Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Madura: Systemsucht

Wie sollten unsere abgeklärten Begriffe dem irrational-animalischen Werden der indischen- Formen gerecht werden! Nicht umsonst gibt es im Sanskrit vielleicht mehr Worte für philosophisch-religiöse Gedankeninhalte als im Griechischen, Lateinischen und Deutschen zusammengenommen: wie die Sprachen primitiver Völker, wo diese begabt, an Bezeichnungen für Konkretes reicher sind, als die entwickelterer, weil frühe Menschen nicht zu abstrahieren wissen und daher viele Sonderausdrücke anwenden eben dort, wo spätere mit wenigen Allgemeinbegriffen auskommen, so war der Wortschatz der (allerdings abstraktionsfähigen!) alten Inder deshalb so reich, und wurde reicher fast mit jeder Generation, weil mit noch so klug gewählten Allgemeinbegriffen ihrer überreichen Vorstellungswelt schlechterdings nicht beizukommen war. Allgemeinbegriffe nützen nur dort, wo das Erkenntnisobjekt rational oder rationalisierbar ist; und dieses gilt von der indischen Gestaltung nirgends. Alles Lebendige in diesem wundersamen Land ist fleischmäßig-unverantwortlich hervorgewachsen, aufs Geratewohl, ohne Vorsatz und festes Ziel. So lässt sich nicht allein in seinen Tempeln kein Grundriss nachweisen und innerhalb seiner Glaubensformen keine einheitliche Grundidee — es gibt in Indien auch keine Nation; keinen Volksgeist und kein Volksbewusstsein; es gibt keine Hindus in dem Sinne, wie es Deutsche und Engländer gibt. Synthesen der genannten Art entstehen nur dort, wo die Vernunft noch so unmerklich das Werden der Formen regiert, wo Verallgemeinerungsbedürfnis und Einheitsstreben vorliegen; und diese fehlen in Hindustan. Hier wachsen die besonderen Formen planlos in- und durcheinander, bald schroff und dauernd geschieden, bald die unwahrscheinlichsten Verbindungen eingehend; jede Form gilt als solche berechtigt, nie wird versucht ihre Eigenart auszumerzen; es ist Raum für alles in der Welt. Man wähne nicht, der Brahmanismus läge immerhin der Mannigfaltigkeit als einiger Geist zugrunde: erstens ist er kein einiger Geist, zweitens beseelt er nicht alle Formen, und drittens tut er dies, wo er es tut, in so unbestimmtem Sinn, dass er zwischen den Sondergebilden keine konkrete Verbindung schafft. Von einem Beseelen aller Erscheinung in dem Sinne und Maße, wie der Geist des Buddhismus alles Leben auf Ceylon beseelt, kann beim Brahmanismus nicht die Rede sein. Dieser Unbekümmertheit um Zusammenhang und Einheitlichkeit verdankt das Indertum seine einzigartige Farbenpracht, an der mein Herz sich täglich mehr erfreut.

Noch bin ich in Indien kaum gereist, und habe doch schon mehr Mannigfaltigkeit gesehen, als irgendwo sonst unter Menschen. Nie und nirgends hat hier die gestrenge Vernunft das leichtsinnige Wuchern behindert. Das ist um so bemerkenswerter, als die Hindus doch berühmt sind gerade als Dialektiker, als Logiker und verzwickte Systematiker; alles und jedes haben sie in ein System gebracht, von der Dichtkunst bis zum Räuberhandwerk, vom Lebenswandel, der zu Gott führt, bis zur Art, wie die Brautnacht verbracht werden soll: wie reimt sich das mit ihrer Irrationalität zusammen? Es reimt sich insofern zusammen, als die Systemsucht ein irrationaler Trieb unter anderen ist, gleich allen anderen seine selbständigen Wege geht, gleich allen anderen unverantwortlich wuchert. Ebenso üppig und wild, wie die Vorstellungen, vegetieren auch deren Interpretationen; ebenso schrankenlos, wie die Götter und Geister, vermehren sich die Systeme der Philosophie. Nie hat die Logik in Indien die Prätention gehabt, letztmögliche Zusammenhänge herzustellen; das hat sie, in richtiger Selbsteinschätzung, der mystischen Intuition überlassen. Sie hat entweder Gegebenes systematisiert, oder von Gegebenem her ausschweifend fortspekuliert, oder Vorgefundenes haarspalterisch zergliedert. Ihre Leistungen sind typische Scholastikerarbeiten, meist ohne jeden wissenschaftlichen Wert; von allen Gestaltungen der indischen Phantasie sind sie gewiss die unerfreulichsten. Aber man tut Unrecht, indem man ihr zum Vorwurf macht, dass sie nie das Äußerste erstrebt hätte; dass unter den Indern kein Parmenides und kein Hegel erstanden sind. An logischer Schärfe stehen die Hindus den Europäern nicht nach; es wäre ihnen gewiss nicht schwer gefallen, ähnliche Weltsysteme zu konstruieren. Sie haben es nicht getan, weil sie als Metaphysiker zu tief hiezu waren; sie haben gewusst, dass der logische Verstand nicht bis zur Wurzel reicht; sie sind nie Rationalisten gewesen. Das ist denn wohl eines der großen Beispiele, die das Indervolk der Menschheit gegeben hat: dass Verstandesbegabung nicht notwendig Rationalismus zeitigt; dass ein Höchstmaß logischen Scharfsinns die Unbefangenheit nicht notwendig vernichtet. In Indien gelten drei Grunddeutungen der Vedanta-Sutras als gleich orthodox: eine monistische, eine dualistische und eine theistische; und von diesen ausgehend mehrere Hunderte sich mehr oder weniger widersprechender Systeme. Was bedeutet das? dass die Inder sich tief bewusst sind der Kontingenz aller Vernunftkonstruktion; dass sie wissen, dass es keiner gelingen kann, vom metaphysisch Wirklichen ein unverfälschtes Bild zu geben; dass sie alle à peu près bedeuten. Die Europäer, wenn sie Ähnliches erkennen, erklären der Vernunft daraufhin den Krieg. Die Inder, auch hierin die weiseren, lassen sie desto freier gewähren. Keine Gestaltung ist metaphysisch ernst zu nehmen; aber alle sind empirisch existenzberechtigt. So mag, wenn es den Körper freut, Gestalt auf Gestalt aus sich herauszustellen, wenn die Einbildungskraft sich daran ergötzt, die Himmel mit Göttern zu Übervölkern, auch die Vernunft unbehelligt gewähren.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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