Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Madura

Der Tempel von Madura bei Nacht ruft Vorstellungen des Schreckens in meiner Seele wach. Indem ich mich in den düsteren, von Öllampen matt erhellten Gängen ergehe, und dem Schattenspiel der seltsamen Gebärden zuschaue, welche die Beter um butterbeschmierte Lingams herum vollführen, während über mir Scharen von Fledermäusen kreischend und zirpend hin und her flattern; indem ich die vielarmigen Götter betrachte, die sich im unsicheren künstlichen Licht so viel furchtbarer ausnehmen als bei Tag, muss ich der Riten der Phöniker gedenken, die Flaubert uns so eindrucksvoll geschildert hat. Wohl weiß ich’s: nichts Furchtbares geschieht; der Hinduismus, der heute an den heiligen Stätten Süd-Indiens gepflegt wird, ist sanft und mild. Aber seine überkommenen Formen tragen unverkennbar die Züge der wilderen Zeiten, in denen sie entstanden sind. Kali hat Menschenopfer gefordert, fordert sie eigentlich heute noch. Und Kali ist die Gattin des Shiva, dem der Tempel von Madura geweiht ist, und Shiva selbst ist, in vielen seiner Aspekte, furchtbar genug Ich kann mir nicht helfen: alle Vorstellungen sind schreckhaft, welche die Bilder dieser Nacht in mir auslösen. Aber das Schreckhafte begeistert mich. Heute verstehe ich gut, weshalb alle frühesten Gottesdienste furchtbar waren, sein mussten. Mir kommen die Worte in den Sinn, die Dostojewsky dem Dimitry Karamasoff, dem Urmenschen unter den Brüdern, in den Mund legt:

Was dem Verstand als Schmach und Schande gilt, erscheint dem Herzen als eitel Schönheit. — Sollte die Schönheit in Sodom liegen? — Glaube es mir, in Sodom wohnt sie für die Überzahl der Menschen… Entsetzlich ist’s, dass Schönheit nicht nur ein Furchtbares, sondern auch ein Geheimnisvolles ist. Dort ringt der Teufel mit Gott — und das Schlachtfeld ist das Menschenherz.

Als schön gilt dem Menschen, was sein Lebensgefühl steigert. Und das bewirkt bei primitiven Wesen nur die Ekstase des Fleisches. Nur im Rausch, in der Wollust, in der Grausamkeit gelangen solche hinaus über sich selbst, erfahren sie, was der vorgeschrittene Mensch in stiller Schauung Gottes erlebt. Deshalb tragen die Kulte aller tief religiösen Völker in deren Jugend furchtbaren Charakter; in ihnen tobt sich das religiöse Bewusstsein aus. Es werden Orgien der Lust und der Grausamkeit gefeiert, es wird frenetisch genossen und gelitten, in wildem Taumel Leben geschaffen oder zerstört. So muss es sein. Frühe Menschen sind tief nur in ihren Trieben, nur sinnlichkeitsgetragene Begeisterung vereinigt sie mit ihrer Substanz; nur in Form des Triebmäßigen können sie ihr Tiefstes erleben und äußern. Und gilt dies von den zeitlich frühen allein? Was bedeutet denn der Kult, der in Europa wieder und wieder mit der Liebe zwischen Mann und Weib getrieben wird, und nicht selten mit deren rohester Form, anderes als eine Reaktion gegen eine allzu vergeistigte Weltanschauung? Wie viele bedürfen noch der geistigen Getränke, um sich zu steigern, der Sensationen, der Aufpeitschung des Fleisches! Sie alle stehen noch, mit einem Teil ihres Wesens mindestens, auf der Stufe, welcher die Orgie oder das Menschenopfer der eigentliche Ausdruck des religiösen Empfindens wäre… Des Menschenopfers bedürfen die Hindus nicht; sie sind zu weiblich-sanft, um am Zerstören Wollust zu empfinden. Aber der ganze schaivaitische Kult ist durchgedrungen vom Geist animalischer Prokreation. Hier, zum erstenmal in meinem Leben, sehe ich Schaustellung sexueller Vorgänge nicht als Unreines, sondern als Heiliges aufgefasst; als das Sinnbild des Göttlichen in der Natur. Keine obszöne Assoziation schien den Frommen in den Sinn zu kommen, die bei der Feier zu Rameshvaram der von Puppen versinnbildlichten Vereinigung Shivas und Shaktis beiwohnten. Keine der Frauen, die sich heute Nacht hier vor dem Lingam neigen, scheint anders gesinnt, als eine spanische Nonne etwa, die zur Unbefleckten Empfängnis fleht. Von allen gläubigen Hindus wird die sinnliche Liebe als Sinnbild göttlicher Schöpferkraft verehrt und benutzt als Gefäß frommer Opfergedanken. Mann und Weib, lehren die Shastras, sollen sich niemals nahen, ohne derweil zu gedenken, dass Brahma durch sie schafft. Als göttlich sollen sie einander verehren, sofern sie lieben, im Geist nicht des Genießens, sondern gotthaften Gebens das Leben fortpflanzen; so wird alles triebhaft Tierische zum Ausdruck des Göttlichen geweiht.

