Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Benares: Gurus

Schon öfters habe ich des katholischen Charakters der indischen Religiosität Erwähnung getan. Wohl hat es auch Protestanten unter den Indern gegeben: Debendranath Tagore, z. B. der Maharshi, war ausgesprochen puritanisch gesinnt; wer nicht wüßte, dass dessen Autobiographie von einem Hindu stammt, könnte beinahe glauben, ein Pilger-Vater Neu-Englands hätte sie verfasst. Aber der allgemeine Geist der indischen Religiosität ist streng katholisch; alles Beste und Tiefste ist von ihm beseelt; so vor allem die Lehre vom Weg, der zur Erkenntnis führt.

Ich will noch einmal kurz daran erinnern, was ich unter katholisch im Gegensatz zu protestantisch verstehe. Der Katholizismus lehrt, dass Anerkennung einer objektiven Ordnung und gehorsames Befolgen autoritativer Vorschriften den Weg zum Heil bezeichnen; der Protestantismus hingegen, dass jede Seele auf persönlich selbständige Weise zu Gott hinanstreben soll. Letztere ist gewiss nicht die Lehre Luthers oder Calvins, aber es ist die Lehre des heute lebendigen Protestantismus; ebenso wie meine Definition des Katholizismus das Lebendige an ihm allein berücksichtigt. — Der Inder, was immer er im Besonderen glaube, urteilt über den Weg zum Heil als Katholik. Er verwirft das Suchen selbständiger Wege; ihm gilt Vertrauen auf die Autorität als Grundbedingung alles inneren Fortschritts. Kein großer Inder, von den Protestanten Buddha, Mahavira u. a. abgesehen, hat je am Offenbarungscharakter der Veden und Shastras gezweifelt, und alle haben Zweifel als verderbenbringend denunziert. Das bedeutet, dass auch die größten Erkenner unter den Hindus tief durchdrungen waren vom Wert des Glaubens als Erkenntnismittels. Wer da zweifelt, könne nicht zum Wissenden werden; und da Glauben nur möglich ist an feststehende Dogmen und Normen, haben sie alle deren Umwandelbarkeit postuliert. Sie haben ferner sämtlich Gehorsam gefordert dem Guru, dem spirituellen Direktor gegenüber (wie denn alle, auch die erlauchtesten Geister unter ihnen, dem ihrigen bis zum Tod gehorsam gewesen sind), aus der Einsicht heraus, dass Lehren, von einem anderen, zu dem man sich absolut empfänglich verhält, laut mitgeteilt, stärker einwirken auf das Unterbewusstsein als dieselben Lehren, wofern man sie sich selbst erteilt.

Das ist so katholisch gedacht wie nur möglich. Dem Wortlaute nach haben alle theologischen Doktoren unseres Mittelalters das gleiche gelehrt, unter diesen zum Teil auch Martin Luther. Aber allerdings haben die Inder den Sinn der gleichen Lehren besser verstanden, so dass der Hinduismus die Seelen nie geknechtet hat, wie der christliche Katholizismus nur zu oft. Freilich darf der Grad dieser Knechtung nicht überschätzt werden: der Idee nach gewährt der Katholizismus dem Denker genau so viel Freiheit wie der orthodoxe Protestantismus; nur in praxi geschieht es meistens anders. Der Idee nach darf der katholische Christ frei forschen und denken auf allen Gebieten, auf denen Verstand und Vernunft kompetieren, und mehr ist nicht zu verlangen, denn jenseits dieser Gebiete kann Vernunft zu keiner Erkenntnis führen. Mag diese Idee noch so selten richtig verstanden worden sein, sie ist da, und wird früher oder später wohl sicher in ihrer Reinheit zur Herrschaft gelangen, wenn die Kirche keinen anderen Weg mehr sieht, um fortzubestehen. Der äußere Apparat der katholischen Kirche aber, ihr Ritualismus, ihr Zeremonial, bezeichnet einen absoluten Vorzug, dessen der Protestantismus, gerade in seinen extremsten, dogmenfeindlichsten Formen, mehr und mehr gewahr zu werden beginnt. Um nun zum Hinduismus zurückzukommen: diesem gelten die Glaubensformen, die als solche ebenso streng gewahrt werden wie seitens katholischer Christen, nicht als Substanzen, sondern als Ausdrucks formen des Göttlichen, gleichzeitig als Mittel, dieses zu realisieren. Demzufolge werden sie einerseits weniger ernst genommen als unter uns, sie gelten nie als metaphysische Wirklichkeiten, andrerseits mehr, da kein Hindu ihre Zweckmäßigkeit verkennt. Auch das Glauben als solches wird von ihnen aus eben dem Grunde ernster genommen, als mir dies je in Europa begegnet ist: sie wissen eben, was Glauben bedeutet; dass es ein Mittel ist wie kein anderes, um das Sein zu realisieren. Deshalb gibt es unter hochgebildeten Hindus keine Freidenker, so häufig solche unter halbgebildeten vorkommen, und noch so scharfsinnige weisen die Zumutung weit von sich, an den religiösen Grundwahrheiten zu zweifeln — es sei denn, sie seien über das Glauben deshalb hinaus, weil sie aus persönlicher Erfahrung wissen. Die Hindus sind seelisch so weit gebildet, dass sie zwischen Glauben und Für-wahr-halten rein unterscheiden; dass sie glauben können an etwas, ohne zu verlangen, dass es objektiv existierte. Glauben ist ihnen ein Mittel, das souveräne Mittel; ein Narr sei daher, wer nicht glaubte. Im übrigen möge er denken was er wolle. Meredith Townsend erzählt von einem indischen Astronomen, welcher wissenschaftlich geschult, jede Sonnenfinsternis auf die Sekunde richtig vorausberechnete, aber jedesmal, wenn sie hereinbrach, zur Trommel griff, um den Dämon zu verscheuchen, der das Gestirn verschlingen wollte, und auf seine verwunderte Anfrage lächelnd erwiderte, Glauben und Wissen wären doch zweierlei. Er hielt wohl an der mythischen Vorstellung fest, die er selbstverständlich durchschaute, weil er aus Erfahrung wusste, dass jene, dank Assoziationen mit Erlebnissen aus seinen Kindheitstagen, ihn das Göttliche realisieren half.

