Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Nikko

Es gibt doch Großartiges in Japan. Die Landschaft Nikkos, mit ihren schroffen Felsen, ihren tosenden Wasserfällen, ihren gigantischen Tannen und Cryptomerien ist grandios; und sie wirkt so vor allem, weil sie gewaltiges Menschentum einrahmt. Im Ieyasu-Tempel weht ein Geist der Großheit, wie ich solchen seit Peking nicht mehr wehen gespürt.

Ieyasu, der Begründer der Tokugawa-Dynastie, die über zweieinhalb Jahrhunderte unter der Schein-Oberhoheit der Mikados die Geschicke des Landes gelenkt hat, war ein gewaltiger Mann; den gewaltigsten aller Weltteile vergleichbar. Und wie quantitative Verschiebung in der ganzen Natur qualitative Veränderung mit sich bringt, so hat in ihm der japanische Herrschertyp eine grundsätzliche Metamorphose erfahren: nun war es weder mythischer Nimbus noch höfisches Prestige, weder der Vorteil der Geburt noch die Klugheit oder der starke Arm, welcher der Macht ihren Hintergrund gab — es war jene echt herrschaftliche Überlegenheit, die alles einzelne in sich beschließend, doch über ihm thront; jene intrinseke Majestät, die alle ganz großen Könige auszeichnet. Diesen Geist hat Ieyasu seinen Nachkommen vermacht; noch heute waltet er über Nikko, über den Grabdenkmälern der Tokugawas und ihrer Vasallen, eine psychische Atmosphäre bedingend, wie sie an keiner anderen Stätte Japans herrscht.

Wunderbar, dass dieser eine Mann einen Typus hat schaffen können, der gegenüber allem sonstigen Japanertum in einer anderen Dimension belegen scheint! Und wunderbar vor allem, dass dieser Typus fortgedauert hat! Ich kenne kein eindrucksvolleres Beispiel dessen, wie ausschlaggebend der Rahmen für den Charakter des Bildes sein kann. Je nach der äußeren Lage, in der ein Mensch sich befindet, werden andere Kräfte in ihm frei; das Lebensprinzip modifiziert seine Erscheinung entsprechend seiner Ausdrucksmöglichkeit. Prestige, Macht, Reichtum, das gläubige Aufschauen von Untergebenen sind ebensoviel gestaltende Kräfte, welche die Seele bilden und erziehen und oft von heute auf morgen eine radikale Metamorphose herbeiführen. Diesen Tatbestand erkennt der Volksmund an, indem er sagt: wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand; nur vergisst er dabei eines wesentlichen: dass nicht jeder, mit noch so viel Verstand, jedes Amt gut verwalten wird. Das Entscheidende ist der lebendige Geist, welcher sich des Verstandes bedient, und dieser ist bei jedem ein Konstantes, nur in seltenen Ausnahmefällen der Steigerung fähig; der Geist, in dem einer erzogen ward, dominiert meist bis zuletzt. Das ist der wahre Sinn des Legitimitätsgedankens, zugleich des Misstrauens gegen den homo novus: auf einen Ieyasu, einen Açoka, einen Napoleon kommen Tausende von begabten Emporkömmlingen, die ihrer neuen Stellung nicht gewachsen waren. Um die Kräfte, welche die Herrscherstellung vielleicht in jedem freiwerden lässt, voll auszunutzen, muss diese einem selbstverständlich sein, muss das Herrscherbewusstsein mit dem normalen zusammenfallen; und so an sich zu glauben, wie dies erforderlich ist, auf dass einem ein jüngst erst Undenkbares selbstverständlich würde, vermag nur der seltene Genius. Dies gibt dem in einer Stellung geborenen einen absoluten Vorzug vor dem Emporkömmling, gibt dem unbedeutenden Erbherrn eines Staates noch ein prae vordem bedeutenden Parvenü. Ich habe im Laufe meines Lebens die Mentalitäten der verschiedenen Menschentypen, mit denen mich das Schicksal zusammenbrachte, recht aufmerksam studiert: regierende Fürsten, Staatsmänner, Geldkönige, aufsteigende Talente: bei allen zum Herrschen Geborenen, die nicht entartet waren, habe ich eine normale Bewusstseinslage angetroffen, die einem gewöhnlichen Sterblichen wohl erreichbar, aber nie normal ist, und absolute Überlegenheit bedingt. Natürlich hat auch sie ihre spezifischen Grenzen; wo der Rahmen dem Bilde nicht entspricht, wie dies ja heute mehr und mehr der Fall wird, tritt die Überlegenheit als Unterlegenheit in die Erscheinung. Aber die Berufenheit geborener Herrscher zum Herrschen springt dennoch so sehr in die Augen, dass ich mich oft kopfschüttelnd gefragt habe, wie die Menschheit wohl so blind sein kann, wo sie Rennpferde und Milchkühe züchtet, die Regentenzucht aufgeben zu wollen. Die Gegenprobe führt zum gleichen Ergebnis. Wo ich Gelegenheit hatte, den Aufstieg eines bedeutenden Mannes zu verfolgen, dort konnte ich zunächst jedesmal ein Wachsen des Menschen konstatieren: sein eigentliches Wesen fand mehr und mehr Ausdrucksmittel; aber sobald die Erweiterung des Rahmens über einen gewissen kritischen Punkt hinausgeführt hatte, welcher je nach seinem Kaliber näher oder ferner lag, dort wurde er auf einmal wieder kleiner; seine Mittel waren größer geworden als er selbst. Die Grenze dieser Verkümmerung bezeichnet das Zerrbild des Parvenüs. — Ieyasu hatte sein Geschlecht in eine Stellung emporgehoben, die der Bedeutung nach einzig dastand in ganz Japan. Er selbst war einer der wenigen Emporkömmlinge, der nicht nur zum Aufstieg, sondern dem Leben auf der Höhe prädestiniert waren. Seinen Lebensrahmen hinterließ er seinem Geschlecht. Und dieser Rahmen hat soviel formende Kraft bewiesen, dass die Shoguns über zweihundert Jahre lang einen großen Stil besessen haben, wie kein Japaner weder vor noch nach ihnen; und dass heute noch über ihren Gräbern der Geist der Großheit weht.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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