Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Durch Yamato: Rücksichtskultur

Ich raste in einem wohlhabenden Dorf, an schäumendem, forellenreichen Bache. Wo in der Welt ist der kleine Mann auch nur annähernd so gebildet wie in Japan? Was immer er tut, zeugt von Kultur; nichts Unsauberes, Häßliches duldet er; exquisiteste Rücksicht bestimmt das Verhalten aller zu allen. Und was zumal die Kinder betrifft, so habe ich gleich reizende nirgends gesehen. Kaum je erweisen sie sich ungebärdig, was offenbar darauf beruht, dass sie mit vollkommenem Verständnis behandelt und doch niemals verwöhnt werden: schon den kleinsten wird Rücksichtnahme auferlegt. Unglaublich wenig Selbstsucht waltet hier; jeder scheint freudig für andere zu leben, seinen Teil dazu beizutragen, dass das Ganze möglichst harmonisch würde.

Nicht anders in der Idee ist es in China. Wie der Konfuzianismus nach Japan kam, da haben ihn seine Bewohner sofort übernommen als verklärten und vertieften Ausdruck dessen, was seit je bei ihnen gang und gäbe war, und der vollkommene Ausdruck hat dann seinerseits eine Vertiefung und Konsolidierung der Sitte bewirkt. Immerhin: welcher Unterschied gegenüber dem Reich der Mitte! Der Konfuzianismus ist bedächtige Bauernweisheit, die japanische Rücksichtskultur scheint mir ein Instinktives, fast möchte ich sagen, ein Tierisch-Triebhaftes zu sein. Die Japaner sind reinlich, wie Katzen reinlich sind, sie sind höflich im Sinn der Pinguine, nehmen Rücksicht aufeinander mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit welcher Mütter ihre Kinder lieben; so eignet diesen Äußerungen die Vollkommenheit des Tiers. Die Japaner haben nichts von der chinesischen Tiefe und Gravität. Sie scheinen mir oberflächlich, phantasiearm, in beinahe unmenschlichen Grade matter-of-fact; gleichzeitig aber von ungeheurer Sensitivität, von einer Empfindlichkeit im weitesten Sinne, wie kein Chinese sie besitzt. Ihr ganzes Empfindungsleben scheint im selben Sinne durchlässig, wie es bei uns nur im einen Fall des Mitleids ist. Bei ihnen beruht auf physiologischer Sensitivität, was beim Chinesen auf metaphysischer Besonnenheit.

Ich gedenke Ninomiya Sontoku, jenes bäuerlichen Weisen, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so unvergleichlich viel für seine Landsleute getan und bedeutet hat, dessen Lebensbeschreibung und Lehren die Regierung seither als Evangelium im Volk verbreitet;1) jenes schlichten Landmanns, welcher, kaum dass er sich hinaufgearbeitet hatte aus bitterster Not, ein Leben vollkommener Selbstlosigkeit begann, und bis zur Stunde seines Todes rastlos und ausschließlich darum bemüht war, die Verhältnisse anderer zu sanieren: dem Buchstaben nach war er ein echter Konfuzianer, wie er sich denn selbst für nichts anderes hielt. In Wahrheit war er ein völlig Einziges, ein Mann, wie er in ganz Asien nur auf Japans Boden möglich war. Ihm fehlte der weite Horizont des chinesischen Weisen, dessen Allverständnis und Weltgefühl; philosophisch betrachtet war er oberflächlich. Aber dank seinem Sympathievermögen und der Energie, welche diesem zur Verfügung stand, hat er praktisch, wenn auch im noch so Kleinen, mehr vollbracht. Sontoku war im Tiefsten recht eigentlich Christ; seine Probleme waren die der christlichen Nächstenliebe. — Sollte hier die Hauptursache dessen liegen, weshalb Japan sich so schnell und erfolgreich hat verwestlichen können? Auch wir sind ja weniger besonnen und tief als Chinesen und Inder; wir sind nur energischer und sensitiver. Wahrscheinlich ist das, was man christliche Liebe heißt, weit mehr physiologisch als theologisch bedingt.

1 Dieses Werk heißt Hotokuki; eine englische Übersetzung hat Todasu Yoshimoto unter dem Titel A Peasant Sage of Japan bei Longmans, Green & Co. in London veröffentlicht.
Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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