Nur auf Realisieren kommt es den Hindus an; alles übrige ist Mittel zum Zweck. Sie legen den Akzent auf das Realisieren mit solcher Ausschließlichkeit, dass deshalb zwei Tendenzen, die im Westen immer eine namhafte Rolle gespielt haben, beinahe vollständig fehlen: dass Streben nach Exaktheit der Formulierung (der Richtigkeit in der Bestimmung), und das nach Neuerung; was allein schon der indischen Metaphysik einen unverkennbar-individuellen Charakter verleiht. In der Tat — was verschlägt es, ob eine Formulierung wissenschaftlich richtig sei oder nicht, wenn sie nur das Erlebnis, auf das allein es ankommt, hervorruft oder mitteilbar macht? Und ferner: wozu neue Formen erfinden, wenn die althergebrachten alles das leisten, was jene bestenfalls bewirken könnten? So sehen wir eine Metaphysik, die an Wahrheit und Tiefe unerreicht dasteht, die unsere exaktere Forschung mehr und mehr bestätigt, in einem Körper von Theorien überliefert, die nicht selten aus primitivsten Denkstadien herstammen. Die Inder wissen eben, was sie meinen; und ihre Lehrmethodik bürgt dafür, dass der Sinn von Guru zu Chelāh lebendig fort überliefert wird; deshalb halten sie Neufassungen für überflüssig. Ja, deshalb stehen sie in ihrer göttlichen Toleranz praktisch kaum anders als engherzige Christen, sind oft sogar neuerungsfeindlicher noch als diese, eben weil sie der Vorstellung als solcher jeden Eigenwert aberkennen. Echte Wissenschaft verhindert solche Auffassung am Entstehen, und mit der ist es denn auch in Indien seit den Tagen des Altertums übel bestellt; aber den spirituellen Fortschritt befördert sie.

