Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Adyar: Blendung

In nur zu vielen Hinsichten erleben alte Menschheitsirrtümer im Theosophenglauben keine Aufhebung, sondern eine Wiedergeburt. Heute habe ich, durch die Anschauung der vielen Psycho- und Neuropathen, die zur Theosophischen Gesellschaft gehören, angeregt, speziell die altehrwürdige Überschätzung krankhafter Zustände im Auge. Befremdlich ist diese keineswegs: zweifelsohne bezeichnet Kranksein einen positiven Zustand, weniger ein Minus an Gleichgewicht als eine andere Form desselben, welche der normalen für, viele Zwecke überlegen ist. Unlängst ist mir das wieder einmal sehr deutlich geworden, als ich mir (aus ganz guten Gründen) eingebildet hatte, von der Pest infiziert zu sein, und die bloße Vorstellung mich, wie bei mir üblich, wirklich krank machte, so sehr, dass mir war, als ginge schon das Sterben an: alles selbstische Interesse verschwand, ich befand mich vollkommen frei, sämtliche Seelenkräfte strahlten geradeaus ins Unbegrenzte aus, was mir ein Wirklichkeitsbewusstsein von solcher Intensität verlieh, wie ich es gewöhnlich nicht kenne. Das sogenannte normale Bewusstsein ist schon deshalb nicht das reichste, weil es vorzüglich Bewusstsein des Körpers ist. Wo die Lebensenergie diesen voll beseelt, sind die psychischen Kräfte zumeist auf den gleichen Mittelpunkt bezogen — unstreitig das biologische Optimum — so dass die Seele nur tut, will und erkennt, was dem physischen Organismus gemäß ist. Wo hingegen der Körper aus irgendwelchen Gründen als Vehikel des Lebens versagt, oder wo dieses ihm absichtlich entzogen wird, dort erweitert sich das Bewusstsein bei jedem, in dem die Möglichkeit dazu besteht. Nun lebt die Psyche ganz in ihrer Welt, unbehindert durch körperhafte Schranken. Daher die wunderbare Serenität so vieler Sterbender oder Schwerkranker, daher das so häufige Zusammenbestehen eines großen Geists mit einem schwächlichen Leib, daher die Idee der Mortifikation, der künstlichen Schwächung des Körpers durch Fasten, Wachen, Geißelung und was sonst. Unzweifelhaft ist durch Gewaltmaßregeln solcher Art das Bewusstsein einer Erweiterung und Potenzierung fähig. Deren sind sogar weit mehr noch denkbar, als die asketische Technik, soweit ich sie kenne, je zur Anwendung gebracht hat. Bei innerlichen Naturen führt z. B. eine zu sehr schönen Ergebnissen, die meines Wissens niemals zu diesem Zwecke gehandhabt worden ist: ich meine Blendung. Ich bin einmal, nach einer Augenoperation, eine Zeitlang blind gewesen, und muss sagen, dass diese Periode zu den reichsten meines Lebens gehört; sie war so reich, dass ich eine unverkennbare Verarmung spürte, als ich mein Augenlicht wiedergewann. Während des Blindseins wurde mir mein Geistesleben durch nichts Äußerliches und Fremdes gestört, so dass ich mich an dessen Selbsttätigkeit ohne Unterlass erfreuen konnte. Dieser war ich mir viel intensiver bewusst als sonst: die sich folgenden Einfälle, die sonst so schwer zu fassen sind, erschienen mir nun wie auf einen dunkelen Hintergrund hinausprojiziert, von dem sie sich in wunderbarer Plastik abhoben. Das Fehlen eines wichtigsten Organs schärft ferner nicht allein die übrigen, es mutet ihnen neue Aufgaben zu und dies verändert die Gesamtlage auf die Dauer so sehr, dass mir das Bewusstsein eines Verlustes in kurzer Frist vollständig abhanden kam und ich nur das Gefühl hatte, auf eine neue, höchst interessante Weise, welche derjenigen augenloser Tiere entsprechen mag, zur Welt in Beziehung zu stehen.