Nie habe ich Gebärden gesehen, die dem Geiste der Fruchtbarkeit so gemäß wären, wie die wiegenden Bewegungen der Bajaderen während festlichen Umschreitens der Götterbilder. Und wie ich nun meinen Blick von jenen diesen zuwende, zu der seltsam übertreibenden Stilisierung, die ihre Formen beherrscht, wird mir auf einmal die Identität des Geistes in beiden Erscheinungen bewusst. Diese Gestalten sind Verkörperungen unserer Grundtriebe, wie sie gegenständlicher schwer hätten erdacht werden können. Was sind diese, ohne Rückbezug auf eine geistige Einheit, auf das, was man Ich oder Seele heißt? Gewalten für sich, wahrhaftige Dämonen, denen Menschengestalt kaum angemessen scheint. Wer Berserkern oder Satyrn begegnet ist, Leibeigenen der Lust oder der Zerstörungswut, wird aus Erfahrung wissen, was ich meine; solche Wesen sind keine Menschen; sie lügen, indem sie sich menschlich darstellen; sie sind Personifikationen elementarer Naturkräfte. Aber das gilt nicht nur von diesen, es gilt von allen, welche irgendein Trieb ganz besitzt. Es gilt von den Müttern, die im Gattungsinstinkte aufgehen, von den Bräuten, denen der Gatte alles ist; es gilt von den heiligen Männern und Frauen deren Herz in göttlicher Geberlust die Welt umfängt: jeder Trieb gibt dem Menschenantlitz einen neuen verwandelnden Ausdruck: hier vertierend, dort verschönernd, hier verteufelnd, dort verklärend, so sehr, dass man mit Recht von Transfigurieren spricht. Aber solchem Ausdruck sind die Ausdrucksmittel der physischen Natur oft nur unvollkommen gemäß. Der Religiöse ahnt hinter der Erscheinung einen besonderen Geist, der den Menschen zeitweilig besitzt; den Künstler treibt es, ihm einen Leib zu schaffen, der sein Wesen ganz zum Ausdruck brächte. So sind auf dem weiten Erdenrund Legionen von Göttergestalten entstanden. Die meisten sind nicht, was sie sein sollen. Aphrodite ist nicht die personifizierte Liebe, die Jungfrau Maria nicht die personifizierte Mutterschaft. Beide Göttinnen sind nur Abbilder von Menschen, keine selbständigen Verkörperungen von Urtrieben. Der Westen war selbst im Mittelalter zu wissenschaftlich gesinnt, um Irrationelles vollkommen auszudrücken. Gerade dieses haben die Hindus vermocht. Die Gestalten des indischen Pantheon sind, wo sie Urkräfte verkörpern, von solcher Überzeugungskraft, dass ich heute jenem Seher glauben möchte, der mir einst sagte, sie seien wahrhaftige Abbilder göttlicher Wirklichkeit.

Wahrscheinlich sind nur Menschen solcher Schöpfertat fähig, die sich zur geistigen Persönlichkeit noch nicht verdichtet haben; die wesentlich vielfach sind, bald von diesem, bald jenem Trieb besessen, ohne deutliches Bewusstsein des vereinigenden Bands. Solche Menschen sind, vom Atman her betrachtet, oberflächlich, denn vom Selbste wissen sie nichts. Eben deshalb aber kann ihr Tiefstes die Oberfläche beseelen, wie dies beim Durchgeistigten nimmermehr geschieht; die ganze Tiefe der Welt kann eine sinnlose Leidenschaft laden. Die einzelnen Triebe verdichten in sich dann soviel Substanz, wachsen zu Wesenheiten von so massiver Wucht heran, dass man sich nicht darüber zu verwundern braucht, wenn auch bei uns noch heute viele wähnen, sie seien wesentlich tief. In eben dem Sinn ist das indische Pantheon, obschon an sich ein Oberflächenprodukt, dennoch ein Tiefes: ein so tiefgreifender, gespannter, erschöpfender Ausdruck des Oberflächlichen in Mensch und Natur, wie ihn eine vertieftere Menschheit nicht hätte finden können.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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