Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VII. Nach der neuen Welt

Nach Amerika: Demokratie

Überhaupt hat der Demokratismus viel Gutes; jede auf dem Entwicklungsgedanken aufgebaute Weltanschauung formt optimistische Menschen, und nichts beschleunigt den Erfolg so sehr, wie Selbstvertrauen. Was nun den modernen Evolutionismus von allen bisherigen auszeichnet, ist die Kürze des zur Entwicklung verlangten Zeitmaßes. Die altindische Weltanschauung, welche ganz gleich der modern-demokratischen lehrt, dass jeder im Prinzip des Höchsten fähig sei und dass die Kasten nur Etappen auf dem Wege des Fortschritts bedeuten, verklausulierte ihren Freibrief dahin, dass jedes gegebene Leben in seinem angeborenen Rahmen verharren müsse und ein Durchbrechen der Kaste nur von Leben zu Leben, durch den Übergangszustand des Todes hindurch, denkbar sei; im gleichen Sinn räumt jeder nicht ganz bornierte Aristokrat wohl ein, dass ein Aufrücken der Familien stattfindet, so dass es ungerecht wäre, den Vorgeschrittensten die Aufnahme in seine Standesgemeinschaft zu versagen — hält aber zugleich daran fest, dass es mindestens dreier Generationen bedarf, um einen Gentleman hervorzubringen. Der moderne Demokratismus hiergegen behauptet, dass der Prozess in einem Leben durchlaufen werden kann.

Es ist nun einerseits wohl gewiss, dass derart schnelles Wachstum nicht ersprießlich ist; ganz wenige Menschen vertragen es, aus einem engen in einen weiten Rahmen hinüberversetzt zu werden; wäre es anders, die modernen Europäer und Amerikaner wirkten weniger roh. Aber andrerseits potenziert der demokratische Glaube den Optimismus so ungeheuer, dass dieser zu einer elementaren Kraft erwächst, deren Tugend das scheinbar Unmögliche möglich macht. Er bewirkt, was noch immer nicht selten der ursprünglichen Gleichheit aller Menschen zugeschrieben wird, dass die alten, durch die Geburt gesetzten Schranken heute wirklich weniger als früher gerechtfertigt erscheinen; dank ihm ist wirklich wahr, dass der Entwickelungsprozess sich abkürzen lässt. Und wenn zunächst mehr die Nachteile des Flüssiggewordenseins der alten Formen ins Auge fallen, so bedenke man, dass dieses nach kurzer Zeit voraussichtlich schon anders sein wird; bald wird es in den vorgeschrittensten Ländern ganz niedere Volksschichten überhaupt nicht mehr geben; alle werden geschult, bis zu einem gewissen Grade sogar gebildet sein. Und wenn über diesem Ereignis auch nur eine Generation verstrichen sein wird, dann werden Emporkömmlinge im alten Sinn nicht mehr erstehen, denn ganz unvorbereitet zu einer höheren Lebensstellung wird keiner mehr sein. Das demokratische Ideal bedingt ein geistiges Aufkreuzen der niederen Volksschichten; bald werden sie in weitem Maße veredelt sein. Ist dieses aber erreicht, so wird der Glaube an die Gleichheit aller von selbst vergehen und die Basis geschaffen sein für die aristokratische Ordnung der Zukunft.

Unter den Weisen Alt-Indiens galt als eine der Grundeigenschaften, die ein Jüngling besitzen musste, um der Aufnahme als Chelā wert zu gelten, die Genussfähigkeit. Das ist wohl nur ein anderer Ausdruck für optimistisches Temperament. Wer nun qualifiziert erschien zur Aufnahme, dem wiesen sie den Weg, im Laufe eines Lebens so weit zu kommen, wie er sonst nur im Laufe der Jahrtausende durch viele Körper hindurch gelangt wäre; auch die indische Weltanschauung gibt also die Möglichkeit zu, die Entwickelung abzukürzen. Aber sie statuiert sie nur für einen unter Millionen; die demokratische setzt sie für alle voraus. Das scheint verwegen. Doch wenn man bedenkt, wie niedrig das höchste Ideal, das die Demokratie bisher aus sich entwickelt hat, im Vergleich zum indischen ist, dann neigt man zur Zustimmung. Dieses Ideal können wohl alle vielleicht erreichen. Und sind sie erst dort, so werden höhere von selbst an ihrem geistigen Horizonte aufgehen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VII. Nach der neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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