Begründet ist also die Auffassung, die in krankhaften Zuständen ein Höheres sieht, den Tatsachen nach gut genug; muss zumal den Theosophen so erscheinen, die im Erwerb abnormer psychischer Fähigkeiten ein Ideal sehen, denn solche treten bei pathologischen Naturen ohne Zweifel am häufigsten in Kraft. Gleichwohl ist sie von Grund aus verfehlt: Besitz höherer Fähigkeiten in abnormen Zuständen bedeutet nichts, beweist nicht den mindesten inneren Fortschritt; hier erscheint das Abnorme durch Verlust oder Beeinträchtigung des Normalen erkauft, und insofern, wenn nicht überzahlt (was meist der Fall ist), so doch sicher ohne Reingewinn erworben. Fromme Seelen sind häufig befremdet durch die nicht abzuleugnenden moralischen Gebrechen bewunderter Heiliger: deren außergewöhnliches Können war eben nur zu oft kein Normalausdruck einer höheren Seinsstufe, sondern das Zufallsprodukt krankhafter Verschiebung eines durchschnittlichen psychischen Gleichgewichts. Von solchen Heiligen zu den landläufigen Medien hinab, die fast alle menschlich nichts taugen, führt nur ein Schritt. Es ist buchstäblich keine Kunst, in Krankheitszuständen seren, detachiert, überfeinfühlig, ja hellsichtig zu sein; man kuriere solche höhere Wesen aus, und sie entpuppen sich schnell genug zu Durchschnittsmenschen. Das sind sie eben wesentlich; das sind sie vor Gott. Wer Magie als Metier betreibt, gegen den ist natürlich nichts zu sagen; der muss eben zusehen, wie er sich in dem Zustand erhält, von dem seine Leistungsfähigkeit abhängt. Auch gegen die Leistungen der Psychopathen als solche spricht ihre wesentliche Minderwertigkeit nicht: die Perle ist ein Krankheitsprodukt der Auster. Man hüte sich ferner, jeden abnorm Begabten, welcher krankhafte Eigentümlichkeiten aufweist, gleich als pathologische Erscheinung zu brandmarken: wenn Mohammed und der Heilige Franz an hysterischen Anfällen litten, so gilt Ähnliches auch von Napoleon und von Cäsar; höchstkomplizierte Mechanismen, die unter Hochdruck arbeiten, gelangen leicht in gelegentliche Unordnung, und diese Unordnung bedeutet doch nichts. Cäsar war nicht wesentlich Epileptiker, sondern die ungeheure geistige Spannung, unter welcher er lebte, fand auf diese Weise ihre für ihn normale Auslösung, und gleiches gilt mutatis mutandis von vielen der größten spirituellen Heroen. Aber der Aberglaube muss ausgerottet werden, dass durch krankhafte Überreizung erkaufte Siddhis deren Besitzer zu einem höheren Wesen stempeln. Freilich kann in der Erweiterung des Bewusstseins und seiner Wirkungssphäre ein biologischer Fortschritt zutage treten. Aber nur dann, wenn das Neue zum Alten hinzukommt, nicht es verdrängt. Jeder Krankheitszustand ist ein absolutes Übel; nur der Siddha darf als höheres Wesen passieren, der im übrigen nicht weniger ist als ein normaler Mensch; nur er darf als Beispiel gelten.

Was ich hier sage, dürfte allen wissenden Indern, im Gegensatz zu den meisten ihrer europäischen Jünger, selbstverständlich klingen. Es ist bewunderungswürdig, wie richtig sie von je diese Verhältnisse eingeschätzt haben. Den Gurus des Altertums galten eine gute Gesundheit, ein vollkommen einwandfreies Nervensystem und eine robuste moralische Komplexion bei einem Schüler als Grundbedingungen zur Aufnahme. Geistersehen als Naturanlage beurteilten sie als Symptom von Gehirnerkrankung — nicht weil es keine Geister gäbe, sondern weil deren Sichtbarwerden, außer nach sorgfältig-sachverständiger Schulung, keine Erweiterung, sondern eine pathologische Verschiebung der normalen Bewusstseinslage bezeichne. Nur die vollkommen Gesunden bildeten sie aus; und auch  von diesen, so geht die Überlieferung, erreichten nur wenige ihr Ziel, da der meisten Nerven die Spannung nicht aushielten, weshalb es geboten schien, die Ausbildung abzubrechen. Jedenfalls sollte keine moderne Bewegung, die sich an der indischen Yoga inspiriert, unterlassen, deren Grundpostulat zum ihren zu machen; der Yogi ist wesentlich gesund; er ist unbeschränkter Herr seiner Nerven; er ist jederzeit im Gleichgewicht, in jeder Hinsicht absolut normal. — Sie sollte ferner nie aus den Augen verlieren, dass der indische Yogi — von allen sicher der, welcher es am weitesten gebracht auf dieser Linie — ein Feind der Kasteiung ist. Wohl übt er Askese d. h. er führt das Leben, das erfahrungsgemäß der spirituellen Entwicklung am förderlichsten ist; allein er mortifiziert niemals sein Fleisch. Weder schweift er im Fasten aus, noch im Wachen, noch in der Observanz; er befolgt die Diät, die seine Natur am meisten zu kräftigen, nicht zu schwächen geeignet erscheint: und kultiviert im übrigen eine andauernd freudige, das Leben bejahende, optimistische Seelenstimmung. — Endlich sollte eines niemals vergessen werden: wenn ein Mensch auch tatsächlich, nicht bloß scheinbar, auf höherer biologischer Entwicklungsstufe steht, so braucht er deshalb noch kein höheres Wesen zu sein. Der Mensch ist biologisch weiter als das Tier, doch gibt es Narren und Schufte genug unter uns, und der niedere Mensch steht oft unter dem Affen. So bezeichnen nur zu viele unter denen, die abnorme Kräfte in sich ausgebildet haben, wohl Vertreter einer höheren Naturordnung, aber minderwertige Vertreter. Man tut nicht gut, sie als Götter zu verehren. Schätzt man ihr Wesen nun richtig ein, so wird man ihnen besser gerecht; man läuft nicht Gefahr, durch blinde Nachahmung an seiner Seele Schaden zu nehmen, noch unterliegt man der Versuchung, um erkannter Gebrechen willen das Positive zu verleugnen oder abzuweisen. Unzweifelhaft waren nicht allein Buddha und Christus, sondern auch Mohammed, Walt Whitman, Swedenborg, William Blake und noch geringere biologisch weiter als wir. Aber sie waren weder vollkommen noch allwissend noch auch von vielen ernsten Gebrechen frei. Sie waren mittelmäßige Vertreter einer höheren Spezies.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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