Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Madura: Polytheismus

Mehr und mehr nimmt der Geist des Polytheismus von meiner offenen Seele Besitz. Wie selbstverständlich substantifiziere ich, was an Kräften in und außer mir wirkt und stündlich reicher wird mein Pantheon. Entsprechend farbiger wird mein Erleben. Indem ich jeder Sonderregung ein Sonderwesen zuerkenne, werde ich aufmerksamer auf sie und mein Qualitätsbewusstsein differenziert sich. Dies Universum erscheint mir als buntes Durcheinander unendlich vieler Monaden, jede einzelne deutlich charakterisiert, keine unmittelbar auf andere zurückführbar noch von identischen Normen regiert, aber keine der anderen widersprechend. Ich werde auch etwaiger Widersprüche nicht gewahr, denn deren Begriff bedeutet mir nichts mehr. Was sollen Einheit, Zusammenhang, Konsequenz in einer Welt, die nichts als Qualitäten enthält? Es gibt keinen Generalnenner für Qualitäten. So bekümmern mich auch die Probleme nicht mehr, die dem Gottsucher sonst so viel Sorge bereiten — des Bösen, seiner Vereinbarkeit mit dem Guten, der allzu häufigen Unrentabilität eines tugendsamen Lebenswandels und andere mehr: es gibt eben böse und gute Gewalten, moralische und amoralische; die Macht ist nicht notwendig an Liebe gekettet, noch das Wissen an einen guten Willen; das Sonderschicksal des Einzelnen wie das totale der Welt hängt vom Zusammenwirken so vieler selbständiger Variablen ab, dass es selbst Brahma in seinem Mathematikeraspekte nimmer gelänge, das Geschehen aus allgemeiner Formel heraus zu verstehen. Worauf es ankommt, ist die Augen offen zu halten, möglichst viel Sondermomente zu übersehen; allen günstigen Einflüssen die Wege zu ebnen, den ungünstigen nach Maß der Kräfte vorzubeugen. Und hierzu gibt es ja, allen Göttern sei Dank dafür, Regeln. Wieder und wieder haben Sie gnädig Gebete und Riten geoffenbart, welche dieses und jenes bewirken, wieder und wieder Winke dafür gegeben, was einer in diesem und jenem Falle tun und lassen soll. So erscheint das Leben, wenn man nur treu befolgt, was die Shastras und Tantras verordnen, wenn man nur nicht versäumt, sich in allen entscheidenden Momenten das Gutachten weiser Brahmanen einzuholen, in einer geisterdurchschwirrten Welt kaum gefährdeter, als es dem scheint, der nichts Überirdisches glaubt. Sicher aber ist es interessanter.

Jeden Augenblick geht irgend etwas vor sich, ist irgend etwas zu beachten, zu bedenken, was noch so geringfügigem Erleben transzendente Bedeutung verleiht; überall sind Wesenheiten im Spiele, die zum mindesten merkwürdig sind. So gefalle ich mir als Göttergläubiger besser, als ich mir je früher gefallen habe. Ich bin reicher, farbiger, versatiler, viel nuancierter im Erleben und Auffassen. Mich wundert nicht mehr, dass große Kunst immer nur unter Polytheisten geblüht hat (denn die katholische Kirche ist ein polytheistisches System, und die meisten größeren Dichter haben sich gleich Goethe als Künstler zur Vielgötterei bekannt): nur wo das Besondere unbefangen als solches gelten gelassen wird, wo die Einbildungskraft, anstatt es zu reduzieren, es zu verherrlichen, zu verstärken strebt kann Künstlerschaft Großes schaffen. Umgekehrt ist jede Künstlernatur typischerweise durch die Züge ausgezeichnet, welche polytheistische Völker definieren: das Unvereinheitliche ihrer Psyche. Hätte Shakespeare sich ganz zur geistigen Persönlichkeit vertieft — nie hätte er so viel Menschen beseelen können. Der Monotheismus löst früher oder später überall, wo nicht andere Momente dem entgegenwirken, den reicheren Glauben ab; wenn die Seele sich vereinheitlicht hat, wenn ein eindeutiges Ichbewusstsein an Stelle des der Vielfachheit der Triebe getreten ist, ballt auch die Göttersubstanz, bisher verstreut, sich zu einer Gottheit zusammen. Damit löst Ordnung, Gesetzmäßigkeit, Zusammenhang das ursprüngliche Wirrsal ab. Aber gleichzeitig wird das Weltall widerspruchsvoll: jetzt, wo alles zusammenstimmen soll, zeigt sich erst, wie wenig es wirklich zusammenstimmt. Es wird ferner verdürftigt: denn nun, wo ein Ideal über der ganzen Schöpfung schwebt, wird das geleugnet, ignoriert oder bekämpft, was zu ihm in keiner denkbaren positiven Beziehung steht, und da dessen nur zu viel ist, wird die Natur in ihrem unbefangenen Wachstum gehemmt. Das Weltall wird gefestigt, moralisiert; überall unter Monotheisten sind die Charaktere stärker, die Grundsätze fester, die Lebensformen reiner. Aber dafür sind ihre Seelen farbloser, starrer, meist auch dürrer. Ein Freund, einst ein begnadeter Don Juan, hatte sich zum mustergültigen Ehemann verwandelt. Ich fragte ihn, wie er sich nun vorkomme? Er erwiderte seufzend: die Tugend hat freilich ihr Gutes, allein ich spüre, dass meine Natur versimpelt; zu Viele ihrer Seiten bleiben außer Gebrauch; ich fürchte, es bekommt dem Manne nicht gut, nur einem Weibe zu leben.

