Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Delhi: Monotheist

Wenn ich vor den Grabdenkmälern der Kaiser und Heerführer stehe, deren mächtige Kuppeln wieder und wieder über die Trümmer des alten Delhi in den klaren Himmel hinausragen, und derweil des Verhältnisses gedenke, in dem der Muslim zu Tod und Ewigkeit steht, ist mir oft, als tönte aus deren Innern Luthers Choral Ein feste Burg ist unser Gott hervor. Dessen Stimmung entspricht dem Geiste des Mohammedanertums gut, besser als dem des Luthertums von heute. Die Farbe der stolzen Zuversicht, der Kampfesfreudigkeit, die diesem Lied, wie vielleicht keiner zweiten Schöpfung des Christengeistes eignet, ist die eigenste Farbe des Glaubens, der auf Arabiens Propheten zurückgeht.

Heute fühle ich mich, wie lange nicht mehr, beeindruckt von der herben Größe des Monotheismus. Sie ist grandios, die Vorstellung vom Menschen, der nackt und selbständig und ohne vermittelnde Instanzen seinem Gott gegenübertritt, einem Gott, der unbeschränkt durch Gesetze und Normen, rein nach Willkür, über sein Schicksal entscheiden wird, verleiht dem Leben des Einzelnen einzigartiges Pathos. Wieviel mehr Kraft setzt Vertrauen auf einen solchen Gott voraus, als der Theosophenglaube! Und umgekehrt: wie stark muss er machen! — Dass er es tut, beweist die Geschichte mit einer Eindeutigkeit, die ihr nicht häufig eignet: nirgendwo hat es stärkere Charaktere gegeben, und gibt es sie heute noch, als unter Mohammedanern und Protestanten. Der radikale Monotheismus weist den Menschen absolut auf sich selbst zurück (wenn man sagt, dass er ihn im Gegenteil ganz Gott anheimstellt, so ist das nur eine andere Fassung des gleichen Verhältnisses); er macht ihn schlechterdings verantwortlich. So kann es nicht fehlen, dass seine Seele so fest wird, als ihre Natur erlaubt. Sie wird dementsprechend unbildsam, schwerfällig, starr, leicht auch dürr; an Farbigkeit der Psyche können Monotheisten mit Polytheisten nie wetteifern. Aber sie wird stark. Der Monotheist hat vor allem Charakter. Den er denn auch als höchsten Wert verehrt und dessen Unwandelbarkeit er fordert.

Die arabische Spruchweisheit enthält das Wort:

Wenn du vernimmst, dass ein Berg versetzt worden ist, so glaube es; aber wenn du hörst, dass ein Mensch seinen Charakter geändert hat, so glaube es nicht.

Welcher indische Weise hätte je solchen Ausspruch getan? Hier handelt es sich ja nicht um die Selbstverständlichkeit, dass die Elemente einer Natur ein schlechthin Gegebenes sind, sondern um die Behauptung der Unwandelbarkeit der Art ihres Zusammenhangs. Die konnte nur ein Monotheist aufstellen, nur einer, der einen ihm als Äußeres gegenüberstehenden persönlichen Gott glaubt, dessen Gott selbst vor allem ein Charakter ist. Nur einem solchen bedeutet Charakter ein Letztes. Die indische Auffassung ist die tiefere; aber es kann nicht geleugnet werden, dass die islamisch-protestantische, vom Standpunkt der Effikazität in dieser Welt, den pragmatic test besser besteht. Beim Monotheisten konzentriert sich das Selbstbewusstsein in seiner Person; diese ist ihm ein letztes, Unübersteigbares, für das er einzustehen haben wird am Jüngsten Tag. Also bildet sich, was immer er an Tiefe hat, seinen persönlichen Eigenschaften ein. Wie schwach wirkt der bedeutendste Hindu neben einem beliebigen Muselmann! Oder auch ein noch so großer Denker des Westens (sofern sein Selbstgefühl im Überpersönlichen wurzelt) neben einem bornierten preußischen Offizier! — Mehr wert ist dieser im metaphysischen Verstände deshalb nicht; Charakter ist und bleibt eine Beschränkung; alles höhere Menschentum beginnt oberhalb seiner. Aber da höheres Menschentum für die Masse nicht in Frage kommt, so wäre es wohl gut, wenn sie wenigstens Charakter hätte; wenn alle einfachen, ungebildeten Menschen im Sinne des Muslim an Gott glaubten.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME