Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Auf dem Yang Tse: Moralität

Der Kapitän erzählt mir von der Zeit, wo er als junger Offizier den Yang-Tse auf- und abfuhr: damals sei alles anders gewesen. Wie anders war es dazumal, mit den chinesischen Kaufherrn zu verhandeln! Unverbrüchlich hielten sie ihre Kontrakte ein, ja meist genügte eine mündliche Abmachung; und ehrlich und zuverlässig waren sie, wie nur irgendeine englische Firma. Heute müsse man ihnen genau auf die Finger passen; sie betrögen, wo immer sie könnten. Das sei der Erfolg des Kontakts mit dem amerikanischen Geschäftsbetrieb. — Nun, die Amerikaner sind es nicht allein, die schlechte Sitten nach dem Osten verpflanzt haben; die allermeisten Europäer benehmen sich dort auf eine Art, die sie zu Hause unmöglich machen würde. Je mehr ich sehe und erfahre, desto gewisser wird mir: wo die innere Bildung keine außerordentliche ist, erhält sich das Gute genau nur insoweit, als es nachweislich zweckmäßig ist. In allen geschlossenen Gemeinschaften ist es das Zweckmäßigste, weswegen Völker sowohl als Standesgenossen, Zünfte sowohl als Verbrecher, wo immer sie weitblickend genug sind, ein gewisses Minimum an moralischen Grundsätzen untereinander einhalten. Und das Gute erweist sich als desto zweckmäßiger, je reger der Verkehr und je größer der Umsatz wird, so dass innerhalb ganz großer Geschäftsbetriebe die Solidität nicht selten absolut ist. So sind wir modernen Europäer, so lange wir untereinander verhandeln, vermutlich die ehrlichsten Makler, die es je gab. Aber dass unsere Moralität nichts Primäres, sondern lediglich das Produkt der Verhältnisse ist, erweist sich mit abschreckender Deutlichkeit, sobald wir uns außerhalb unseres eigenen Kreises betätigen: dort gebärden wir uns als richtige Raubtiere. Piraten heißen uns die gebildeten Chinesen unter sich, und die Bezeichnung ist sicher nicht zu scharf. Seit ich im Osten geweilt habe, kann ich leider nicht mehr daran zweifeln, dass unsere moralische Bildung schlechterdings äußerlich ist.

Glücklicherweise erweist sich das Gute auf die Dauer überall als das Zweckmäßigste, so dass der Weiße auch im Orient irgendeinmal nicht umhin können wird, sich anständig und ehrenhaft zu benehmen. Aber es ist doch beschämend zu denken, dass die Mehrzahl unter uns moralisch ganz roh geblieben ist trotz Christentum, Humanitätsideal und noch so zweckmäßigen Systemen. Zerschlüge ein Gott auf einmal unseren äußerlichen Apparat, wir stünden als reine Barbaren da. Den Chinesen brauchte solch’ drohender Gott keinen Schrecken einzuflößen: was ihnen an Moralität innewohnt (und das ist mehr, als die meisten von uns besitzen), ist innerlich, nicht äußerlich bedingt. Gewiss ist es vom Äußerlichen nicht unabhängig — wäre es das, die Chinesen müssten Halbgötter sein; ohne den Zwang eines engsten Zusammenlebens unter schwierigen Verhältnissen wäre die Bildung des Individuums nie so weit gediehen; sind die Kaufleute heute weniger ehrlich als ehedem, so tragen sie damit gleichfalls den äußeren Umständen Rechnung. Aber der Sinn für das Moralische stellt einen primären Faktor ihrer Seele dar, nicht einen sekundären, wie bei uns. So erscheinen sie, vom Standpunkte Gottes aus betrachtet, uns moralisch überlegen auch dort, wo sie unmoralischer handeln. Während meines Aufenthaltes in China kam mir wiederum öfters die These Paul Dubois’ in den Sinn, dass ein unsicheres Gefühl für den Unterschied zwischen Gut und Böse ein Zeichen von Dummheit sei; es handele sich um ganz objektive Verhältnisse, die man entweder erkenne oder nicht, über die es jedoch ebensowenig zwei gleichwertige Ansichten geben könne, wie darüber, ob 2×2 4 oder 5 ausmachen. So dumm (oder richtiger ungebildet) in dieser Hinsicht, wie die allermeisten europäischen Männer (die Frauen sind viel gebildeter), scheint kein Chinese; mag er noch so bedenkenerregend handeln — das Handeln hängt vom Charakter ab — er weiß wohl immer, was recht wäre. Er weiß es aber, weil diese Seite seiner Seele dank dem Konfuzianismus auf hoher Bildungsstufe steht. Wäre es nicht an der Zeit, dass auch wir unsere Kinder konfuzianisch erzögen? Früh oder spät kommt es sicher dahin; hoffentlich geschieht es nicht zu spät. Unsere hochfahrenden Ethiker und Moralisten sollten alle ein Jahr lang gezwungen werden, mit gebildeten Chinesen umzugehen (gleichwie ich allen religiös Interessierten nahegelegt habe, ein Jahr in Benares zuzubringen): die, deren Seelen nicht völlig blind sind, werden mit Erstaunen gewahren, dass diese Herren, so unmoralisch sie nach europäischen Begriffen sind, so viel sie schauspielern, verheimlichen, lügen, so ungeniert sie in Bordellen verkehren, ja so wenig imponierend in der Regel ihr Charakter ist, an moralischer Bildung doch unvergleichlich viel höher stehen, als die meisten unserer Landsleute. Der bloße Begriff einer moralischen Bildung ist dem Durchschnittseuropäer fremd. Er wähnt, mit dem Charakter sei alles gesagt und getan. Was bedeutet aber Charakter? Die Festigkeit eines gegebenen psychischen Gefüges. Nun ist diese Festigkeit eine reine Frage der Physiologie und hat mit Moralität nichts zu schaffen. So schön es ist, wenn ein moralisch Gebildeter Festigkeit beweist, so entsetzlich ist es, wenn ein Roher gleiches tut. Wir haben durch Züchtung auf Charakter ein besseres Seelen-Rohmaterial in die Welt gesetzt, als der ganze Osten es aufweisen kann. Aber mehr ist bis heute nicht geschehen. Es wäre Zeit, mit der Ausbildung anzuheben.

Ich wünschte, den Missionen würde seitens der Regierungen ein Riegel vorgeschoben. Ihre einzelnen Glieder sind oft ganz ehrenwert, allein sie stehen an moralischer Bildung fast ausnahmslos zu tief unter denen, die sie bekehren kommen, um nicht viel mehr zu schaden, als zu nützen. Zu gebildeten Leuten soll man keine Rüpel als Lehrer aussenden; selbst wenn diese die besseren Menschen sind.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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