Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Benares: Wissen und Leben

Nur um Realisieren war es den indischen Weisen zu tun; so konnten sie in der Originalität keinen Wert sehen. Das, dessen Spiegelung im Bewusstsein man Wahrheit heißt, sei da; Erfinden komme nicht in Frage. Das Entdecken aber bedinge kein persönliches Verdienst, da der Mensch immer nur das entdecken könne, was die Natur oder höhere Mächte ihm offenbarten: nur wen er wählt, von dem wird er begriffen (Ruysbroek). Was nun die Verkörperung der Wahrheit betrifft, so lasse sich nur eine feststehende realisieren, in Wandlung begriffene taugten nicht; überdies verbrauchte Neueinstellung Energie, die besser anders verausgabt würde. Die Männer des Glaubens wie der Tat sind, was Vorstellungen als solche betrifft, mit physiologischer Notwendigkeit originalitätsfeindlich. Beide schaffen in einer anderen Dimension, als der geistige Schöpfer; jene setzen Ideen in innere, diese in äußere Wirklichkeit um, als solche bedeuten sie ihnen nichts; sie sind ihnen Vorwürfe, Grundrisse, Ausgangspunkte, von Wert nur insofern als sie verwirklicht werden. Solchen Naturen kommt alles Theoretisieren müßig vor. Nicht nur Napoleon, auch Bismarck hat die Ideologen von Herzen gehasst, und beide haben fest an eine Vorsehung geglaubt. Dieser Glaube war ihnen physiologisch notwendig: ohne sichere Deckung im Rücken hätten beide nicht unbefangen vorwärts schreiten können. Und wie die Männer der Tat, so die des Glaubens. Religiössein heißt realisieren, geistige Werte in Leben umsetzen wollen. Damit sich einer dieser Aufgabe ganz unbefangen widmen könne, müssen die Werte an sich außer Frage stehen. Also muss er an Dogmen glauben, an bestimmten Vorstellungen unverbrüchlich festhalten; ob er im übrigen tolerant oder fanatisch ist, hängt vom Grade seiner seelischen Bildung ab, der Weite seines geistigen Horizontes. Der orthodoxe Christ in seinem Wahn, das Dogma an sich verkörpere das Heil, will alle Andersgläubigen coûte que coûte bekehren, und sieht derweil auf sie herab. Ich bin keinem Hindu begegnet, der nicht felsenfest an irgendein Dogma glaubte, aber andrerseits keinem, der irgend jemanden bekehren wollte oder irgendeinen um seines Aberglaubens willen verachtete. Die Hindus sind gebildet genug, um zu wissen, dass nicht das Dogma als solches das Wichtige ist, sondern dessen Wirkung auf das Leben.

Aber die ablehnende Haltung des Inders der Originalität gegenüber hat noch einen tieferen Grund als den bisher betrachteten. Aus der Tiefe ihrer Bewusstseinslage heraus, die ihnen ein unmittelbares Schauen des Sinns ermöglichte, dachten die Rishis: wozu eine Erscheinung mehr in die Welt setzen, wo es deren schon so viele gibt? Was sind denn schöpferische Ideen mehr, als die Blümelein, die aus dem Rasen sprießen? Was verschlägt es, wie weit es die einzelne bringt? — So dachten sie nicht als Skeptiker, sondern als Allwissende. Oft ist bemerkt worden, dass Skeptizismus und tiefste metaphysische Erkenntnis an der Oberfläche zusammenfallen; das ist auch so. Skeptiker sowohl als Mystiker erkennen die Relativität der Gestaltung, also stimmen sie in deren Bewertung überein; nur wissen diese, was jene nicht ahnen, dass sich die Wirklichkeit im Relativen nicht erschöpft. Sie sind sich des Wesens bewusst, das sich vermittelst der Erscheinung ausdrückt. Das gilt im Kleinen von jedem Mann der Tat, jedem Schöpfer, jedem überhaupt, der irgend etwas ganz ernst nimmt, den denn die Menschheit, mit richtigem Instinkte, von jeher dem noch so klugen Zweifler vorangestellt hat. Aber es gilt von ihm eben nur im Kleinen; daher die Beschränktheiten aller Täter, ihre Einseitigkeiten, Unzulänglichkeiten, Vorurteile, denen gegenüber der skeptische Betrachter so leichtes Spiel hat. Im Großen gilt das gleiche vom Weisen: er nimmt alle Erscheinung nicht gleich unernst, sondern gleich ernst. So ist er, gleich Gott, über alle Engigkeit hinaus.

