als — der Konfuzianismus, vielleicht nicht der traditionelle, aber der, welchen er meint; weswegen von einer Einführung des Christentums füglich abgesehen werden könne.

Während ich ihm zuhörte und das Mienenspiel seines wunderbar durchgeistigten Antlitzes verfolgte, dessen Sprache ich unmittelbar verstehen konnte, musste ich voll Beschämung der Missionare gedenken, welche solche Heiden zu bekehren wagen. Wenn sie doch erst lernen wollten, bevor sie lehren! Gewiss: ganz recht hatte mein Unterredner nicht; das Äußerste des Christentums geht im Konfuzianismus nicht auf. Aber dieses Äußerste werden die Chinesen wohl nie begreifen, ebensowenig wie die Europäer jemals in das Innerste der Inderreligion eindringen werden; hier liegen biologisch-historische Schranken vor. Allein, diese Schranken beengen ja nicht das religiöse Erleben, sie schränken nur das geistige Gesichtsfeld ein. So kann ein orthodoxer Konfuzianer Gott gerade so nahe sein und dem Göttlichen in ihm genau so wahrhaftigen Ausdruck verleihen, wie der erleuchteteste unter den Indern; er kann es gerade, sofern er im Rahmen seiner Natur verbleibt.

Wie schön ist ein guter Chinesenkopf! Hier sieht man Äußerstes an Ausdruckswert erreicht — und mit wieviel einfacheren Mitteln als bei unsereinem! Der Europäer muss schon bedeutend aussehen (z. B. kantige Züge, wirre Haare, einen verbeulten Schädel besitzen), wenn er bildnerisch wirksam sein soll; die Chinesen sind über das Bedeutend-Aussehen hinaus. Hier ist in einfachen Kurven, in gelassenen, ungespannten Zügen eine höchste Bewegtheit verdichtet. Ein guter Chinesenkopf wirkt, so seltsam dies klinge, neben einem gleich guten europäischen als der klassischere.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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