Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Peshawar: Afridi

Immerhin ist es reizvoll, zeitweilig inmitten so wilder Gesellen zu leben, wie es diese Afridis sind. Sie sind prächtig in ihrem Raubtiertum, ihrer Ursprünglichkeit, ihrer triebhaften Unverantwortlichkeit. Die Regierung sieht es nicht gern, wenn man sich unbeschützt und ungeleitet in den Basars bewegt: plötzlich könnte einem ein Dolch zwischen den Rippen sitzen, sie aber müsste einschreiten, was sie in ihrer Weisheit ungern tut, weil Morden diesen Leuten nichts Schlimmeres bedeutet, als das höfliche Äußern einer abweichenden Ansicht unter uns. Könnte ich dem Afridi gram sein, der mir nach dem Leben stellte? Kaum. Nicht mehr jedenfalls als einem Tiger. Und indem ich mich durch die engen Gassen schlängele, schaue ich aus, ob ich nicht irgendwo einen beginnenden Zwist erspähe. Im Kampfe müssen diese Männer herrlich aussehen. Solange es friedlich hergeht, schläft ihr Bestes in eben dem Sinn, wie es beim spanischen Kampfstier schläft, welcher gleichmütig wiederkäut.

Auf einmal muss ich lachen: die Afridis sind ja leibhaftige Verkörperungen jenes Übermenschenideals, dem ein guter Teil unserer Dichterjugend huldigt! Große Menschen, welche grausam sind weil sie müssen — die ihr Schicksal erfüllen, ob es sie gleich verdirbt — deren Leidenschaft keine Schranken anerkennt — die von Verstandesüberlegungen nie verleitet werden: wahrhaftig, die Beschreibung stimmt. Es ist gar zu kurzweilig, zu was für Gestaltungen das Bedürfnis nach Heroenkult ein überbildetes Städtertums führt. Ohne Zweifel tut Ursprünglichkeit not; aber ist denn keine höhere Art denkbar, als die des Tiers? Schwerlich haben die Athener um Plato herum zu Achill und Diomedes als Vorbildern aufgeschaut; es bedurfte der modernen Dekadenten, um das Menschheitsideal so tief in das Animalische hineinzusenken; selbst Nietzsche, der zarte Pastorensohn, hat es nimmer so gemeint, was immer er sagen mochte. Aber heute sind wir wirklich dahin gelangt, dass Ursprünglichkeit und Naturhaftigkeit identifiziert erscheinen. Gott ja, gern bin ich bereit, die Unbefangenheit der Kuh zu verehren; nur knüpfe ich hieran die Bedingung, dass sie nicht schreibe; dieser Ausdruck ist nur gebildeten Menschen gemäß. Im gleichen Sinne lehne ich es ab, den Wilden als Heroen zu verehren. — Wahrhaftig, die Afridis sind die Übermenschen, welche die moderne Literatur Jugend verehrt. Es unterhält mich, sie unter diesem Gesichtspunkte zu mustern. Einst hieß es: wer sich in der Gewalt hat, sei stark; heute: wer sich gehen lassen muss. Natürlich: wer gar keine Leidenschaften hat, dem bedeutet ihr bloßes Dasein ein Ideal. Aber es ist ja nicht wahr, dass alle modernen Menschen erschöpft wären; nur die Schreibenden sind es zumeist, die canaille écrivante, cabalante et convulsionnaire Voltaires, die unwesentlichsten Leute von allen, und heute ist es verhängnisvoller denn je, dass diese so viel Macht besitzen; das Ideal der Ausgemergelten, der Impotenten, der Schwachen, treibt die Gesunden in die Barbarei. Schreibende Kühe werden verherrlicht, wilde Kerle als Helden verehrt: so beginnen mehr und mehr Kühe zu schreiben und mehr und mehr bildungsfähige Menschen werden wild. O wie gut täte es den Jungen von heute, ein wenig indische Weisheit in sich aufzunehmen! Zu lernen, dass es ein Zeichen der Schwäche ist, und nicht der Kraft, wenn einer grausam sein muss, seinem Schicksal unterliegt, seiner Leidenschaften nicht Herr, von Vernunftsüberlegungen unbeeinflussbar ist, dass nicht allein der Übermensch neuesten, sondern auch der tragische Heros klassischen Musters einen barbarischen Zustand verkörpert! Ohne Zweifel ist der moderne Menschheitszustand wenig wert; aber das Ideal, dem wir nachstreben sollen, liegt in der Richtung der Durchgeistigung, nicht der Vertierung. Nicht nur die Kuh, auch der Gott ist unbefangen, und diesem, nicht jener, sollten wir nacheifern. Um so mehr f als wir diesem schon viel näher sind. Indem ich die Afridis betrachte, wird mir sehr deutlich, wie fern deren Wesen uns schon liegt. Vielleicht bedingt es diese Verrückung der Perspektive gegenüber dem Zustande der Antike, dass uns heute das Tier, wie den Alten der Gott, über alles ehrwürdig dünkt…

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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