Aber kann solche Erkenntnis zu fruchtbarem Leben werden? Im Falle Gottes wird sie es. Er kennt die Relativität jeder Erscheinung, und lebt sich doch in jeder mit äußerster Einseitigkeit aus; Er kennt die Unzulänglichkeit jeder Sonderäußerung, und das schwächt Ihm doch niemals die Energie. Er schafft eben im Zusammenhang. Der Mensch kann als Versteher wohl göttliche Universalität erreichen, aber als Handelnder bleibt er streng beschränkt; als Lebender gelangt er nimmer hinaus über die Einseitigkeiten des Sonderdaseins. So lähmt ihm die allzutiefe Einsicht die Kraft. Sie brauchte es nicht zu tun, jedoch sie tut es meist; sie hat es im Fall der Inder getan. Gegen die Wahrheit ihrer Auffassung ist nichts zu sagen. Unzweifelhaft bedeuten die Ideen Alexanders dem Kosmos nicht mehr als Blümelein; beide sind Naturerscheinungen, jede in ihrer Art. Wer Ideen gebiert, tut im Prinzip nichts anderes als jede Kuh, wenn Erkenntnisse sich entwickeln und das Leben ergreifen, so ist das ein Naturvorgang unter anderen. Der Kampf der Künstler um Anerkennung, der Staaten um Macht, der Menschheit um Ideale ist eine Form unter anderen des allgemeinen Kampfes ums Dasein und der Fortschritt ein biologischer Prozess, der überall seine Parallelen findet. So ist kein Ehrgeiz wesentlich mehr als animalischer Wachstumsdrang, kein Idealismus mehr als ein Exponent unter anderen des allgemeinen Strebens alles Lebens nach Aufstieg und Steigerung, und ob dieses oder das geschieht, ob ein Meisterwerk, eine Erkenntnis, eine Heldentat mehr die Welt bereichert, bedeutet im Zusammenhang wenig genug. Desto weniger, als der Sinn überall Einer ist und durch Vermehrung oder Verbesserung seiner Ausdrucksformen von seinem Standpunkte aus nichts hinzugewinnt. Ja, die Ideen Alexanders bedeuten nicht mehr vor Gott als Blümelein. Aber hätte es Alexander gefrommt also zu denken? Ja, wenn er so groß gewesen wäre, dass er trotzdem als Alexander sein Schicksal erfüllt hätte; aber das hätte er dann schwerlich getan.

Die Inder haben gewusst, dass keine Erkenntnis das Handeln dem Dharma gemäß beeinträchtigen darf; dieses ist zumal die Grundidee der Bhagavad-Gîta. Dort lehrt Sri Krishna den Arjuna, dass er kämpfen soll, was immer er weiß und erkennt, denn zum Kämpfen sei er geboren. Die gleiche Grundidee durchdringt die ganze Lehre vom Nicht-Attachement: töte den Ehrgeiz in dir, aber handele so, als ob du vom äußersten Ehrgeize beseelt wärest; ersticke allen Egoismus, aber lebe dein Sonderleben so tatkräftig, wie nur irgendein Egoist; liebe gleichmäßig alle Kreatur, aber versäume darum nie, das Nächstliegende zunächst zu tun. Gewusst haben die Inder eben alles. Aber Wissen und Leben sind zweierlei und nirgends erweist sich das eindrucksvoller als bei ihnen. Wir wissen von keinem Inder, der als lebendiger Mensch diese Weisheit im Großen verwirklicht hätte; und es gibt wahrscheinlich weniger Hindus, die es im Kleinen tun, als unter Türken und unter Chinesen. Das ist der Fluch jenes Primates des Psychischen, das wie nichts anderes den indischen Bewusstseinszustand charakterisiert. Die Inder haben von je den Akzent des Daseins auf das psychische Erleben gelegt, also das Realisieren des Lebens in der Sphäre des Psychischen. Dank dem sind sie als Erkenner und als Schauer des Göttlichen wunderbar weit gelangt; aber eben dank dem sind sie nie auch ein Bruchteil dessen gewesen, als lebendige, handelnde Menschen, was ihre Theorie postuliert. Und das ist nur natürlich.

