Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Isē

Ich weile an der heiligsten Stätte des Shintō-Kultes, am Tempel Amaterasu O-Mikamis, der göttlichen Ahnfrau des Kaiserhauses. Wie viel mehr Atmosphäre hat dieser einfache, blockhausartige, strohgedeckte Bau, der alle zwanzig Jahre neu errichtet wird, als die goldstrotzenden Buddhatempel! Hier hat Japans bester Geist sein Heiligtum. Der Geist der Schlichtheit, der Reinheit, der Loyalität, der Aufopferung für Kaiser und Vaterland, zugleich der Kühnheit, des Wagemuts, des ritterlichen Abenteuerfilms; der Geist des Japaners, wie er sich selbst im Spiegel seines Idealismus sieht. Jeden Pilger, der dem Heiligtume naht, überkommt er; er ergreift ihn, erhebt ihn, weitet ihn aus, entrückt ihn seinem kleinlichen Ich; nun fühlt er sich eins mit der unendlichen Reihe derer, welche vor ihm waren, eins in Japan, dem unsterblichen Reich. Auch mich ergreift dieser Geist; aus der Tiefe meines Bewusstseins steigen kaum gekannte und doch vertraute Gefühle auf, schließen sich zusammen zu einer neuen Seele, der Seele etwa eines Griechen des Uraltertums. Ja freilich bin ich nur ein Glied der unendlichen Lebenskette, freilich eins mit allen, welche vor mir waren; ja freilich wurzelt mein Sinn nicht in mir, sondern im Überindividuellen, im Geschlecht, dem ich entstamme, das ich verkörpere, und das ich fortzusetzen verpflichtet bin; und suche ich nach einem Symbol dieses Überindividuellen, das ich so deutlich spüre und doch so schwer bestimmen kann, dann komme ich von selbst auf den Begründer meines Stamms, den fernen Ahn, dem alles spätere Leben seine Entstehung dankt. Er ist es, der alle Nachfahren beseelt, der in mir fortwirkt; ihm schulde ich vor allem Ehrfurcht, Liebe und Dank. Und indem ich seiner betend gedenke, werden die edelsten Regungen meiner Seele wach. Ich will es ihm gleichtun, dem hochherzigen Heros, will seiner würdig sein. Er war aller Vollkommenheit teilhaftig, weit größer als ich mir ihn ausmalen kann. Besser kann ich ihm nicht dienen, als indem ich dem Höchsten zustrebe, und aller Idealismus wird mir so Anlass zum Kult. — Wie töricht, die Ahnenverehrung als Aberglauben zu belächeln! Wohl kennzeichnet sie ein früheres Stadium, allein sie bringt, wo sie echt und lebendig ist, ein Wirklichkeitsbewusstsein zum Ausdruck, wie auf höheren Naturstufen nur höchste Religiosität. Es ist wirklich so, dass der Mensch mit allem, was vor ihm war und nach ihm sein wird, innerlichst zusammenhängt; das ist dem naturnahen Urmenschen bewusster als dem Spätling. Auf höheren Stufen ist es nur die Frau, in deren Bewusstsein die Urbezüge des Lebens lebendig fortleben; sie allein noch fühlt sich unmittelbar eins mit ihrem Geschlecht; ihr Verstand ist selten eigenwüchsig genug, um die naturhaften Gefühle zu ersticken. Und dann sind es die Erben einer alten Tradition, die bodenständigen Adelsgeschlechter, deren Sinn bewusst im Überindividuellen wurzelt: hier sorgen Verantwortungsgefühl und Stolz dafür, dass der Urgeist erhalten bleibt.

