Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

II. Ceylon

Kandy: Proteustum

Es ist Zeit, dass ich mich wieder einmal meinem Körper zuwende und untersuche, was aus ihm in den Tropen geworden ist. Ich finde ihn nicht unwesentlich verändert. Mit ihm ist Gleichartiges vorgegangen wie mit meiner Seele: auch er hat sich buddhaisiert. Auf die äußeren Einflüsse reagiere ich anders als sonst, genieße und leide in anderer Form, habe andere Bedürfnisse, und die fortschreitende Metamorphose bringt mich dem Singhalesen näher von Tag zu Tag. Sicher würde ich schon heute im Fall einer Erkrankung andere Heilmittel anzuwenden haben als daheim; aller Wahrscheinlichkeit würden sich mir ceylonesische Hausmittel bald wohltätiger erweisen als die Rezepte unserer Tropeninstitute. Aber von einer Verrückung des Gleichgewichts ist nicht die Rede. Also besteht für mich kein Zweifel mehr, dass die Akkli­ma­ti­sa­tions­fähigkeit ganz vom Grade des Einbildungsvermögens abhängt. Dass Bewohner heißer Landstriche im Norden besser fortkommen als das Umgekehrte geschieht, dass die meisten Tropentiere ein nordisches Klima gut vertragen, während es die nordischen in den Tropen selten lange aushalten, liegt — wenn ich von spezifischen Verhältnissen absehe — daran, dass kargere Lebensbedingungen die Vitalität unter allen Umständen anregen, während allzu üppige nur von dem vertragen werden, der von Geburt an auf sie eingestellt ist. Aber das Tier hat auch wenig freie Phantasie. Der Mensch, der solche in genügendem Maße besitzt, sollte in jedem Klima existieren können, und kann es auch. Er muss bloß seine Lebensweise dessen jeweiligen Besonderheiten anpassen, damit das biologische Gleichgewicht nicht aufgehoben wird, und dieses lehrt jeden Einbildungskräftigen der Instinkt. Freilich kommt der Phantasielose bei solchem Experimente um. Gleichwie das Tier, dessen Sosein sein einzig möglicher Ausdruck ist, in ungewohnten Verhältnissen schnell verkümmert, vermag sich kein wandlungsunfähiger Nordländer in den Tropen zu behaupten.

Interessant ist nun, in diesem Zusammenhange zu beobachten, wie hier der Engländer trotz beibehaltener britischer Lebensweise — an sich der ungesündesten, die für die Tropen denkbar ist — doch leidlich gedeiht. Das liegt an nichts anderem, und ist zugleich ein neuer Beweis dafür, dass der Brite von allen Europäern die konzentrierteste Einbildungskraft besitzt. Es gibt nämlich zwei Arten von Starrheit: eine, die dem Unvermögen entspringt, und eine andere, die äußerste Gespanntheit bedeutet. Die letztere Art ist von den Stoikern her bekannt genug: den Weisen bringt nichts außer Gleichgewicht, weil er ganz in sich selbst geschlossen ist. Bei dem nun, dessen Körper es in allen Breiten ohne Umwandlung unbeschadet aushält, handelt es sich augenscheinlich um ein gleiches. Dank jahrhundertelanger physischer Kultur ist der britische Organismus so sehr zu einer Welt für sich geworden, dass er durch äußere Umstände nur langsam, wenn überhaupt, beeinflusst wird. Deswegen ist es für ihn wirklich wichtiger, auf seine persönlichen Neigungen als auf das Klima Rücksicht zu nehmen. — Diese Anlage des Engländers ist zum praktischen Leben von allen die günstigste; schon wegen der außerordentlichen Vereinfachung des Lebensproblems, das sie bedingt. Aber wer der Erkenntnis lebt, mag seinem Schöpfer danken, dass seine Phantasie noch nicht zur Kohäsionskraft ward, sondern sich in der Wandelbarkeit äußert. Auch er befindet sich ja, dank seiner Plastizität, mit der Welt in dauerndem Gleichgewicht, und das seinige ist das zuverlässigere insofern, als keine erlittene Störung etwas Ernstes zu bedeuten braucht, was beim Starren fast immer der Fall ist. Aber vor allem ist der Bewegliche allein imstande, den Eigen-Sinn seiner Umgebung zu erfassen, weil er allein von ihm unmittelbar berührt und in Mitleidenschaft gezogen wird.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
II. Ceylon
© 1998- Schule des Rades
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