Poly- und Monotheismus widerstreiten sich; der Mystiker hiergegen, dessen Gottesbewusstsein man so schlecht meist Pantheismus heißt, ist dem Polytheismus niemals feind, im Gegenteil: in dessen Atmosphäre ist seinesgleichen immer am besten gediehen; so in Europa im Schoß der katholischen Kirche. Es ist nur bedingt richtig zu behaupten, dass der Mystiker die Einheit der Gottheit erlebt: sein Erlebnis liegt jenseits aller Zählbarkeit; wenn er von Einheit spricht, so meint er das, was weder Einheit noch Vielheit und gleichzeitig beides ist, er nennt es Einheit, weil dieser Begriff auch hienieden sowohl Zahl als Nicht-Zahl bezeichnet. Auf alle Fälle ist er niemals Monotheist im jüdisch-puritanisch-islamischen Sinne, obschon natürlich Mystiker genug auch unter vorgeblichen Monotheisten vorkommen. Mystiker ist der Kontemplative, welcher ganz von innen heraus lebt, ganz im Wesen und für das Wesen; dessen Bewusstsein im Atman Wurzel gefasst hat, der folglich vollkommen wahrhaftig ist, ganz unbefangen sein Innerstes ausströmt. Ein solcher kann keine Lebensäußerung verleugnen. In jeder sieht er die göttliche Kraft am Werk, jede ist ihm ehrwürdig, und Unbefangenheit, wie immer sie sich äußere, gilt ihm heiliger überall, als Bestimmtheit durch äußere Norm und Vorurteil. So versteht es sich von selbst, dass für das indische Bewusstsein, das mystisch geweckter ist, als irgendein anderes, keinerlei Widerstreit besteht zwischen dem animalischen Hinduismus und der geläuterten Weisheit der Rishis: ihm sind es Ausdrucksformen des Gleichen auf verschiedenen Stufen. Der unbefangene und wahrhaftige primitive Mensch kann nicht umhin, sich als Vielfachheit von Trieben zu spüren; der unbefangene Weise ebensowenig umhin, sich aller Gestaltung überlegen zu wissen. Und beider Erlebnis hat den gleichen Sinn. Freilich ist es verfehlt zu glauben (wie die indische Scholastik dies vielfach wahr haben möchte), die vielfache Gestaltung sei von vornherein als Symbol des Einen gemeint worden: entstanden ist sie als animalische Knospung; ursprünglich liegt keinerlei Einheit dem indischen Pantheon zugrunde. Aber dessen Vielfachheit bedeutet eben das, wie das Einheitsbewusstsein reiferer Stadien; deshalb ist die Priesterschaft metaphysisch dennoch im Recht, allen Götterglauben für orthodox, als mit den Veden und Upanishads vereinbar zu erklären. In empirischer Hinsicht ist freilich mancherlei gegen ihre Auslegungen zu erinnern: der vielleicht größere Teil aller Göttersagen ist abseits von der brahmanischen Tradition entstanden, gehört dem folklore der nicht-arischen Ureinwohner an, ist erst spät dem Brahmanismus angegliedert worden, und erhielt von diesem dann einen Sinn, den er von Hause aus sicher nicht besaß. Diese Verhältnisse hat wohl Sir Alfred Lyall richtig erkannt und auseinandergesetzt. Allein die Fälschung, welche die Brahmanen verübt, war metaphysisch berechtigt: die Götter sind und bedeuten wirklich das, was die Brahmanen von ihnen behaupten; wenn diese lehren, ein Lokalgott eines obskuren Stamms sei tatsächlich ein Vishnu-Avatar und als solcher ein Aspekt des Einen Brahman, so sprechen sie damit, in mythisch-farbiger Ausdrucksweise, eine metaphysische Wahrheit aus: in jedem Triebe schafft das Göttliche; alle Oberfläche wird von der Tiefe her beseelt, kann insofern als deren Ausdruck betrachtet werden. Und indem sie also betrachtet wird, wird sie zur Tiefe. Der Volksglaube vertieft sich dank der Deutung, die er seitens der Wissenden erfährt, so dass zuletzt auch empirisch wirklich wird, was zuerst nur symbolisch wahr gewesen war: er wird zum Ausdruck des höchsten Wissens.

Kein indischer Weiser, auch Buddha nicht, hat den Götterglauben jemals bekämpft; die meisten, allen voran Shankara, der Begründer des radikalen Monismus, haben ihn selber aufrichtig bekannt. Sie waren sich einerseits der Unausdrückbarkeit des Göttlichen als solchen, andrerseits der unendlichen Anzahl möglicher Manifestationen desselben so tief bewusst, dass sie den vielfachen Ausdruck dem einfachen meistens vorzogen. Mir fällt die berühmte Hymne an Mahadevi (aus dem fünften Matatmya des Tschandi) ein: dort wird sie, die Göttin, als Ishwara, als Höchstes Wesen verehrt; im Besonderen bald als Ganga, bald als Saraswati, bald als Lakshmi; und in einer Strophe wird von ihr, nachdem verkündet ward, dass sie in der Form des Friedens, der Kraft, der Vernunft, der Erinnerung, der Berufstüchtigkeit, der Fülle, der Gnade, der Demut, des Hungers, des Schlafes, des Glaubens, der Schönheit und des Bewusstseins alle Wesen der Welt beseele, auch gesagt, dass sie in der Form des Irrtums allen Geschöpfen innewohne. Mir scheint: diese Vielfachheit in ihrem Zusammenhang ist ein besserer Ausdruck dessen, was der indische Fromme meint, als irgendeine tiefsinnig-einfache Formel sein könnte.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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