Das Bewusstsein nun des Weibes und des Edelmanns ist nicht oberflächlicher, es reicht tiefer hinab als das des entwurzelten Intellektuellen. Wohl ist ihre Tiefe nur eine Tiefe — die der Natur; das Einheitsbewusstsein des Ahnenverehrers reicht nicht hinaus über sie: aber wo die Seele noch physiologisch gebunden ist, kann es kein unmittelbares Bewusstsein des Atman geben. Wohl sind die Vorstellungen, in denen sein Wirklichkeitsbewusstsein sich verkörpert, selten tiefsinnig: aber von primitiven Menschen ist nicht zu verlangen, dass ihre Gedanken ihren Ahnungen adäquat wären. Deshalb findet der verstandbefangene Betrachter an den Formen des Vorfahrenkultes selten Gefallen, zumal am japanischen, dessen Ideengehalt kaum zu fassen ist. Dem Japaner liegt das Denken so wenig, er hat so wenig Sinn für das Abstrakte, empfindet so wenig Verdruß über intellektuelle Unzulänglichkeit, dass es ein hoffnungsloses Beginnen erscheint, seinen Nationalkult eigentlich zu begreifen. Dieser ist, dem Äußeren nach beurteilt, ein seltsames Gemisch von Ahnen- und Natur-Verehrung, von Magie und von point d’honneur, von Sitte und Sehnsucht nach dem Höchsten, von rohem Aberglauben und urwüchsigem Wirklichkeitssinn; wenn einem von Japanern erklärt wird, die Mikadoverehrung basiere darauf, dass dessen Vorfahren über ihrer aller Vorfahren geherrscht hätten, so ist das keine Erklärung, kaum eine Erläuterung: es ist eine bloße Darstellung des Tatbestandes, den der, welcher nichts Ähnliches aus eigenem Erleben kennt, niemals begreifen wird. Nichtsdestoweniger ist die Mikadoverehrung ein Tiefstes, bedeutet sie wirklich ein metaphysisch Äußerstes. Die spezifische Erscheinung ist eben nur ein Ausdruck und ein nur Japanern gemäßer, ihnen aber entspricht er wie kein anderer es täte. Dieser Tage wurde im bakteriologischen Institut von Tokyo ein Shintō-Schrein für Robert Koch enthüllt. Keiner der Professoren und Studenten, die alle vermutlich Agnostiker sind, dürfte annehmen, dass Koch ein Gott geworden sei; nicht viele vielleicht glauben an sein Fortleben nach dem Tode. Ihnen allen aber erschien die Errichtung eines Tempels und ein Kult nach dem Shintō-Ritual als entsprechendster Ausdruck ihrer Verehrung für den großen Gelehrten.

Freilich tut die Regierung gut, nach Kräften auf ein Wiederaufleben des Shintō-Kultes hinzuwirken: wie kein anderer ruft er die tiefsten Schwingungen der Japanerseele wach oder bringt sie, wo vorhanden, zum Ausdruck. Es ist neuerdings von Basil Hall Chamberlain darauf hingewiesen worden, dass der Shintōismus, wie er heute als Staatsreligion herrscht, eine neue Erfindung sei; über 1000 Jahre entlang sei der Buddhismus die japanische Religion gewesen, und was heute als Urglauben gelehrt werde, sei ein künstliches Fabrikat. Die Tatsachen werden damit wohl richtig bestimmt sein — aber wie wenig ihr Sinn! Nur deshalb war es möglich, in weniger als 50 Jahren ein Artefakt als ererbten Glauben einzuführen, weil dessen Form dem innersten Leben der Japanerseele gemäß war; man hätte versucht, das Christentum also einzubürgern — nie wäre es gelungen. Auch ich bin der Meinung, dass die besonderen Kult- und Glaubensgestaltungen Erfindungen der Priester sind; irgendeiner muss sie doch erfunden haben. Aber dort, wo es jenen gelang, ihre Erfindungen einzuführen, brachten diese allemal eine allgemeine Tendenz zum bestmöglichen Ausdruck. Ja, die Regierung handelt weise daran, dass sie die Shintō-Religion mit allen Mitteln kräftigt und unterstützt; und sie weiß gewiss, weshalb sie dieses tut. Japan befindet sich in der nicht ungefährlichen Lage, dass ein ausgesprochen unindividualisiertes, unpersönliches Volk sich dem Einflüsse einer Zivilisation, welche äußerste Individualisiertheit zur inneren Voraussetzung hat, unbedingt hingegeben hat. Deren Außenseite kann ihm nur Gutes bringen; das hat Japan bereits glänzend bewiesen. Aber wenn ihr Geist von den Japanern zu früh Besitz ergreift, dann steht Schlimmes bevor. Sie sind nicht so weit, dass jeder von sich aus im Sinn des Ganzen handeln könnte; ihr metaphysisches Wissen hat noch keine andere Äußerungsmöglichkeit, als die durch physiologisches Zusammenhangsgefühl hindurch. Verliert dieses Volk sein primitives Gruppenbewusstsein, sein Selbstgefühl im Sinn der cité antique, dann zerfällt sein Zusammenhang. Alle Japaner, in denen der Geist Alt-Japans (Yamato-damashii) nicht mehr lebt, sind abstoßend oberflächlich.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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