Aus der katholischen Grundtendenz ergibt sich ferner die Eigentümlichkeit der indischen Weltanschauung, die den Westländer vielleicht am meisten befremdet: ihr Leugnen der Möglichkeit, eine Wahrheit selbständig zu entdecken; sie müsse geoffenbart, recht eigentlich gelehrt werden; von einem, der sie seinerseits empfing. Man glaube ja nicht, diese Auffassung sei nichts als ein Brahmanentrick, wie unzweifelhaft so viele der Vorschriften, die zur Mehrung des Prestiges der Gurus dienen: sie bezeichnet eine Grundanschauung der Inder und ist psychologisch gut genug begründet. Wo die Arbeit zum Zweck der Erkenntnis nicht in Denken besteht, sondern in Versenkung in einen aufgegebenen Satz, dort kann einem die Erleuchtung wirklich nur kommen, man erringt sie nicht; sie wird einem, um christlich zu reden, nicht durch Verdienst sondern durch Gnade zuteil. Nun setzen alle Inder das Dasein einer Hierarchie der Wesen voraus; sie sind es gewohnt, nie ohne Anleitung Yoga zu treiben, haben keinen Begriff von voraussetzungslosem Forschen: also ist es nur natürlich, dass sie in aller Erkenntnis Offenbarung aus höheren Sphären sehen, und diese meist auf konkrete Wesen zurückführen. Das stimmt wieder ganz mit der katholischen Autoritätsidee überein. Nur erscheint diese hier universalisiert, so dass sie der Priesterschaft nie zu einer Waffe im großen Stile hat werden können, und ferner, was wichtiger ist, nie einer bestimmten Konfession zum Sieg verholfen hat. Alle Erkenntnis ist Offenbarung; hieraus folgt, dass kein Mensch und kein Institut aus seiner besonderen Offenbarung Kapital schlagen kann. — Auf diese Auffassung geht zum beträchtlichen Teil die Unoriginalität der indischen Denker zurück: es fehlt ihnen jeder Ansporn, originell sein zu wollen, denn Ursprünglichkeit in unserem Verstände gibt es für ihre Begriffe nicht; in ihr wurzelt die ganze Ödigkeit ihrer Scholastik; auf ihr fußt die Hypertrophie des Autoritätenglaubens in Hindustan, — eine Hypertrophie, die wohl nirgends in der Welt eine Parallele findet: da alle Erkenntnis par définition geschenkt wird, so ist oberhalb der Autorität keine Instanz mehr denkbar. Aber auf dieser Auffassung fußt andrerseits ohne Frage die unerreichte Wesenhaftigkeit des indischen Wahrheitsbegriffs, der an sich den besten Schlüssel zur Erkenntnis bezeichnet. Originalität kommt wirklich nicht in Betracht in Erkenntnisfragen; es besteht keinerlei notwendige Beziehung zwischen ihr und Wahrheitserkenntnis. Die Wahrheit ist da, liegt jedermann vor, sowie die Sonne alle beleuchtet; wenn der Sehende vor dem Blinden einen Vorzug hat, so kann er doch nichts dafür, und die Sonne schiene auch ohne ihn. Das Genie für eine Erkenntnis, nach Westländerart, unmittelbar verantwortlich zu machen und es dementsprechend zu vergöttern, ist im Prinzip genau so lächerlich, wie in dem einen Übermenschen zu sehen, der durch Drücken auf den Knopf am Leitungsdraht eine elektrische Lampe anzündet. Erkennen heißt gewahrwerden, entdecken, ausnutzen gegebener Möglichkeiten, genial sein von der Natur ein besseres Instrument überkommen haben: wo bleibt da die absolute Originalität des Erkenners? — Es ist wirklich wahr, was die Inder in noch so mythischer Ausdrucksweise lehren, dass man Wahrheit nicht eigentlich entdecken kann. Und dass sie das erkannt haben, ist mit ein Hauptgrund dessen, dass sie es im metaphysischen Wissen so wunderbar weit gebracht. — Auf dieser Auffassung fußt ferner unmittelbar die unvergleichliche indische Spiritualität. Wo es als Axiom gilt, dass es kein selbständiges Erkennen gibt, dort können in dem, der sich nach Wissen sehnt, keine hochmütigen Regungen entstehen, keine Velleitäten des Besserwissens, keine eitlen Vorurteile; er gibt sich demütig hin. So dass die spirituellen Wahrheiten, die in den Heiligen Schriften verkörpert sind, in seiner Seele ein Minimum an Widerstand finden und leicht von ihm Besitz ergreifen können. Aus eben dem Grunde ist die katholische Christenheit, wo von echter Religiosität überhaupt die Rede sein kann, an Spiritualität der protestantischen so weit voraus. Dass sie darin gleichwohl hinter der indischen weit zurücksteht, erscheint verständlich genug, wenn man erwägt, dass die Heiligen Schriften der Inder von allen der Welt wohl die heiligsten, weil erkenntnistiefsten, sind und in einzig geringem Grade, dank der psychologischen Bildung des Indervolkes, durch Verballhornung, Missdeutung und falsche Behandlung in ihrer heiligenden Wirkung behindert werden.

Um spirituelles Realisieren allein war es von je den Rishis zu tun; sie sind weiter darin gelangt als alle anderen Menschen. Viele von ihnen haben wahrhaftig eine Bewusstseinslage erreicht, die man als übermenschlich bezeichnen darf — eine Lage, in welcher der Geist unbeirrt in der Sphäre des reinen Sinnes lebt, vom reinen Sinne her alles auffasst, alles versteht. Aber eben daher rührt es, dass sie sich so seltsam gleichgültig ausgedrückt und nie Ideen in die Welt gesetzt haben von auch nur annähernd so großer Lebenskraft, wie die eines Plato oder Hegel. Wer auf der Bewusstseinsstufe steht, welche die größten Inder erreicht haben, dem ist der Sinn der Dinge ebenso unmittelbar bewusst, wie dem Durchschnittsmenschen die physische Außenwelt; er bedarf keiner Originalität, um seiner gewahr zu werden. Eben deshalb aber kann er nicht mehr geistig schaffen. Alle Produktion stammt aus der Tiefe des Unbewussten; man gebiert nicht, was schon vor einem steht. Dieses kann man allenfalls kopieren. Kopisten und nicht mehr sind denn die Rishis als Schriftsteller und Denker gewesen; dies erklärt die Trivialität ihres Stils und den Mangel an Vitalität ihrer Ideen. Unsere großen Denker haben die Bewusstseinslage nie erreicht, von welcher aus man die Wahrheit wie eine Landschaft ausgebreitet vor sich sieht: so konnten sie dieselbe gebären. So sind ihre Erkenntnisse zu schöpferischen Ideen geworden und wirken fort, wie keine indische diese vermocht hat.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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