Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

Chicago

Meine freundliche Stimmung ist dahin. Chicago ist fürchterlich. Alles Leben hier geht auf in maschinellem Betrieb, so sehr, dass selbst der Zugereiste sich ihm unwillkürlich einfügt, aus Furcht, sonst zugrunde zu gehen. Und sein Instinkt irrt nicht: wer in Chicago nicht Apparat sein kann oder will zu bestimmter Funktion, mit seinem ganzen Wesen ihr verschrieben, der muss verderben.

Ich bin tief deprimiert. Gegen die Mechanisierung des Lebens an sich habe ich nichts, im Gegenteil: ich wünschte, dass alles Mechanisierbare möglichst bald möglichst vollständig mechanisiert würde, auf dass der Geist für das Übermechanische desto mehr Kraft und Muße übrig behalte; wie die antike Kultur ihren hohen Vollendungsgrad dem dankte, dass Sklaven den Gebildeten alle Arbeit abnahmen, die ohne freie Initiative geleistet werden konnte, so wird die moderne erst dann zu vergleichbarer Reife gelangen, wenn Maschinenbetrieb den Menschen entlastet haben wird. Das Fürchterliche an dieser Welt ist der Umstand, dass sich das Leben im Mechanisierbaren erschöpft; hier knechtet das Werkzeug den Menschen, der es beherrschen soll. Wie kam es dahin? — Der Menschenmangel machte es zunächst zur Notwendigkeit, alles Mechanisierbare zu mechanisieren; dann bannte die Rentabilität dieser Betriebsart alles Interesse mehr und mehr; so dass das Übermechanische zum Leben immer überflüssiger erschien und mehr und mehr im Bewusstsein zurücktrat. Leider ist es ja nicht wahr, dass ein seelenloses Leben kein volles Lebensbewusstsein geben könne: alle verfügbare Kraft und Intensität kann im Maschinenmäßigen aufgewandt werden, so sehr, dass eben der, welcher mir unsäglich dürftig vorkommt, sich subjektiv als Vollmensch fühlt und herabsieht auf die blutlosere Seele. Der Vorwurf gegen die Mechanisierung ist unberechtigt, dass sie die Menschen im biologischen Verstände unlebendig mache: der Chicagoaner ist durch und durch vital, wähnt seine Lebensführung eben deshalb allen anderen überlegen, weil sie das Daseinsgefühl wie keine andere steigere. Das tut sie wirklich, weil sie alle vorhandene Kraft in einen engsten Kanal der Betätigung hineinzwängt, wodurch jene eines ungeheuren Intensitätsgrades teilhaftig wird. Die amerikanischen Geschäftsleute sind echte Yogis insofern, als sie alle Aufmerksamkeit auf Eines konzentrieren und alle typischen Früchte der Yoga werden ihnen im Prinzip auch zuteil, als da sind: Potenzierung der Lebenskraft und des Lebensgefühls, Steigerung der Fähigkeiten, Vergrößerung des psychischen Betriebskapitals. Das Entsetzliche an diesem Amerikanertum ist, nicht dass es die Menschen unlebendig macht, sondern dass es den psychischen Organismus in unerhöhtem Grade vereinfacht. Dieses Amerikanertum beweist, dass sich ohne Seele, ohne geistige Interessen, ohne Gefühlskultur ein innerlich volles Leben führen lässt. Natürlich lässt sich das; kein Molch, kein Wurm sehnt sich über seinen Zustand hinaus. Wenn es heißt, die beschränkten Menschen seien die glücklichsten, so besagt das gleiches: es ist viel einfacher, sich in kleinem Rahmen der Ganzheit seines Lebens bewusst zu werden als in großem. Aber die Beschränktheit verkörpert kein Ideal; ideal wäre der Zustand allein zu nennen, in dem der Mensch sich vermittelst des Weltalls seiner Ganzheit bewusst wurde, in dem er nichts auszuschließen brauchte, um ganz er selbst zu sein.

Das Furchtbare am Amerikanismus ist, dass es den Menschen arm macht. Wie er alle Werte auf den einen der Quantität reduziert, so reduziert er die ganze Psyche auf einen Apparat zum Geldverdienst. Damit drückt er den Menschen zurück auf die Stufe des niederen Tiers. Betrachtet man den Tatbestand in diesem Licht, so erscheint er dermaßen entsetzlich, dass man ihn für gefahrlos halten möchte. Tatsächlich besitzt er ungeheure Werbekraft, gewiss die größte dieser Art zu unserer Zeit. Er besitzt sie erstens, weil jedem am Erfolg liegt, und die amerikanische Lebensformel diesem am günstigsten ist; wer keine Zeit mit Idealen, Ideen und Gefühlen verliert, wer keine gemütlichen und moralischen Hemmungen kennt, kommt am schnellsten vorwärts. Allein nicht hierin liegt die Hauptanziehungskraft: diese beruht darauf, dass in der Form des Amerikanismus jeder, auch der dürftigste Geselle sich der Fülle seines Daseins bewusst wird; diese Formel ist so eng, so beschränkt, dass sie Jedes Lebenskraft spannt. Hierin nun liegt eine furchtbare Gefahr: heute leuchtet der Menschheit ein niederer Zustand als höchster voran. Wird dieses Ideal nicht bald entthront, so führt es uns unfehlbar zur Barbarei, keiner vorläufigen, sondern einer endgültigen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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