Wenn der Geist sich in der Vorstellungswelt zentriert, so entstehen Erkenntnisse als selbständige Wesenheiten, ohne Zusammenhang mit dem persönlichen Leben; dieses bleibt, trotz aller Erkenntnis, wo es war. Es bedarf einer anderen Einstellung, um einen großen Menschen zumachen. So illustrieren die Hindus mit vorbildlicher Deutlichkeit die Vorteile sowohl als die Nachteile eines rein auf Erkennen gerichteten Daseins. Es führt zur Erkenntnis, wie kein anderes; es führt ferner die geborenen Weisen und Heiligen zu einer Vollendung, wie sie unter anderen Voraussetzungen unerreichbar scheint; aber dem Leben der übrigen Menschen tut es nicht gut. Neuerdings weisen des Englischen mächtige Hindus, aufgestachelt durch ihnen missfällige Urteile Europas, immer wieder darauf hin, dass die indischen Lehren dem praktischen Leben wohl gerecht werden und mitnichten Quietismus predigen. Gewiss tun sie das nicht; sie sind als Lehren die wahrsten und tiefsten, die umfassendsten und erschöpfendsten, die es gibt. Aber sie haben auf das indische Leben nie eingewirkt. Dem Durchschnittsmenschen tut es nicht gut soviel zu wissen; hört Alexander einmal, dass er vor Gott nur ein Blümlein ist, so dankt er nur allzu bereitwillig als Alexander ab. Er entscheidet für sich, dass kein bestimmtes Dasein Zweck habe, tut bestenfalls das Nächstliegende, füllt schlecht und recht die Stellung aus, in die er hineingeboren ward. Er verleugnet allzufrüh allen Ehrgeiz. Wohl lehren die heiligen Schriften, zum höchsten Leben sei nur der Höchste reif; die übrigen hätten zu kämpfen, zu streiten, tätig zu leben, ehrgeizig zu sein, denn nur das bringe sie innerlich vorwärts. Aber welcher nicht Höchstgebildete bescheidet sich dabei, nicht zum Höchsten geboren zu sein? Wo einmal ein Zustand als höchster proklamiert ward, dort sucht ihn jeder auf seine Art darzustellen. Im Osten gilt Ehrgeiz allgemein als gemein: das ist ein Unglück. Wohl bezeichnet es das Höchste, wenn ein Gewaltiger ohne Ehrgeiz ist, aber der Kleine, der keinen Ehrgeiz hat, kommt nicht vorwärts. Den Hindus, gleich Christus, gilt Sanftmut als höchste Tugend: dies ist ein Unglück. Nur wer die Leidenschaft eines Peters des Großen besitzt, darf sich zum Ideal der Sanftmut bekennen; die Schwachen — und schwach sind die Hindus — macht es noch schwächer. Allverstehen gilt als Höchstes: von Unverständigen bekannt, hemmt dieses Ideal wie kein anderes die Entwickelung, denn es macht sie zu energielosen Skeptikern. So hat gerade die einzigartige Tiefe ihrer Erkenntnis den Indern als Volk zum Verderben gereicht. Sie hat sie schlaff und schwach gemacht. Das ist höchst bedeutsam. Es ist wieder ein Beispiel, das Indien der ganzen Menschheit gibt. Es zeigt, wie wenig gut es tut, wenn alle als Philosophen nach Vollendung streben. Dieser Weg ist nur den ganz wenigen gemäß, die diesem Wesenstypus angehören; alle anderen führt er ins Verderben. So bedeutet denn die indische Theorie, nach welcher der Rishi, der Yogi, ja der Sanyassi von allen Menschen der höchste sei, ein anderes als es den Anschein hat. Sie bedeutet nicht, dass diese Typen von allen tatsächlich die höchsten seien, nicht dass alle in deren Rahmen ihre äußerste Selbstverwirklichung finden würden: sie bedeutet, dass unter indischen Voraussetzungen nur geborene Philosophen und Heilige vollkommen werden können. Während die übrigen Menschen verkümmern.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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